Tlr. 176* 48. Jahrgang
± Beilage des Vorwärts
Donnerstag, 16. April 1931
Am Rande der Großstadt
UiiordentLich mir. auf dem Felde der Material sthl acht sieht es am Rande der Großstadt aus. Die Stadt rückt mit Retonmasdiiticn, Asphait- kodiern und Kreissägen an. um zum aber tausendsten Male einige hundert Quadratmeter Boden zu erobern und ihrem Riesenorganism u s ein zu verleiben. Gegenüber steht der Gruneroald und schaut resigniert auf das geschäftige Treiben unten auf dem Sande, das ihm Baum für Baum, entreißt. Das unaufhörlidie Wachstum der Großstadl roedi- selt fortlaufend die Szenerie: roo gestern die Kinder auf einer grünen Wiese Fußball spielten, stejeen heute dunkel- graue Oelsdialteranlagen wie überzüdilebe Riesen, aus der geheimnisvollen Welt der Tcdi- nik. Draußen an den Rand der Großstadt gestellt, weil sidi der Mensch vor ihnen fürchtet, obgleich er ihr Herr ist. Alles ist im. Fluß. Fabriken ändern ihr Gesicht wie Frauen ihre Kleider; wo gestern noch. Stiefelwichse gemixt wurde, entstehen heute Latwerge und Medizinen, groß ist das weite Gebiet der Chemie. Dazwischen exerzieren die Marodeure des Bürgerkriegs: unter halsbrecherischen. Fisematentenr beschmieren sie Zäune und Wände, einander den Tod wünsdiend oder die eigene Sekte hoch leben lassend. Aber deutsch schreiben können sie alle mitemander nicht. Dann wechselt das bunte Bild wieder: wo eben noch farbige BSenenkörbe. an einem Bahndamm standen, ist nebenan ein Dresgurplatz für Schäferhunde, unten braust der Schnellzug nach» Köln vorbei, eilig hat es der Zug, um von der Spree an den Rhein zu kommen. Dagegen müssen die Autos a m Tor der Avus stoppen und ihren Obolus entrichten, che sie auf den spiegelblanken Asphalt dürfen. Dann würde etwas fehlen, wenn auf diesem Kriegsschauplatz zwischen Stadt und T�and nicht eine Terraingesellschafi Parzellen feilhalten würde,
Hinter der Bauausstellung: eine frühere, jetzt zugeschüttete Reicbsbahnstrecke.
Die„Sommerwohnung" der Höhlenbewohner: ein Zelt aus einem alten Plan.
und zu dem Reklameschild gesellt sich ein zweites, daß rechter Hand der Eingang zur Tribüne C ist, aber das Amphitheater- rund des Sportplatzes ist leer und verlassen, die Kassen 1—£ haben ihre Schalter geschlossen; heute ruhen die Rekorde und sind selbst im' Schlaf noch voller Argwohn, daß sie nicht gebrochen werden. Zwischendurch da eine Klein gartenkolonie und dort eine Laubensiedlung. Audi der weiterlaunische April hat seine Reize; so schlecht der Tag, so schön der Abend in seltener, färben geääiiigter Klarheit. Die Hühner erscheinen noch eine Nuance weißer, und die Lauben waren nie so gelb, so grün und so blau wie in diesen Apriltageiu Als Strandgut der Großstadt steht auf dem. Schlachtfeld der Arbeit die selbstgeboute H ö h l enw ohnun g, wie sie unser Bild zeigt Eben herausgekommen und schmaucht sein Pfeifchen. Unseren Lesern ist er ja kein Unbekannter.
