jnfred Weinlraub:
Jbfen, der Somialkniiker
%um 2 5. Todestage des Richters
„Alles oder nichts!" (Leitspruch im„Brand".) TOemals war Ibsen Sozialdemokrat. Wie Pernerstorfer er- zählt, verurteilte der große Dramatiker Viktor Adler gegenüber alles Parteiwesen, weil es die Individualität erdrücke. Doch ist die Ansicht geläufiger, daß er aus einer gewissen Verschlossenheit seines Charakters heraus keiner Partei angehörte. Dennoch gab er zu, als man ihm sägte, sein dichterischer Freund und Landsmann Björnson halte sich für einen Sozialisten: Ja, das dürfte ich auch sein. Und er betont einmal, er sei auf anderem Weg« als die wissenschaftlichen Sozialisten zu denselben Resultaten gelangt wie diese. Freilich, in seinen Werken befaßt er sich nicht eigentlich mit sozialen Problemen im engsten Sinne, wenngleich er empört und gründlich mit den Stützen der bürgerlichen Gesellschaft, ihren Scheinheiligen, Glücksrittern und Schurken abrechnet, und, wenn er unerbittlich die Masken hcrabreißt von den geheiligten Meinungen und Einrichtungen, den Fetischcharakter der herrschen- den Ordnung bloßlegt.(Das Bürgertum versuchte es übrigens einmal, ihn als ihres Geistes zu beanspruchen, da er in dem „Volksfeind" energisch loszieht gegen die Masse, die„kompakte Majorität"— nur vergaß man absichtlich, daß diese Masse in dem Stück wie im damaligen Norwegen saktisch aus eingefleischt reaktionären Kleinbürgern besteht, die durchschnittlich freiheits- und bildungsfeindlich sind, und man unterschlug seine Erklärung:„Die Art Plebs, von der ich hier rede... von der kriecht und wimmelt es tings um uns her— bis hinauf zu den chöhcn der Gesellschaft!") Aber in Reden und Aussätzen, in Bri«s«n und Gedichten hat er sich vielfältig mit dem Problem beschäftigt, und seine Liebe zum vierten Stand kundgetan. Vor allem in der berühmten Rede, die er 1885 im Verein Drontheimer Arbeiter hielt und die von der bürgerlichen Press« vergeblich totgeschwiegen wurde. Unter anderem sagt er, er sei sich dessen bewußt, daß die„Demokratie van heute" (also die politische Demokratie!) nicht imstande sei, die großen Auf- gaben der Zukunft zu lösen. Es müsse ein adeliges Element in Staatslsben, Regierung, Volksvertretung und Presse kommen.„Ich denke natürlich nicht an den Adel der Geburt und auch nicht an den Geldadel, nicht an den Adel der Wissenschaft und nicht einmal an den Adel des Genies oder der Begabung. Sondern ich denke an den Adel des Charakters, an den Adel des Willens und der Ge- sinnung. Der ist es, der uns freimachen kann." Dieser Adel wird von zwei Seiten kommen:„Von unseren Frauen und von unseren Arbeitern." Die Arbeiterklasse stehe ihm unter ollen Ständen am nächsten, und er bittet, hinzuzufügen, daß er hoffe, in der Zukunft würden dem Arbeiter solche Lebensbedingungen und soziale Lage vorbehalten sein, die er mit herzlicher Freude will- kommen heiße. Er bedauert es bloß, daß er nicht direkt für das Wohl des Arbeiterstandes wirken dürfe. Es wird uns merkwürdig erscheinen, daß Ibsen zeitlebens sich den Arbeitern verbunden fühlte, wenn wir erfahren, daß er als Sohn eines begüterten Handelsherrn zur Welt kam. Aber das Geburtshaus lag in unmittelbarster Nachbarschaft von Pranger. Arrestanstalt und Irrenhaus, die dem ernsten Knaben viel Kops- zerbrechen machten. Und als Henrik acht Jahr« zählt«, brach das Geschäftshaus des Baters zusammen. Er muß infolge pekuniärer Not seinen Herzenswunsch, Maler zu werden, ausgeben und wird, fünfzehnjährig, Apothekerlehrling. Der Haß des Deklassierten wider seinen Geburtsstand ist der stärkste! In einem Gedicht teilt
