Nr. 162 48. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Das Zille- Fest der Alten
Die Insassen der warmen Stube des Bezirksamtes Kreuzberg , Urbanstraße 114, Erwerbslose, Sozial- und Kleinrentner, mußten in diesen Tagen, wie wir bereits berichteten, vom freundlichen Wärmespender Abschied nehmen; am 31. März schloß die städtische Wintersaison ihre Stätten molligen Behagens rund um den Kanonenofen, und jeder muß nun sehen, wo er auf gute und billige Weise Wärme empfängt. Aber schön wars doch" sagten sich all die alten Leutchen, die den langen Winter über bei einer schönen heißen Tasse Kaffee allabendlich ihre durchfrorenen Glieder wärmen konnten, und so schied man mit einem lustigen „ Zille- Fest" in froher Laune voneinander. Köstliche, waschechte Milljöhtypen drehten sich zu den Klängen einer nimmermüden Kapelle, die Erna und der freche Ede in Wirklichkeit Mutter und Tochter riskierten eine kesse Sohle nach der anderen und eine flotte Schwimmerin von 81 Lenzen war die Aller ausgelassenste. Bis in den späten Abend hinein gab es frohe Laune und im nächsten Jahr wird sich alles wieder, dankbar für ein wenig Wärme von außen und von innen, am Ofen der Stadt Berlin zusammenfinden.
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Bierjähriger durch Herzschuß getötet.
Fahrlässige Tötung oder unglücklicher Zufall?
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Mittwoch, 8. April 1931
In der Badestube erstickt.
Entfehlicher Tod eines 12 jährigen Schülers.
Auf furchtbare Weise ist gestern der 12jährige Helmut Lobeck aus der Kaiserallee 170 in Wilmersdorf ums Leben gekommen.
Der Schüler ist der einzige Sohn des Goldmarenhändlers Lobeck, der in der Motstr. 53 sein Geschäft hat. Als Helmut L. gestern gegen 16 Uhr allein in der in der zweiten Etage belegenen Wohnung war, nahm er ein Wannenbad. Er setzte den Gasbade ofen in Funktion, und noch während das Wasser einfief, ging er in die Wanne. Unglücklicherweise hat die Gasbadeeinrichtung keine Abzugsvorrichtung, so daß die Abgase den unglüdüchen Jungen. zunächst betäubten und, da keine rechtzeitige Hilfe herbeikam, schließlich seinen Tod herbeiführten. Das Unglück war zuerst in der Wohnung in der ersten Eiage bemerkt worden, als durch die Decke plöglich erhebliche Wassermengen nach unten drangen. Zunächst wurde an einen Wasserrohrbruch geglaubt. Als man jedoch in die Badestube der Lobeckschen Wohnung eindrang, fand man den Sohn des Wohnungsinhabers in der Wanne tot auf. Der Junge hing mit dem Oberkörper halb über die Wanne; offenbar hatte er noch versucht, den gefährlichen Raum zu verlassen, wozu er aber schon zu schwach war. Die Gasbadeeinrichtung, die in ihrer vorgefundenen Beschaffenheit lange nicht den Vorschriften entspricht, ist durch die Polizei beschlagnahmt worden.
Buchhalter Klar festgenommen.
Tschechische Grenzwächter erkennen den Defraudanten.
Der bei der Deutschen Allgemeinen VersicherungsA.-G., Taubenstraße 4-6, beschäftigt gewesene Oberbuchhalter Frizz klar, der nach Begehung von Unterschlagungen feit dem 28. Mär; 1931 flüchtig iff. ist am 5. April in mährisch- Ostrau durch tschechische Gendarmeriebeamte festgenommen worden.
Drei Frauen vom Starkstrom getötet. wohnte. Er hatte auf seinem Vertrauensposten bei der Allgemeinen
Kowno, 7. April.
Am 26. März dieses Jahres flüchtete, wie wir mitteilten, nach Unterschlagungen von etwa 120 000 Mart der Hauptbuchhalter Frizz Klar, der in der Trabener Straße im Grunewald Deutschen Versicherungs- A.- G. in der Taubenstraße sich an dem fremden Gelde vergriffen. Als die Entdeckung seiner Veruntreu ungen durch eine Kassen revision bevorstand, verkaufte er sein Auto und flüchtete. Er hatte das Gericht in ilmlauf gelegt, daß er über Genua oder Marseille nach Süd amerita entkommen wolle. Trotzdem war seine Personalbeschreibung auch den östlichen Staaten übermittelt worden. Am 2. April fuhr ein Auto, das das ostpreußische Kennzeichen trug, durch eine tschechische Grenzstation in der Richtung nach Mährisch Ostrau . Erst nachdem der Wagen schon vorüber war, entfannen fich die Beamten, daß der eine der beiden Insassen Aehnlichkeit mit dem gesuchten Slar gehabt hatte. Ete gaben die Meldung nach Mährisch- Ostrau weiter und dert wurde Klar am Ostersonntag in deinem hotel aufgespürt und festgenommen. Wer der Begleiter rar, der den Wagen mit der ostpreußischen Nummer gefahren hat, weiß man noch nicht.