Milderung der Vergnügungssteuer. Beschlüsse des Steuerausschusses. Va Slleueraasschuh der Stadiverorduetenversammlung hat ia seiner Sitzung am Millwoch die Beratungen über eine Abänderung der Vergnügungssleuerordoung beendet und bis ans geringe Abweichungen den Vorschlägen des Unterausschusses seine Zu- stimmnng gegeben. Der Ausschutz empfiehlt der Stadtverordneten- Versammlung die Annahme seiner Abänderungsvorschläge. Die wichtigsten Abänderungen, die nach den Beschlüssen des Ausschusse» an der Vergyügungssteuerordnung der Stadt Berlin vom 12. Oktober 1927 vorgenommen werden sollen, sind folgende: ' Die Strafbestimmungen(§ 15) erhalten folgende Fassung: Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen dieser Steuer- ordnung(Z 356 Reichsabgabenordnung) werden ebenso bestraft wie
die Zuwiderhandlungen gegen Reichssteuergesetze. Die Bergnügungs- steuer für die Theater soll dadurch herabgesetzt werden, datz der § 33 wie folgt geändert wird:„Künstlerisch hochstehende Beranstal- staltungen, deren Geschäfts- und Kassenführung den Anforderungen entspricht, die an kaufmännisch geleitete Unternehmen üblicherweise gestellt werden, werden zu einer Steuer von 3 Proz.(bisher 5 Proz.) der Bruttoeinnahmen herangezogen. Im§ 31. der über die Borführung von Bildstreifen handelt, sollen für die Lichtspieltheater folgende Ermäßigungen ein- treten:„Für Eintrittspreise von nicht mehr als 1 Mark tritt eine Ermähigun der Steuersätze ein von 15 aus 12 Proz. bzw. von 12Z� auf Ii) Proz. bzw. von 9 auf 7 Proz. Werden im Beiprogramm Artisten beschäftigt, und nehmen deren Borführungen nicht niehr als ein Fünftel des Gesamtprogramms in Anspruch, dann tritt eine weitere Ermäßigung von V: Proz. ein. Weitere Ermäßigungen beziehen sich auf Konzertveranstoltungen und Vergnügungsparks.
Die Allneu-paffage. Wo einst vie Wachsfiguren standen. Ein beschdÄNKS Stück Berliner Lotalgeschichtc hat mit bom Um» hau der Pas sageFriedrich st ratze— Unter den Linden seine Wantlung vollendet. Der seltsain« und in den letzten Jahren arg verfinsterte Durchgang ist in einer neuen Form wieder» erstanden. Braun getönter Marmor faßt die Ladeirsronten«inheit» ltch zusammen und ein Helles, gewölbtes Glasdach verblichet die Fronten in der Höhe des ersten Stockwerkes. Wo einst die Wachsfiguren jahrzehntelang ein beschauliches Dasein führten, sind jetzt Büroräume lmtergebrachr, und das Kabinett der lebenden Sehens» Würdigkeiten ist lang« in all« Winde zerstoben. Am 22. März 1871 wurde die Passage eingeweiht Mich dem öffentlichen Verkehr übergeben. Das Panoptikum der Gebrüder Castan schlug'in der Passage sein Domizil auf und bot in Ber » bindung mit dem Passage-Dheater, dein Passage-Variete, dem Anato- mischen Museum u. a. den Berlinern damals sehr geschätzte Genüsse. Auch das damals im Rundbogen der Passage gelegene altbcrühinte Cafe Keck, in dem sich alle Größen der Kunst und Wissenschaft zum Stelldichein trafen, darf nicht unerwähnt bleiben. Die Umwälzung. die durch den Krieg hervorgerufen wurde, hat auch die Passage betroffen und so entwickelte sich allmählich der ganze Gebäudekennplex zu einem Geschäftshaus. Das Panoptikum wurde geschlossen und die Räume nach elncin gründlichen Umbau von einer Bank in Be Nutzung genommen. Immer mehr patzten sikh die Geschäfte den heutigen Verhältnissen an, und so kam es, daß schließlich die Passage gründlich umgebaut werden mußte. Die Schaukästen mit chreir Herrlichkeiten wurden entfernt und dafür die Schaufenster bis zur Vordcrsläche der Pfeiler vorgeschoben. Die Wände wurden mit Mar» mar verkleidet und der Fußboden mit roten Marmor-platten und einem schwarzen Basaltlavafries belegt. Aber die Läden mit dem unterhaltsamen Krimskrams aller Art sind geblieben, und man findet auch noch den Laden des alten„Hof- malcrs" mit den Riesenbildern verschollener Größen im Goldrahmen und dem ganzen süßen Malkitsch, der standhaft die Jahrzehnte über- dauert. Zusammengebrochene Hehe. „Tiote Fahne" und„Deutsche Tageszeitung" vor Gericht. Wie wir seinerzeit berichteten, hatten