der Jüngling die Menschheit in zwei Klassen:„Die geladenen Gäste beim Feste des Lebens und die armen Zuschauer auf der Straße. die zu den beleuchteten Fenstern emporstarren, vom Nachtwind durchschauert." Seither ist. sein Leben das eines Revolutionärs. Ob er nun die Honoratioren der Kleinstadt in bissigen Satiren angriff(sein Austreten, erzählt er weitaus später in der Vorrede zur Neu- bearbeitung seines„Katilina", berechtigte die Gesellschaft tatsächlich nicht zur Hoffnung, die„Bürgertugenden" würden durch ihn einen Zuwachs erhalten), ob er im Freiheitsjahre 1848 stürmisch den rebellischen Ungarn jujubelt. Im Trauerspiel„Katilina" versucht er«ine Ehrenrettung des gewaltigen altrömijchen Ausrührere, den seine Feinde mit Dreck besudelten. Auch gewinnt dcr junge, schwer ums Dasein ringende Dichter Fühlung niit der Arbeiterpartei, nimmt an Versammlungen und Demonstrationen teil und schreibt für Kampfblätter. Einmal entgeht er mit knapper Not der Ver- Haftung. Aber auch später, als europäischer Dramatiker und Welt- berühmtheit blieb er den Prinzipien der Jugend treu. Wenn er vormals in Gedichten wie„Abraham Linkolns Ermordung" und „An meinen Freund, den Reoolutiansredner" seine Bereitschaft zum Klassenkampf nicht verleugnete(„Macht tabula rs-a! Da werd ich nicht fehlen!"), so bekennt der Gereifte rückschauend, er sei heute genau derselbe wie ehemals, und gibt er zu, er habe„Sturmwetter immer geliebt". Der Dichter des Peer Eynt bezeichnet es in einem Briefe an den Dänen Brandes als Aufgabe der Zeit, den Begriffen der Revolution einen neuen Inhalt und eine neu« Erklärung zu geben, da doch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht mehr dieselben Dinge seien, die sie zur Zeit der seligen Guillotine waren. Im selben Brief fordert er ihn auf, sich zu den«n zu schlagen, die „bei dcr Revolutionierung des Menschcngeistes an der Spitze inarschieren". Aber die politischen und geistigen Verhältnisse in Norwegen waren derartig triste, daß er der Dumpsheit entfliehen mußte. Seit längerem hotte er sich bereits— im Gegensatz zu Björnson, der unentwegt und unbedingt aus Seite der Linken kämpfte— mißmutig abgewendet von dem parlamentarischen Treiben. Ihm schwebte nämlich ein« Revolution ganz großen Stiles vor, die den Staat überhaupt beseitigt. Er wird Eigenbrötler und Egoist. Aber wenn man, wie Brandes, diesen Individualismus genau nachprüft, so wird man in ihm einen verborgenen Sozialismus entdecken. Aber als er nach einem Menschenalter heimkehrt, findet er noch immer olle„Kanäle des Verständnisse» verstopft". Die„kompakte Majorität" setzt sich immer noch aus den besitzenden.Klassen und deren Troß und Mitläufern zusammen, die Arbeiterbewegung ist noch unentwickelt. Sein« Anschauungen haben sich keinesfalls geändert, bloß— er ist skeptisch geworden. Resigniert schreibt der fast Siebzigjährige, es gewähre ja«ine gewisse Befriedigung, in den Ländern ringsum bekannt zu sein.„Aber«in Glücksgefllhl bringt es nicht." Und später:„Hier— habe ich ja das Land meiner Geburt. Aber— ober: wo find« ich das Land meiner Heimat?" Das neuzehnte Jahrhundert brachte nicht die Erlösung. Er durfte noch dos Wachsen des vierten Standes erleben. Es waren inzwischen mächtig« Schritt« in die Zukunft hinein geschehen. Aber Julian Apostata -Ibsen sollte noch nicht das neue Reich erblicken. das er gehofft und vorausgesagt, das Reich der wahren Freiheit, Gleichheit, Brüdersichkeit!. v-.
