Morgenausgabe
Nr. 135
A 68
48.Jahrgang
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Vorwärts
Berliner Boltsblatt
Sonnabend
21. März 1931
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ist gestern abend 10 Uhr 45 Minuten seinem schweren Leiden erlegen. Er ist aus der tiefen Bewußtlosigkeit, die ihn am Donnerstag schon er
griffen hatte, nicht mehr erwacht.
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fionslos, fachlich und doch mit der festen Zuversicht im Herzen, daß es einmal doch noch ganz anders werden wird.
Hermann Müller ist nicht mehr! Die Sozialdemokratische | Geschichte der Partei wie eben zuvor noch Einzelbestimmungen[ ment von Versailles zu unterschreiben: nüchtern, illuPartei hat ihren Führer, die Deutsche Republit einen aus verwickelten Staatsverträgen, aus Steuergesehen oder aus Staatsmann verloren. In seiner badischen Heimat, in neuen Anträgen der Parteien zur Sozialfürsorge. Da war die es ihn immer wieder zog, in Schlesien , wo er sein politisches nichts gemacht, nichts gefünftelt, gab es teine Pose und feine Werf begann, in seinem fränkischen Wahlkreis, auf den er stolz Phrase, alles war schlicht und echt, wohlbedacht, folgerichtig war, und vor allem in der Reichshauptstadt, der Stätte seines und ehrlich. Diese Ehrlichkeit, diese unerbittliche Ehrlichkeit großen Wirkens, trauern ungezählte Tausende um einen Menschen, den sie verehrten und liebten. Seine alten Kameraden, die in schwersten Zeiten Schulter an Schulter mit ihm kämpften, sie können es nicht fassen, daß Hermann Müller nicht mehr ist
Auf dem Parteitag in Essen 1907 spricht ein hoch aufgeschossener junger Mann zu einem Antrag des Parteivorstandes über die Organisation der Nachrichtenvermittlung für die Sozialdemokratische Partei . Es ist der neue Parteisekretär Hermann Müller , der im Jahre zuvor auf dem Mannheimer Parteitag- vier Monate nach seinem dreißigsten Geburtstag in den Parteivorstand gewählt worden war. Er ist der weitaus Jüngste in diesem Kreis: nur der um fünf Jahre ältere Ebert ist ihm im Alter einigermaßen nahe. Die andern Bebel, Singer, Gerisch, Auer, Pfannfuch und Molten buhr sind ihm alle um Jahrzehnte Molkenbuhr voraus. Er kommt aus Görlig, wo er sieben Jahre lang als Parteiredakteur, drei Jahre lang als Stadtverordneter gewirkt hat.
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Welchen besonderen Eigenschaften mag der junge Mann seinen raschen Aufstieg verdanken! Sein erstes öffentliches Auftreten als Borstandsmitglied zeigt ihn feineswegs als einen hinreißenden Redner. Er spricht mit einer geradezu aufreizenden Sachlichkeit über den Aufbau eines zentralen Büros für die Parteipresse.
Ein anderer an seiner Stelle hätte vielleicht lockende Zufunftsbilder entworfen, die Phantasie der Hörer auf tommende ungeahnte Möglichkeiten hingelenkt, hätte vielleicht da und dort ein buntes Wortbild, eine klingende Wendung einfließen laffen und mit einer pathetischen Schlußphrase geendet. Wer will es einem Dreißigjährigen übelnehmen, wenn er es liebt, am Ende seiner Rede brausenden Beifall zu hören?
Aber diesem Dreißiger scheint der Beifall recht gleichgültig zu sein. Er bewirbt sich nicht um das Wohlwollen seiner Hörer, er versucht auch nicht, ihnen die Mühe des Zuhörens zu er leichtern. Er setzt bei ihnen genau denselben Fanatismus der Sachlichkeit voraus, der ihn selbst beseelt. Sie aber bemerken, daß hier einer spricht, dem es ernst ist, der die Sache fennt, der sie gründlichst bearbeitet und durchdacht hat, auf dessen Urteil man sich unbedingt verlassen fann. Selbst verständlich wird der Antrag angenommen.
1916 ist Müller Reichstagsabgeordneter. 1919 Außen minister. 1920- tnapp 44jährig- Reichskanzler der Republik , dann wieder Partei- und Fraktionsvorsitzender und 1928 nochmals Reichskanzler und wieder Vorsitzender der Partei und der Reichstagsfraktion.
Wie hat er das geschafft? Dadurch, daß er genau der felbe geblieben, als der er sich 1907 dem Parteitag gezeigt hat. Er hat sich mittlerweile gar nicht geändert, er hat nur gearbeitet und, was in diesem Fall Arbeiten heißt, davon fann sich ein Durchschnittsmensch nicht leicht eine Vorstellung machen. Allerdings, die Arbeit wurde ihm leicht, fast spielend schien sein Hirn ungeheure Tatsachenmassen festzuhalten, und nach zwölf, vierzehn Stunden Studieren, Verhandeln und Berichten blieben nicht selten noch zwei oder mehr zur Geselligfeit unter Freunden übrig. Dann sprudelten aus diesem un erschöpflichen Gedächtnis ebenso mühelos Histörchen aus der
mar vielleicht die stärkste seiner Kräfte, denn sie schaffte ihm das unbedingte, felfenfeste, durch nichts zu erschütternde Ber trauen, mit dem die Partei zu ihm stand.