sich am 10. Januar d. I. die„Deutsche Tageszeitung" wie die„Rote F a h n c" vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte wegen Beleidigung des Stadl» schulrates Genossen Rydahl zu verantworten. Die„Deutsche Tages- zeirung" hatte in ihrer Morgenausgabe vom 39. April 1939 eine Kleine Anfrage der deutschnotionalen Stodroerordnetenfrattion an- gedruckt, die sich mit den üblen Provisionsgeschäsien des Stadtich-rl» inspektors Borchardt beschäftigte und in durchsichtiger Weise de!) Gc- nossen Rydahl damit in Verbindung gebracht. Und wo damals' alles seine Schmutzkübel ausgoß, konnte natürlich die„Rote Fahna" nicht fehlen. Dieses Blatt brachte am 1. Mai vprigen Jahres einen Artikel unter der Ueberschrift„Stadtschulrat Rydahl und seine Gräfin", worin die Berleumdungen der Rechtspresse nachgebetet und breitgewalzt wurden. Wegen dieser beleidigenden Anwürfe hotre die Staatsanwaltschaft gegen die beiden Zeitungen Anklage er- hoben. Damals, am 19. Januar, hatten nun � die„Deutsche Tages» zeitung" und die„Rote Fahne" versprochen, für ihre Behauptungen den Wahrheitsbeweis anzutreten. Aber der gestrige Berhandlungstag erwies, daß an den Ber» leumdungen und Verdächtigungen kein wahres Wort ist. So bekundete der Pianopfortefabritant Voigt, daß er Rydahl wohl eine Proviston für zehn an Bertiner Schulen zu liefernde Klaviere'an- geboten habe: Boigt fragte, wie er sich für den Auftrag erkennt» lich zeigen könne, aber Rydahl habe strikte ein der» artiges Ansinnen abgelehnt. Außerdem wurde zu der Klavierangelegenheit festgestellt, daß die Instrumente angefordert und ausgesucht wurden nicht von Rydahl, sondern von den-in- zelnen Schulen. Im übrigen bekundete der vereidigte Sachoer-
Roman an» dem Ungarischen rem Alexander ron Saeher-Matoch, Erstes Kapitel. das uns zeigt, welch großer Schaden der Ruhm verursacht, der einem zu Kopse steigt, besonders, wenn er dort mit Alkohol zusammentrifft. Alt einem Samstagabend gegen Ende November er- strahlte ait dem Türflügel des Dorfwirtshauses ein regelrechtes, aber handgeschriebenes Plakat. Drei Namen spielten daraus eine Rolle, und zwar: Mister Fred, der berühmte englische Akrobat. Miß Palma , ungarische Solotänze und entzückende Liedervorträge. Mister Tom, Zauberkünstler. Es war neun Uhr. In der Trinkstube des Wirtshauses batte Miß Palma auf einem Bretterpodium ihr gefühlvolles Liedchen vom kleinen Kadetten und ihren Solotanz soeben be- endet. Auf ihrem vollen, blatternarbigen Gesicht drang der herabrinnende Schweiß durch die dicke Puderschicht, aber die entstandenen Risse wurden glücklicherweise gleich wieder vom Staub bedeckt, der von den Brettern durch den Tanz empor- wirbelte. Inzwischen nähte Mister Tom im schnellgezimmerten Bretterverschlag, genannt„Garderobe", mit Ersolg«inen braunen Flicken auf den Ellbogen seines Lilafracks über eine schon blau geflickte Stelle. Er war ein verschrumpstes. altes Männchen mit einer Fratze, die selbst bei einer Aifenschönhcits- konkurrenz keinen Preis davongetragen hätte. Mister Fred, der erst nach Tom an die Reihe kam, saß in der kleineren Trinkstube und pokulierte mit drei älteren Kleinbauern. Er war schon in Künstleraufmachung, in � rosa Trikothosen, die an den Hüsten und Knien mit Purpureinsätzen verziert waren. Das Kleidungsstück, das seinen Oberkörper
bedeckte und die muskulösen Arme frei ließ, verriet jedoch aus solcher Nähe taktlos die Geheimnisse seiner Garderobe. Dieses Kleidungsstück.mar nämlich eine mit dem gestreiften Futter auswärts getragene, nach innen geknöpfte Weste. Mister Fred war kohl bis zum Genick mit Ausnahme eines schmalen Haarbandes, das wie eine Brücke die an den Schläfen ergrauten pomodeglänzenden Haarbüschel verband. Sein von Entbehrungen und Hunger eingefallenes Gesicht war grau und farblos. Mister Fred machte bei flüchtiger Betrachtung dennoch einen stattlich-männlichen Eindruck. Hauptsächlich bewirkte dies der rötliche Kaiser-Wilhelm-Bart, der im Gegensatz zu seiner Erscheinung mit aller Sorgfalt gepflegt war. Dies war auch der Grund, daß die Wahl