Vrude e. Schute:
ffiürger und ffiemlutionär
Wenrik Jbien und fein Werk
„Ibsen ist unendlich radikal: ich habe ihn und seine Anschau- ungen jetzt näher kennengelernt. Eines Abends ging ich mit ihm und dem Dichter N. N., der sich diesen Winter hier aushält, in ein Restaurant: spät am Abend, etwa beim sechsten Glas, ließ Ibsen seiner Zunge freien Laus, und da hätten sie ihn hören sollen!... Ibsen will weder Nationalität noch sonst etwas mehr anerkennen: er ist Anarchist vom reinsten Wasser, will tebule rasa machen, den Torpedo unter die ganze Arche legen: die Menschheit muß ansangen, die Welt wieder von Grund aus neu auszubauen— und da beim Individuum ansangen! Dieses zu bauen, dazu leben wir. Die Staaten und alles andere müssen vernichtet werden, soweit sie irgendwie diese Arbeit beeinträchtigen: dann werden vielleicht an Stelle der heutigen Gemeinwesen und Staaten eine Art Versiche- rungsgesellschasten kommen. Im übrigen bleibt es Sachs der Ge- sellschaft, dafür zu sorgen, was zustand« kommen kann. Die große Ausgabe unserer Zeit ist, das Bestehende in die Lust zu sprengen— zu zerstören. Als man ihm ein andermal Hort auf den Leib rückte— als man darauf hinwies, welche schwere Verantwortung er damit aus sich nehme, da verschanzte er sich schließlich hinter der merkiÄrdigen Aeußerung: die verschiedenen Menschen haben von der Natur ver- schiedene Aufgaben zugewiesen erholten: die Natur hat ihnen das Talent und den Drang gegeben, dies oder jenes zu tun, dem einen dies, dem anderen jenes: so muß jeder Vogel singen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und damit löst er die ihm von der Natur zu- gewiesene Aufgab«— und seine Rechtfertigung muß dann sein, daß er in Wahrheit sagen kann wie Luther : Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Eine merkwürdige, groß- artige Persönlichkeit!— Ich erwähnte das„sechste Glas": da» soll nicht heißen, daß Ibsen oft so weit kommt: ober ab und zu, wenn er mit jemandem zusammen ist, mit dem er sich gern aussprechen will, geht er gern ins Cafe und bleibt dann sitzen und räsoniert bis tief in die Nacht hinein. Aber die» geschieht ja nur selten einmal und hat im übrigen gar keinen Einfluß auf sein Leben und seine ernste Arbeit." Den Brief schrieb am 4. Januar 1883 ein norwegischer Be- kannter aus Rom an Freunds in dcr Heimat. Ibsen war damals 54 Jahre alt. Ist dieser Brief ein Steckbrief seines Geistes? „Ich habe mich in letzter Zeit stark mit dem Gedanken beschäftigt. mir, wenn möglich, eine kleine Villa oder richtiger ein Landhaus in der Nähe von Christiania zu kaufen, am Fjord, wo ich einzig und allein meiner Arbeit leben könnte." vertraut Ibsen selber etwa ein Igfc� später seinem Verleger Hegel an. Er hat sich„im Laufe der Zm eine gar nicht kleine Sammlung von Kunstwerken, hauptsächlich von Bildern zugelegt, und oll das ist nun in einem Speicher in München magaziniert, ohne daß wir irgendwelche Freude daran haben". Diese Sehnsucht nach Ruhe und Beschaulichkeit paßt schlecht zum Bild des umstürzlerischen Anarchisten. Und doch spiegeln beide Briefe etwas van Ibsen» Persönlichkeit, die immer eine seltsame