In ihrer Jugend hatte die Partei das Glück gehabt, Propheten mie Bebel an ihre Spike zu sehen, die mit der Flamme ihre Beredsamkeit das Dunkel ringsum erhellt hatten. Die Zeit nach dem Kriege aber brauchte nicht Propheten, sondern Staatsmänner, nüchterne Wirklichkeitsmenschen. vorsichtige Führer, die dem todwunden, geschlagenen Bolf von den Schlachtfeldern den Weg in ein neues Friedens land wiesen. Da waren Aufgaben zu lösen, die an die Fähigfeit zur Selbstentäußerung geradezu übermenschliche Anforderumgen stellten. Hermann Müller hat selbst die historische Szene geschildert, wie er die goldene Feder liegen ließ und seinen Füllfederhalter aus der Tasche zog, um das Dotu
Trauerfigung der Fraktion.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion tritt heute 12 Uhr vormittags zusammen, um das Andenken ihres dahingegangenen Führers zu ehren.
Für dieses Anderswerden hat er seine ganze ungeheure Kraft bis auf den letzten Rest hingegeben. Er hat den Kampf gegen die ,, Auslieferung der Kriegsverbrecher" gekämpft und damit in den Gewaltvertrag die erste Bresche geschlagen, er hat in seiner zweiten Kanzlerschaft die Herabsetzung der Reparationslaften und die vorzeitige Räumung des be= segten Gebiets erreicht.
In einem Lande mit echtem Nationalempfinden müßten alle Kreise und Parteien wetteifern, einem solchen Manne ein seiner würdiges Denkmal zu errichten. Hierzulande aber gibt es allzu viele, denen Klasseninteresse und Parteigeschäft nicht erlauben, die hingebungsvolle Arbeit und die sachlichen Erfolge eines Mannes anzuerkennen, der in ihren Augen ein Marrist" und schon darum in nationaler Beziehung verdächtig ist.
Ein Fanatiker der Sachlichkeit war Hermann Müller auch in der inneren Politit. Ueber das, was unter den ge= gebenen Umständen, in einer verwirrten Nachkriegszeit möglich war und wozu die Kraft der Partei reichte, gestattete er weder sich noch anderen irgendwelche Illusionen. So wurde er zum vorsichtigsten und gewissenhaftesten aller Parteiführer. Und mochte ihm auch manchmal der eine oder der andere grollen, weil er sich durch ihn in seinen Lieblingsvorstellungen gestört fühlte, so versagte doch keiner seinem ungeheuren Wissen, seinem durchdringenden Verstand und seiner unbedingten Lauterkeit die verdiente Hochachtung.
Alle die ihn fannten, wußten, daß ihn nicht persönlicher Ehrgeiz trieb, sondern ein gewaltiger sa chlicher Wille, dem er seine Persönlichkeit unterordnete bis zur Selbstaufgabe. Das Pathos, das man in seinen Reden vergeblich sucht, war über sein ganzes Leben gebreitet, denn es war ein Leben für die Arbeiterflasse, für die Demokratie und den Sozialismus. In der Geschichte der deutschen Republik und der deutschen Arbeiterbewegung steht die Gestalt Hermann Müllers neben jener Friedrich Eberts dauernd und fest; je mehr sie den Kämpfen der Gegenwart entrückt sein wird, desto mehr wird sie gewinnen. Die Sozialdemokratische Partei Deutsch lands aber fenft trauernd ihr Banner an der Bahre eines geliebten Führers, dessen Vorbild ihrer Jugend voranleuchten wird: schlicht und groß, furchtlos und treu!
Hermann Müllers Werdegang.
Hermann Müller wurde am 18. Mai 1876 in Mannheim als Sohn eine Fabrikdirektors geboren, der später nach Dresden verzog. Die hochbetagte Mutter lebt noch heute im Haushalt ihres Sohnes, der jetzt in der Blüte der Jahre dahingerafft wurde. In Mannheim und Dresden besuchte Hermann Müller das Gymnasium, um dann in Frankfurt ( Main ) in die kaufmännische Lehre zu treten. Als Handlungsgehilfe arbeitete er zunächst in Frankfurt , dann in Breslau . Schon damals war er eifriges Mitglied der Partei, der er sein ganzes ferneres Leben hindurch gedient hat. Als im Jahre 1899 die innerparteiliche Auseinandersetzungen um den Revisionismus" durch das neuerschienene fritische Buch Eduard Bernsteins über die Theorie des Sozialismus, neu belebt wurden, stand der damals dreiundzwanzigjährige Hermann Müller , als Korreferent in der Breslauer Parteiversammlung, um die alte Parteiauffassung gegen die neuere zu verteidigen.
Im Herbst des gleichen Jahres trat plötzlich die Notwendigkeit auf, die Stelle eines Lofalredakteurs an der damals als Kopfblatt