der drei älteren beleibten Gevatter auf ihn fiel und sie ihn seiner Gesellschaft entzogen und schon mit dem vierten Kännchen Äprikosen- schnaps beehrten. Arme Komödianten! Sie kamen zu ungünstiger Zeit, ins Dorf. Zwar war es Samstagabend. Aber das Darf hatte viele Joch Moorland und das hier machsende Vchiff war unentgeltliche Feuerung für arm und reich. Ilm Mißbräuche und Verschleppungen.zu vermeiden, Halle die Behörde nur einen einzigen Tag im Jahre zum Schneiden und Einbringen des Schllfes bestimmt. Dieser Zeitpunkt fiel regelmäßig mit jenem Tage zusammen, an welchem das Moor zum ersten Mole hart zufror. In diesem Jahre war zum Borteile der Gemeinde dieser Fall schon jetzt im November eingetreten. Aber nicht zum Vortell der Komödianten. Alles, was Hände und Beine halle, war mit Karren und Fuhrwerken draußen im Moor. Die Hälfte des spärlichen Publikums waren Zaungäste. Natürlich auch die gesamte Verwandtschaft des Wirtes und alle jene, von denen die Künstler Leintücher, Bretter und allerlei Hilfsdekorationen geliehen hatten. Die drei alten Bauern waren angesehene Persönlichkeiten im Dorf, der eine war der Krösus des Ortes, die zwei anderen Geschworene. Für sie besorgten Dienstleute und erwachsene Kinder das Einbringen des Schilfes. Aber auch sie saßen nicht der Komödie halber im Wirtshaus. Sie statteten ihre Kunslleilnahme an Mister Fred nicht durch Lösen von Ein- trlltskarten, sondern durch Zuwendungen von Aprikosen- schnaps ab. Die fehlerhafte Aussprache des Komödianten. der die ungarische Sprache furchtbar radebrecht«, amüsiert« sie. Sie bestaunten seine Fremdheit und sein Elend.
Mister Fred versuchte über ibre nicht eben schonungsvollert Späße zu lächeln, inzwischen irrten aber seine wässerigen blauen Augen mit solcher Stumpfheit und solchem Groin um- her. daß er an die niedergekämpften Märtyrer der heiligen Kunst früherer Tage erinnerte. Einer der Gevatter ließ eben vom Wirt die Schnapsgläser; aufs neue füllen und wies großmütig besonders aus Mister Freds Glas. Dieser tat jedoch keinen Bescheid. Er hatte genug. Der starke Schnaps widerstand seinem verhungerten Magen, und er schluckte und rülpste schon genügend von den genossenen Quantitäten. Ueberdies blickte Mister Tom, der Mann mit der Afsensratze, gerade zur Tür hinein, was das Ende seiner Nummer anzeigte, und das Publikum gab seiner Ungeduld durch Füßescharren und Husten Slusdruck. Auch die Bauern begriffen, daß Mister Fred die Pflicht rief. Sie winkten an Freds Stelle Mister Tom herbei, diesem jetzt ihre Gastfreundschaft zuwendend. Mffter Tom zog sich jedoch zurück. Die Bauern glaubten, er verstünde sie nicht. O nein! Mister Tom verstand diese Einladung nur zu gut— aber er trug das Andenken an eine ähnliche Unterhaltung noch zu frisch aus der Nase, ein Andenken, das durch den Aufprall eines vom gegenüberliegenden Tische geschleuderten Bier- kruges entstanden war. So drückten die Gevatter Mister Fred, der sich schon er- hoben halle, wieder auf seinen Stuhl zurück und gössen ihm noch die eben bestellte Lage in die Kehle. Armer Mister Fred! Er machte nach dem Hinabwürgen des Schnapses ein Gesicht wie ein Verurteilter. Es schien, daß er sich nicht mehr ganz sicher vom Stuhl erhob, als er nach hinten ging, um hier durch den sogenannten Vorhang auf die Bretter zu schlüpfen. Er richtete sich auf und warf mit bittersüßer Miene Kußhände in das verehrte Publikum. Jetzt begann eine der Frauen. die in ihrer Jugend in der Stadt bedienstet war, mit den Händen zu klatschen. Ia, sie wußte genau, wie man den Star einer solchen Gesellschaft zu empfangen hatte. Tat es die längere Wartezeit oder sonst irgend was? Das Publikum begann schon im voraus Freude an Mister Freds bevorstehender Verherrlichung zu empfinden. Allgemeiner Applaus setzte ein. Bravo , bravissiino!— brüllte ein bekannter Trunkenbold, ein alter Roßdieb. Bravo , bravissimo!— tobte es weiter, so daß die neugierige Wirtin erst durch ihr„na, was aibts denn?" de» nicht«ndenwollenden Beifallssturm zur Ruhe bringen tonnt«.(Fortsetzung folgt.)