Zweiheit darstellte. Ibsen freute sich wie ein Kind an Orden und Ehrenzeichen, mit denen er sich zum Entsetzen und Spott Björnsons bei allen Gelegenheiten behängt: er unternahm eine weite Reife noch Stockholm , um persönlich dem schwedischen König für eine Gratulation zu seinem siebzigsten Geburtstag zu danken. Menschen- scheu, selbst in den Großstädten fast immer in selbstgewähltcr Ein- samkeit, lebte der Mensch Ibsen . Zu Tatendrang erwacht er erst als Dichter. Dann erhebt ihn ein Rausch, der nichts Nebelhaftes hat, sondern der seinen Blick zu übernatürlicher Klarheit steigert, über einen engen, kleinlich«» Alltag, der den Menschen Ibsen sonst gesangen hält: dann stürzt er Welten, damit sie sich neu gebären können. Denn er zerstört nie, weil er an der Welt verzweifelt, sondern immer, weil er an sie glaubt. Die Enge der eigenen Menschlichkeit hat er in keinem Augenblick seines Daseins wirklich sprengen können: die hemmenden Mauern, die Kindheit und Jugend- jähre um ihn errichtet hotten, waren zu fest. Aber der Dichter Ibsen überflog sie. Er lebte, wo immer er in der Welt seine Zelte aufschlug, seinem Werk und mir in ihm lebte er wirklich. Ein Buch von Gerhard Gran „Henrik Ibsen "(Brockhaus-Ver- lag) geht von dieser Erkenntnis aus. Ibsen ist hier in das Licht seiner Werte gestellt. Der Mensch und sein Lebenslaus werden nur gelegentlich am Rande sichtbar. Gran bemüht sich um eine Bio- graphie der geistigen Entwicklung: er verzichtet dabei bewußt auf eine chronologisch lückenlos« Rekonstruktion des äußeren Lebens- lanfes. Dos gibt seiner Arbeit eine große einheitliche Linie. Aber Gran gefällt sich häufig in Wiederholungen und Breiten, die den Urnsang seines Buches unnötig steigern und dem Leser die Freude an der Lektüre manchmal etwa» trüben.
Erna Siüfing: Qroflkrachbei �Pinguins' In häßlicher, uns gor nicht gut anstehender Ueberheblichkefl vermenschlichen wir immer die Tiere. Dadurch rauben wir den Tieren ihr Ich und uns selbst betrügen wir um ein inniges Verstehenlernen. Doch sieht man Pinguine an, dann ist es, als ob sie sich als Generalvertreter der Tierwelt an unseren herabsetzenden Gedanken rächten. Die Pinguin« stolzieren einher wie verkleidete Menschen. Sie sehen mit ihrem sackförmigen Körper, ihrer ausrechten Haltung und ihrem watschelnden Gang ipimer aus, als ob einem jungen Sproß am Baume des Menschengeschlechts etwas recht Menschliches zugestoßen sei. Sie rauben jeder Stimmung den Ernst und machen jede Situation komisch, weil sie stets an die Menschen erinnern. Auch sind sie unbedingt friedlich, sobald sie satt sind und außerdem noch alles haben, was sie hoben möchten. Getreu diesen Grundsätzen fast aller Lebewesen hausten sried- fertig in der gleichen Tiergrottc Herr Brillenpinguin und Frau und Herr Goldschopspinguin und Gemahlin. Sie schwammen, tauchten, ruderten und vergnügten sich als müßig« Eckensteher, die da»
Publikum scharf beäugten. Das Publikum wiederum sah sich„Ne Pinguins" an und diesseits und jenseits der Mauer war man vollauf befriedigt. Die Brillenpinguine saßen unten auf den Felsen, die Gold- schopfpinguine saßen wesentlich höher. Dos gehörte zur streng ein- gehaltenen Etikette, die der Pinguinenlebensgewohnheit in der Freiheit entsprach. Plötzlich gehörte den Goldschopfpinguinen ollein Leben, Welt und Zukunft: denn Frau Goldschopspinguin hatte ein Ei gelegt. Voll Lebensfreude mit Geduld vermischt brüteten abwechselnd Papa und Mama. Die Brillenpinguine hätten auch gerne geholfen, doch hielten die glücklichen Eltern unbedingt auf Rassereinheit und winkten energisch ob. Der vorsichtige Tiergärtner trennte