Nr. 20448. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Sonntag, 3. Mai 1931
--
Die Festung hat der Stadt Kustrin nicht zum Segen gereicht. Von der ein stigen Residenz der Neumark ist ein bescheidenes Garnisonstädtchen übrig geblieben. In Küstrin erzählt man sich folgende Anekdote: Einst hatte man in der Altstadt einen Möbelwagen gebaut, aber man konnte ihn nicht seiner Bestimmung übergeben, weil er nicht durch die engen Tore paßte. So war es auch, überall hinderten die Festungsrälle die Ausdehnung der Stadt, wie ein Korsett den Körper einzmängt. 34 Jahre lang hat der Bau der Festung gedauert, nachdem man schon 1535 die ersten Wälle aufgeschüttet hatte; auf die Mauern rourden„ Kavaliere" gesetzt, nur maren diese Kavaliere keine Herren, sondern haushohe Bollmerke mit dunklen Kasematten, glotz äugigen Schießlöchern und trichterförmigen Luftschächten. Hinter diesen bärbeißigen Steinklötzen fühlte sich weder die hohe Gerichtsbarkeit noch die hohe Verwaltungsbürokratie wohl, sie zog beizeiten in das einladendere Frankfurt . Dabei hat bis auf die heutige Zeit diese Festung, deren Steinquadern morgen ein 30- cm- Mörser davonwirbeln würde ,, mie dürre Blätter im Herbstroind", ein merkwürdiges Schicksal gehabt: sie sah meniger Krieg als Aufruhr, denn als das preußische Mantua 1806 roirklich einmal die Wacht an der Oder halten sollte, übergab sie der Kommandant seinem napoleonischen Gegner. Aber als im Siebenjährigen Krieg in Küstrin 3000 bei Zorn dorf gefangene Russen saßen, rebellierten die eines Tages und 4000 gefangene Oester reicher , die später dazu kamen, ermordeten die Wachen, richteten die Geschütze der Forts kurzerhand auf die Stadt und waren nur mit Mühe und Not zu überwältigen. Das war 160 Jahre später, in den trostlosen Oktobertagen des Jahres 1923, nicht viel besser, auf dem Renneplatz und in den Straßen der Altstadt, mo heute die Kinder spielen, floß das Blut, Maschinengerehre knatterien, Leuchtkugeln blitzten auf und auf dem„ Hohen Kavalier", dessen Ende jetzt naht, rourden Geschütze aufgefahren, um die 500 schwarzen Putschisten des Majors Buchrucker, die mit der Reichsmehr um Küstrin kämpften und sich im Zeughaus verschanzt hatten, nötigenfalls in Grund und Boden zu schießen. Das ist heute alles vorbei, nur daß inzwischen die Neufaschisten dem Altfaschisten Buchrucker das Nasenbein eingeschlagen haben.
Dreßluft bezwingt ein Fort.
Den Weg zur Altstadt verSperrt der hohe Kavalier". Ihm gegenüber liegt das langgeftredte Proviantamt Nr. 1, das die ganze Straße mit dem herben Geruch frischgebadenen Kommißbrotes erfüllt. Seitdem der Erdhügel, der das Haupt des Hohen Kavaliers" bedeckt, von den Arbeitern in Klumpen auf die Straße geworfen wird, steht jene Frau mi: ihrem Kinderwagen nicht mehr da, die auf diesem Gefährt Würstchen aus ff. Pferdefleisch feilhielt. Das Fort ist ein düsterer Koloß, hoch, wie eine vierstödige Mietfaserne, und mit Mauern so did, daß man oben auf ihnen Fußball spielen fönnte, doch das geht nicht, denn erstens ist das Umhertlettern in ben ehemaligen Festungsanlagen verboten und zweitens ist die Grasnarbe auf dem Dach des Forts fo start gewölbt, daß man hinunterpurzeln würde in den tiefen Graben, der die Mauer umspült. Nur ein paar windschiefe Schornsteinrohre mit spisen Hüten guden von dort oben najemeis ins Land, aber fein Rauch quillt mehr hervor, an den großen eisernen Toren nagt der Roft und die schmutzigroten Mauern sind stellenweise von einer grus tigrünen Batina überzogen; Moos hat sich angefiedelt. Seitdem feine Planwagen mehr gemächlich über die Landstraßen rumpeln, sondern schwere Lasttraftzüge ihrem Ziel entgegendonnern, ist der alte Steinbär am Eingang zur Altstadt ein arges Verkehrshindernis geworden, die enge Schlucht zwischen dem Hohen Kavalier" und dem Proviantamt, wo sich auch noch die Straßenbahn hindurch quetschen muß, nennen die Küstriner die Todeskurve, weil fortgesetzt an dieser Stelle jemand mit zerschundenen Knochen aufgelesen werden muß. Deshalb ist fürzlich trotz vieler Widerstände dem Fort das Todesurteil gesprochen worden; an den Wänden hocen jekt Arbeiter und brechen dem„ Hohen Kavalier" mit ihren Preßluftbohrern die Zähne aus. Hernach fährt eine Lokomotive mit einem Zug fleiner Loren vor und holt die Mauerbrocken ab. So ist jetzt ein Blick in die wohlbehüteten Geheimnisse des alten Forts möglich, durch die freigeleten Kasematten streift der Frühlingswind und seit vierhundert Jahren zum erstenmal scheint die Sonne in die düsteren Keller. So sehr den darbenden Arbeitern Küstrins das
GR
MEDS
Kattewall an der Oder.