Ein noch unaufgeklärter Borfall, der mit dem Tode eines Durch Berühren eines Drahtes, der von unbekannter Hand vierjährigen Kindes endete, spielte sich gestern in der über die Hochspannungsleitung geworfen worden war, wurden in Wohnung des Bauarbeiters Hildebrand in der Dragoner - Kowno drei Frauen getötet. Der Draht wurde zuerst von einen straße 8 ab. jungen Mädchen berührt, das einen Tag vor feiner Trauung stand. Es war auf der Stelle tot. Bei dem Versuch, das Mädchen zu retten, famen zwei zufällig vorübergehende Frauen, als sie die Leiche berührten, gleichfalls ums Leben. Da sich in letzter Zeit solche Borfälle wiederholt zugetragen haben, ist von den Behörden eine Untersuchung eingeleitet worden.
Gegen 14 Uhr erschien Hildebrand bei einem Arzt und erklärte, fein vierjähriger Sohn Hans habe sich beim Spielen mit einer geladenen Bistole offenbar eine lebensgefährliche Verlegung beigebracht. Als der Arzt in der Wohnung erschien, fand er das Kind bereits tot auf. Eine Kugel war in die linke Brustseite eingedrungen und hatte das Herz durchbohrt. Der Kleine muß auf der Stelle tot gemesen sein. Der Arzt machte dem zuständigen Polizeirevier vor dem Vorgefallenen. Mitteilung, und Hildebrand murde van der Kriminalpolizei verhaftet. Auf dem Polizeipräsidium erflärte, er, daß er sich, als seine Frau in der Nachbarschaft Besorgungen machte, mit seinem achtjährigen Töchterchen und seinem vierjährigen Sohn Hans im Wohnzimmer aufgehalten habe. Der Kleine habe sich unbemerkt am Spiegelschrank zu schaffen gemacht und die in einem Seitenfach liegende geladene Pistole an sich genommen. Der Schrank sei sonst immer verschlossen gewesen, nur gestern habe er unglüd licherweise offen gestanden. Das Kind sei dann offenbar dem Abzug der nicht gesicherten Pistole zunahe gekommen, wobei sich der ver hängnisvolle Schuß löfte. Ob sich der traurige Vorfall tatsächlich in der geschilderten Weise zugetragen hat, können erst die weiteren polizeilichen Nachforschungen ergeben.
Gerhart
Mostar Schicksal
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Rote Stäbchen hin, rote Stäbchen her. Geht es hier um Schmitzers rote Stäbchen? Es geht um den Spargel vom Stubbenland. Ein Loch im Sande- holup! Hände in die Speichen! Tief Atem geholt und weiter!
Wenns nur so ginge mit dem tiefen Atemholen. Aber es paßt nicht mehr genug Atem hinein in die Lunge; es sind zuviel Gewebeförperchen losgelöst, ausgespien. Es ist nicht viel, was man jo täglich spuckt; zwanzig, dreißig Kubikzentimeter vielleicht; aber es summiert sich im Laufe der Jahre. Wenn man viel liegt, sehr langsam geht, nichts schleppt, hebt, zieht, dann treibt der ruhige Atem wenig Blut durch die Lunge, dann find die Gewebe fester, dann haben die roten Stäbchen schwerere Arbeit. Aber wenn lleberanstrengung die Lunge weitet-
Zwanzig Minuten. Zurückgelegt etwa ein halber Kilometer. Also für den Rest auch bloß noch zwanzig Minuten. Und Maschke ist vollständig ausgepumpt; jezt fommt's auf die hinten an. Speichengriff Speichengriff
rum
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rum
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Es ist dämmrig geworden. Aber dreihundert Meter vor aus schimmert das Bahngleis; es schimmert stumpf, naß, denn die Luft ist feucht. Feuchte Luft lastet schwerer in der Lunge. Was ist stärker: Wagen, Sand, Zeit oder Herrn Schmizers Lunge ? Holup über den Hügel- fräftig forum das Biest! Genießt Herr Schmizer nicht etwa feit Wochen das größte Glüd im Stubbenland: Lene Papendied dienen zu dürfen? Will das nicht etwa schwer verdient sein? HolupHundert Meter. Es pfeift fern und hell: der Zug! In drei Minuten spätestens ist er heran.