sogar die Paare. Als das blinde Junge da war, hielt entweder Papa oder Mama bei der primitiven Mulde, die ein Pinguin als Nest betrachtet, treue Wacht. Später gingen sie mit dem neugierigen, so voller Hoffnungen steckenden Dounenkloß herausfordernd stolz spazieren. Das kleine trennende Gitter war wieder gefallen und sie konnten recht breitspurig ihr Glück den Brillenpinguinen zeigen. Die hatten unbedingt Gift im Blick. Und auf einmal erschrak das Publikum, denn es war Groß- krach unter„den Pinguins ". Bater Goldschopf machte einen derartig langen Hals, als sei er als ein mit Sprungfedern ver- sehener Teufel plötzlich aus einem Kasten geschnellt und Mutter Goldschopf zeigte den Brillenpinguinen ihre ganze Verachtung und rutschte auf dem Bauch. Was war denn aber geschehen? Run, Brillenpinguins hatten in einem unbewachten Augenblick Goldschopfpinguins das Kind ge- stöhlen und gingen zärtlich mit ihm spazieren, als ob sie die recht- mäßigen Eltern seien. Dieser Kindesraub gibt uns Menschen zu denken. Ob ein kinderliebes Pinguinenpaar sich das auch in der goldenen Freiheit erlaubt, wo es selbst für den Lebensunterhalt dcr Nachkommenschaft sorgen muß? Oder ob sich einen Kindesraub vielleicht nur gefangene Pinguine, diese Tierwesen in gesicherter Lebenshaltung, heraus- nehmen?_ 3)r. Xüy Liersberg: Srforfchung destraums Daß Träume einen Sinn haben, daß sie nicht willkürliche Tagesreste sind ohne jede Bedeutung, ein regelloses Kommen und Gehen von Gedankenbruchstücken, ein Auftauchen und Verschwinden beliebiger Bilder— das wußten die alten Völker schon seit Jahr- tausenden. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschasten jedoch de'- gann jene moderne Ueberheblichteit, den Traum als wissenschaftlich nicht begreifbares Gebilde obzutun und ihn in das Bereich dcr Mystik oder des Aberglaubens zu verweisen. Erst dem 20. Jahrhundert mar die Ehrenrettung des Traumes vorbehalten, den man nun als den vornehmsten Repräsentanten de» neu entdeckten„Unbewußt Seelischen " anerkannte. Man lernte begreifen, daß ein richtig ge- deuteter Traum uns den Schlüssel zur Persönlichkeit eines Menschen zu liesern imstande ist und begann den„praktischen Wert der Traumdeutung" richtig einzuschätzen. Dieses Problem bildet« das Verhondlungsthema des diesjährigen si. Allgemeinen ärztlichen Kon- gresses für Psychotherapie(vom 14. bis 17. Mai) in Dresden . Unter welchen Umständen, so fragt C. G. Iung-Küßnacht, dem das Hauptreferat der Tagung zusiel, kann die Traumdeutung peak- tische Verwertung finden, und wo» oermögen wir au» einem richtig und vorsichtig gedeuteten Traum für die Kenntnisse ei»«» srsmdcn Seelenleben» zu entnehmen? Sehr einfach lieg« die Sache bei jenen klaren und durchsichtigen Träumen, wie sie sich nicht selten zu Beginn einer seelischen Behandlung einstellen. Wenn der Patient da etwa träumt, er sollte die Landesgrenze überschreiten, aber so viel er auch suchte, er vermochte sie nicht zu finden— so bedarf es keines kom- plizierten Deutungsoersohren», um zu erkennen, daß der Pakient von seinem Arzte wegstrebt, weil er sich nicht mit dem Gedanken zu befreunden vermag, die Grenze in jenes unbekannte Land der Traumanalyse zu überschreiten, in das der Arzt ihn zu führen per- sucht. In der Tat hat jener Patient auch die Behandlung ab- gebrochen— eine Tatsache, die der Arzt auf Grund eines Traumes ohne