NG
ARZA
Hoher Kavalier" auf Abbruch,
Brot diefer Notstandsarbeit zu gönnen ist, so bedanerlich find die schweren Unfälle, die bei den schwierigen Sprengungen fich ereig neten, wenn man uns recht unterrichtet hat, sind bis jetzt 17 Arbeiter zu Schaden gekommen. So fordert noch in seiner Todes stunde der Hohe Kavalier seine Opfer.
Die Tragödie an der Schloßmauer.
Das historisch interessanteste Baumert Kustrins ist ab wohl teils das Amtsgericht untergebracht sind. An das renovierte das Schloß, in dem heute teils Kommandostellen der Reichsmehr,
Vier Giftgasopfer.
Schweres Unglück in den Wilhelmsburger Zinnwerfen. Harburg- Wilhelmsburg , 2. Mai.
Wie erst jest bekannt wird, ereignete sich in den Wilhelmsburger Zinnwerken am Donnerstagvormittag ein schweres Giftgasunglück, dem bisher vier Ar. beiter zum Opfer gefallen sind. Die Arbeiter einer Belegschaft, die mit der Beförderung eines Zinnzwischenproduktes, der sogenannten 3innträge, beschäftigt waren, hatten das Material mit Wasser besprengt, um Staub zu vermeiden. Dadurch müssen sich auf bisher noch nicht geklärte Weise giftige Gase entwickelt haben. Bei neun Arbeitern traten schwere Vergiftungserscheinungen auf, die ihre sofortige Ueberführung ins Krankenhaus notwendig machten. Bis Sonnabendmittag sind vier Arbeiter gestorben, während die anderen zum Teil hoffnungslos daniederliegen. Am Freitagmittag wurden sechs weitere Arbeiter, bei denen anscheinend die gleiche Vergiftung vorliegt, ärztlicher Behandlung zugeführt. Alle übrigen Arbeiter der Beleg schaft sind daraufhin ebenfalls zur Untersuchung und Beobachtung eingeliefert worden.
Die bisherige ärztliche Untersuchung hat ergeben, daß es sich höchstwahrscheinlich um Vergiftungen durch Arsenwasser stoff handelt. Dieses Gas ist eines der gefährlichsten, Blut gifte, die die chemische Wissenschaft fennt. Es ist besonders ges fährlich, da die furchtbaren Wirkungen sich erst nach geraumer Zeit einstellen. Die Chemiker sind gleichfalls der Ansicht, daß sich dieses Gas durch die Anfeuchtung der Zinnträge gebildet haben fann. Die Untersuchungsbehörden sind eifrig tätig, um das schwere Unglück in allen seinen Einzelheiten aufzuklären.
Tor hat der Verein für die Geschichte Küstrins eine große Bronze
tafel anbringen lassen, auf der folgendes zu lesen steht:
In diesem Gebäude,
ursprünglich das Haus der Neumärkischen Bögte, 1535-1571 das Schloß des
Markgrafen Hans,
wohnte der Große Kurfürst als Kronprinz und erhielt seinen Schulunterricht 1627-1633. Friedrich der Große
machte hier die ernste Schule
des Lebens durch.
Soviel ist richtig: Friedrich II. war ganz nach seiner welfischen Mutter geartet, lieber wollte er Racines Athalie gedichtet, als den Siebenjährigen Krieg geführt haben. Sein Vater, Friedrich Wil helm I. , nannte ihn einen effeminierten Kerl, der nicht reiten und schießen kann, der sich die Haare nicht schneiden läßt, sondern sich frisiert wie ein Narr, Grimassen schneidet, eine malpropere, äußere
Teilblick auf das Schloß.
Erscheinung, ein böser, eigensiniger Kopf, erfüllt mit Hoffahrt und Bauernstolz". Es tam zu dem befannten Fluchtversuch des Brinzen nach England; am 4. September 1730 wurde Friedrich als Gefangener nach Rüstrin gebracht, am 25. Oftober trat das Gericht im Köpenicker Schloß zusammen und verurteilte die Leutnants Don Ratte zu lebenslänglicher Festungshaft, von Reith in contumatiam zum Tode durch den Strang, von Spaen zu drei Jahren Festung wegen Mitwissens, von Ingersleben zu sechs Monaten wegen Beihilfe. Gegen Friedrich erklärte sich da Gericht für unzuständig; die Strafe wurde dem Ermessen seines königlichen Vaters überlassen. Damit war Friedrich Wilhelm schon einverstanden, aber nicht mit dem Urteil gegen Katte; dreimal trat das Gericht zusammen, um erst beim letzten Male das Todesurteil gegen Katte zu fällen, nachdem man ihn nicht nur der Desertation, sondern auch des Hochverrats angeklagt hatte. Der alte Katte bat
PACKUNG 40 PFENNIG