Maschte legt sich mit letter Kraft nach vorn. Die andern stemmen sich mit dem ganzen Körper gegen die Speichen, auch bie Frauen. Der Wagen kommt schneller vormärts. Ein Rud noch- jetzt noch zwanzig Meter Chauffee. Blatte Chauffee! Und die Lichter des Zuges in Sicht. Schieben!" schreit Maschte. Sie schieben. Maschke zieht. Der Wagen kommt ins Rollen. Sie müssen sogar Trab laufen. Schmizers Mund ist voll fader, warmer Feuchte.
Auf Grund der neuen Notverordnung verurteilt.
Bom Schnellgericht wurde am Dienstag auf Grimmd des Batas graphen 2 Ziffer 1 der neuen Notverordnung des. Reichspräsidenten. vom 28. März der 35jährige Arbeiter Hermann Maujocs zu drei Dankfpende eines Desterreichers an den Reichskanzler. Ein in Monaten Gefängnis verurteilt. Maujods hatte am Gründonners Berlin ansässiger Desterreicher, dessen Name mcht genannt werden tag als Leiter an einem Erwerbslosendemonstrationszuge in der soll, hat in Anerkennung der in dem abgelaufenen ersten RegieFrankfurter Allee teilgenommen und Rufe ,, Nieder mit der Regierungsjahre vom Reichskabinett Brüning geleisteten wertvollen rung!" ausgestoßen. Auch der 24 jährige Erwerbslose Heinz politischen Arbeit" dem Reichskanzler die Summe Schmidt wurde vom Schnellrichter zu drei Wochen Gefängnis 25 000 mart für Zwecke, deren Förderung dem Reichskanzler beverurteilt, weil er in der Nacht vom Karfreitag zum Ostersonn Reichskanzler hat von dieser Summe 5000 m. an die Berliner sonders am Herzen liege, zur Verfügung gestellt. Der abend mit anderen Erwerbslosen an Geschäftslokalen Zettel ange: Winterhilfe, 10.000 m. an die Deutsche Nothilfe und 5000 m. an die flebt hatte. Schmidt hatte einen Schlagring und eine Schreckschuß- Hindenburg- Spende überwiesen. Die restlichen 5000 m. wurden für pistole bei sich getragen. Einzelunterſtügungen in Fällen dringender Not bestimmt,
Die Bremsen freischen am Zuge. Mit ihm zugleich rollt der Wagen vom Stubbenland in flottem Tempo auf den Kies der Haltestelle. Mit ihm zugleich hält er. Genau vor dem Wagen mit der ungeschickten Kreideaufschrift eines Kleinbahnbeamten: Für Spargel von Schloßheide nach Hamburg .
Sie reißen das Schußbrett vom Wagen. Sie werfen die Körbe durch die Kette der Hände in den Zug. Nur Schmizers Hände fehlen. Schmizer lehnt am Geländer. Es geht nicht mehr. Die Luft tommt immer nur bis zur Hälfte der Luftröhre. Da hält sie irgend etwas auf, das langsam, langsam steigt.
Die Körbe fliegen. Der Zugführer hat schon die Schlußlichter angezündet, mahnt zur Eile. Das in Schmizers Luftröhre ist schon in der Gurgel.
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Pfiff des Zugführers. Pfiff der Lokomotive. Letzter Korb. Ruck des Anziehens. Langfames Fortgleiten. Langsames Fortgleiten- Fortgleiten warum fährt der Zug um Schmizer herum im Kreis? Warum fährt der Weg neben ihm her mit den Menschen darauf? Blog Lene kommt heran, faßt die Hände... da sind Sie, Lene, geschafft, hurra, nicht mich so rumdrehen, Lene, so wild das drin quillt in die Kehle in den Mund- ach so, Blutsturz. Sich fallen lassen. Nur noch bluten.
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Die roten Schlußlichter verlöschen. Der Spargel fährt. Minutenlang fließt das Blut. Sie fangen es mit Tüchern ab, sie sind ratios, sie wissen nichts anderes zu tun. Andreas ist im Dorf und telephoniert einen Arzt heran. Endlich hört das Strömen auf. Nur ein Sidern bleibt, aus dem nach unten gezogenen rechten Mundwinkel über die falfweiße Haut, ein fnallrotes Sickern immerzu.