weiteres hätte voraussehen können. Der gleiche Patient ver- suchte es nun mit einem andern Arzte. Aber auch diesmal scheint seine Wahl nicht glücklich gewesen zu sein. Wieder träumt er, daß er die Grenz« überschreiten solle und sie nicht finde: er sieht aber ein Licht, dem er nachgeht: dazu muß er durch einen dunklen Wald. Da ober packt ihn jemand— sein Arzt— und er erwacht mit Angst. Auch diesmal bricht er die Behandlung ob, weil er das dunkle Gc- strüpp der Geistesarbeit fürchtet, die er zu bewältigen hätte, bevor ihm ein Licht über seine Erkrankung aufgeht. Nun kommt der Patient zu Jung. Jetzt träumt er. die Grenze bereits überschritten zu haben und sich in einem schweizerischen Zollhause zu besinden. Dort behauptet er, nichts mehr zu oerzollen zu haben— soll heißen, er habe nichts mehr vor dem Arzte versteckt, enthalte ihm keine ver- borgen«» Gedanken vor. Der Zollbeamte(gemeint ist immer wieder sein augenblicklicher Arzt) gibt sich damit nicht zufrieden und zieht ihm auch wirklich zwei ganze Matratzen aus der Tasche. Da sträubt sich der Patient nicht länger gegen die Behandlung: er läßt sich von Jung überzeugen, daß dieser ihm Helsen kann, daß er jene Geheim- nisse, die ihn innerlich so belasten, aus ihm herausholen wird, und er sieht ferner ein, daß er sich ja auch gar nicht mehr im Ernst gegen die Behandlung sträubt— er hat doch im Traume die Grenze de- reits überschritten. Diese seltsame Traumserie zeigt klar und deutlich die Situation zwischen Arzt und Patient, die Stellungnahme de» Kranken zu seinem Helfer, dem sie einen deutlichen Hinweis gibt, was er von seinem Patienten zu halten hat und wie sehr es an der Zeit ist, dessen Widerstand zu beseitigen. Der Arzt vermag also aus diesen Anfangsträumen, die sich zu Beginn einer seelischen Behandlung einzustellen pflegen und die dann noch sehr klar und durchsichtig sind, viel für die künstige Behandlung des Patienten zu lernen. Die späteren Träume sind meist viel komplizierter und entstellter, und sie sind es. die so viele Aerzte dazu verlocken, in ihre Patienten durch die Art der Fragestellung alles Mögliche hineinzudeuten. Dieses Hineininterpretieren veranlaßt Jung, die Freudsche Methode der „freien Einfälle" zu verwersen, die darin besteht, daß der Patient ausnohmelos alles äußert, was ihm zu seinem Traum einfällt— auch was ihm selber noch so unsinnig und entlegen erscheint. Jung setzt an die Stelle des freien Assoziierens feine beschreibend« Methode, d. h. er läßt den Patienten jedes Traumstück ganz genau beschreiben, wie er es im Traume gesehen oder erlebt hat, und er hält seine Patienten an, zu Haufe, bevor sie in die Sprechstunde des Arztes kommen, ihre Träume aufzuschreiben mitsamt jenen Beschreibungen der einzelnen Teil«. Dadurch will er die Patienten zur Vorsicht gegenüber ihren Träumen erziehen und die Aerzte verhindern, ihre eigenen Gedanken in die Patienten hineinzulegen. Denn nur bei gewisienhafter Deutung vermögen die Träume un? sicheren Aufschluß über die Gedanken und Strebungen eines Menschen und über die Struktur seine» Seelenlebens zu geben, vermögen sie uns dia- gnostisch verwertbar« Tatsachen zu vermitteln, die— so meint Jung — genau so eindeutig sein können wie physiologische Tatsachen, wie etwa der Umstand, daß die Zuckerausscheidung im Urin eine Zucker. krankheit anzeigt oder Eiweißausscheidung«in« RierenerkrankunA.