Die Zeit läuft hin, erbarmungslos, quälend. Die Sefunden hasten wie mit Spinnbeinen über ihre Haut, fie fühlen das fast förperlich, wie sie ihn so hilflos umstehen. Nach fast einer Stunde erst ist der Arzt da.
Können Sie mich sehen, Herr Schmizer? Berstehen Sie mich? Können Sie mir ein paar Fragen beantworten? Na, das ist ja schön. Wie lange sind Sie schon lungenfrant? Behn Jahre? Wie lange dauerte das Bluten, meine Herrschaften? Fünf Minuten etwa, danke schön. Fühlen Sie sich transportfähig?
Der Patient muß ins Krankenhaus, meine Herrschaften Ich werde ihn in meinem Auto hinbringen. Jemand von Ihnen muß Herrn Schmißer begleiten. Wie ist Ihr Name bitte, Fräulein? Fräulein Papendied, danke schön. Also in Diese Ecke setzen, Kopf hoch halfen, buchstäblich, Herr Schmizer. Bitte den Obertörper des Patienten umfassen und stügen,
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von
Fräulein Papendied. So ists recht. Ich chauffiere selbst. Tag." Das Auto zieht langsam, sehr ruhig an. Die Stubbenlander sehen ihm eine Weile stumm nach; dann wenden sie sich und gehen; ihr leerer Wagen bleibt auf dem Bahnsteig Ihre Herzen schlagen verständnislos, unrhythmisch, wie Kopfschütteln. Vom Dorfe her flingt es achtmal, gleichmäßig, festlegend: Das alles ist geschehen.
Geschehen in einer Stunde. Zwischen sieben und acht Seit einer Stunde fährt der Spargel vom Stubbenland. Die Decken mancher Körbe haben sich etwas gehoben durch das eilige Werfen. Die Pfeifen schimmern bleich in das Dunkel des Waggons, dessen Tür offen ist. Wind hat sich aufgemacht, manchmal weht Sand hinein. Sand wie der im Stubbenland, Heimatsand; noch blickt auch heimatliche Landschaft durch die Tür: Kiefern, Seen, im Abendlicht nur zwei Samte, schwarz und grau.
Die fleinen Haltestellen, an denen der Zug bisher stand, lagen im Dunkel. Jezt flammen Signallichter auf, die Strece wird mehrgleifig, vielgleisig. Der Güterzug hält bedachtsam auf der Endstation der Kleinbahn. Während die Achsen noch seufzen, wird eine Laterne hin- und hergeschwenkt: eine Staatsbahnlokomotive stößt grob auf die Wagen auf; nimmt dann die Hälfte davon mit sich; im letzten ist der Spargel vom Stubbenland. Seine Kleinbahnfahrt ist beendet. Seine große Fahrt nach Hamburg beginnt.
Der Arzt chauffiert vorsichtig. Der Motor arbeitet leicht, die Kolben gleiten weich in den Zylindern, der Wagen wird nicht mehr von seiner Maschine erschüttert als etwa ein Dampfer. Es ist, als schwimme man durch Dunkel, und die Bäume, die rechts und links undeutlich sichtbar merden, das find Maste fremder Schiffe, fie steigen auf, ziehen lautlos vorbei, eine Welle aus Nacht nimmt sie hin.
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Siegfried Schmiẞers Gesicht hat die Bleichheit des Todes oder des Spargels... Lenes Backen sind nicht viel farbiger. Ihre eine Hand hält ihm ein Taschentuch vor den Mund, das ist erdig, lieber Himmel, wer hätte heute morgen, mer hätte vor zwei Stunden gedacht... Ihre andere Hand streichelt seine beiden Hände, die im Schoß liegen; das tut ihm wohl. Er versucht im Zeitmaß dieses Streichelns zu atmen, und es gelingt ihm; es ist ein gutes Zeitmaß. Einmal hat sie ihre Hand weggenommen, um ihn zu stüßen, wie der Arzt anordnete; da hat er sie wieder hingelegt; sie hat begriffen und weitergestreichelt. Er schweigt, er atmet nur; feinen Körper fühlt er sehr schlaff, und es fann die Schlaffheit des Todes fein; aber es ist wohl die Schloffheit des Siegers, den sein Sieg boas legte toftete an Rraft.( Fortfegung folgt.)