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äüeilage Freitag, 29. Mai 1931
IivÄbimA StuiLiuk4aJ&a ibhoatik
Vergiß, um zu lernen! Von den Heheimniffen unseres GeöächtmlleS/ von vr. Bruno»ltman«
Das Vergesien vollbringt eine Leistung, die bei ihm geradezu als widersinnig erscheint. Wir eignen uns nämlich die ersten Kennt- nisse und die Grundlagen der Lebensorientierung durch das V c r- g e s s e n von Leistungen an, die wir einmal fertiggebracht haben und fertigbringen mußten, um in den Besitz jener Elementar- kenntnisse zu kommen. Wir lernen sprechen. Das geschieht, von der psychologischen Seite betrachtet, auf dem Umweg einer selbst erdachten Sprache. Die Laute, die das Kind den Aeuherungen der Umwelt nachlallt, um sie als Bezeichnungen zu verwenden, sind gewiß ein dürftiges Sprachgebilde, aber diese Sprachkompositionen bilden die notwendige Vorübung zur Erlernung einer Muttersprache. Kein Erwachsener weiß, wie er als Kind Personen und Dinge seiner Umgebung, wie er etwa Vater, Mutter, Schwester, Milchflasche, Katze benannt hat, wenn es ihm seine Angehörigen nicht hinterher mitteilen. Er mußte aber auch diese Brücke abbrechen, muhte seine Hilfssprache vergessen, um im Geiste das große Gebäude der Muttersprache zu errichten. Das Vergessen ist hier keine Schwäche des Gedächt- nisses, sondern eine Bedingung seiner zweckmäßigen Verwendung. Voraussehung des Könnens Aehnlich steht es mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Wir brauchen, um das zu bewältigen, vielerlei Hilfsmittel. Wir müssen uns Tausende von Vokabeln einprägen, bedürfen einer Reihe grammatischer Regeln und vielleicht noch weiterer Mittel, um uns Worte und Regeln zu merken. Mit dieser Methode bringen wir es ober niemals zur vollen Aneignung der Fremdsprache, sondern höchstens zu der Fähigkeit, einen Text aus ihr in unsere Muttersprache zu übersetzen bzw. umgekehrt. Die wirkliche Beherrschung der fremden Sprache erringen wir erst durch Einleben un!»Eindenken in den Sinngehalt der Worte und in die Eigenheiten des sprachlichen Aufbaues; und dazu müssen wir wiederum die Einschaltungsmittel des Studiums, hier also des Vokabulariums und der grammatischen Anwendungen, möglichst vergessen. Keine leichte Aufgabe; besonders nicht für den, der viel Mühe auf das Studium der Grammatik und des Vokabulariums verwendet hat und für den sich daran noch Erinnerungen an allerhand ärger- liche oder komische Zwischenfälle knüpfen. Wer dieses Vergessen aber nicht zuwege bringt, dem wird die angelernte Sprache immer eine Fremdsprache bleiben, auch wenn er das Vokabularium von A bis Z kennt und keinen Verstoß, gegen die Grammatik begeht. Im Lesen, Rechnen, Schreiben, im Klavierunterricht ergeht es uns nicht anders.' Wir lernen diese Aufgaben und Fertigkeiten erst, wenn wir viele Dinge vergessen, die wir zur Erlernung brauchten. Der Vorschüler buchstabiert Silben oder Worte aus Silben. Lesen wird er aber erst, wenn er verlernt hat, die Worte in ihre Bestand- teile zu Zerfällen. Es hätte nie«inen Virtuosen auf einem musikalischen Instru- ment, ja, niemals einen erträglichen Durchschnittsspieler, infolgedessen auch nie ein« T o n k u n st gegeben, wenn es nicht gelänge, vielerleiTeilhandlungender musikalischen Einübung all- mählich auszuschalten. Wir müsien verlernen, das Noten- bild zuerst in seine Schristbedeutung zu übertragen, wie wir das als Anfänger tun: Ton C zwischen dritter und vierter Linie. Wir müsien verlernen, die einzelnen Töne durch ihre Lage im Tonsystem eines Instruments zu bestimmen: F auf der Klaviatur zwischen E und G. Wir müssen verlernen, den Takt abzuzählen, wenn wir gute Rhythmiker des Spiels werden wollen. Und alle die ver- bindenden Tätigkeiten von der Aufnahme der Notenschrift bis zum Anschlag der Töne müssen wir einschränken oder ausschalten, so daß die vielfach gegliederte Sukzesiionstätigkeit des Anfängers in der einen Simultanaktion erledigt wird: vom Blatt spielen. Das alles geht, wie Oswald Külpe   sagte, nach denGesetzen der Zu- sammenziehung des Wichtigen unter Ausschei- dung des Ueberflüfsigen vor sich", und es bleibt hinzuzu- fügen, daß diese Ausschaltungen auf ein Vergessen des Ueber- flüssigen hinauslaufen. Die Psychologen halten es für die größte Wohltat, daß unser Bewußtsein die Fähigkeit hat, sich sofort von den meisten Eindrücken zu befreien, die auf uns einstürmen. Gewiß ist das so. Man er- wäg« doch, mit welcher Stoffmasse wir unseren Geist belosten würden, wenn er alles aufbewahren sollte, was etwa bei einem Spaziergang durch eine belebte Großstadtstraße in unsere Sinne dringt und uns mit Vorstellungen und Gemütsbeeinflusiungen zu- geführt wird. Theodor Lipps   hat schon recht:Man müßte glatt verrückt werden, wenn nichts dem Bewußtsein entglitte, was es einmal eingefangen hat."! t Das Wesen der 4rugramme Ebenfalls als ein Segen ist zu preisen, daß wir eine Menge von Kenntnissen aus früheren und späteren Tagen ver- g e s s e n können, deren Aufnahme ms Gedächtnis einstmals ziemlich viel Mühe kostete. Solches geschieht meistenteils, wenn wir sie längere Zeit nicht verwendet haben und der Meinung sind, sie vor- aussichtlich überhaupt nicht mehr brauchen zu können. Sie werden freilich nicht völlig vergessen, auch wenn ihre Inhalte dem Ge- dächtnis so abhanden gekommen sind, daß der Versuch, sie in Er- innerung zu rufen, mißlingt. Es bleibt das Wissen um die Tat- fache, daß wir diese Dinge einmal gekonnt haben, und, was wich- ttger ist, es bleibenSpuren" des Gewußten zurück. Man spricht in der Naturwissenschost von solchen Spuren als von E n g r a m m e n"(Eingrabungen). Darunter versteht der Physio  - löge Reizeinwirkungen, die eine dauernde Veränderung im Organis- mus erzeugen. Hierauf beruht die Möglichkeit der Vererbung von erworbenen körperlichen Eigenschaften. Auch der Psychologe darf von Engrammen reden und darunter die nachhaltigen Wirkungen geistiger Uebungen auf den sich dabei entwickelnden Geist begreifen. Das Inhaltliche mag verschwinden, dieSpur" im höheren Sinne bleibt. Das Organ des Geistes wurde«estärkt. Diefe Verhällnisie machen die Begabungsvererbung Durch Geschlechterfolgen von Familien und bei Völkern möglich.
Es ist ein Unsinn sondergleichen, zu behaupten, was tatsächlich be- hauptet worden ist: daß auch die Feuerländer zur Zeit des Dreißig- jährigen Krieges einen Beethoven   hätten hervorbringen können. Be- vor ein Genie ans Werk geht, muß die Begabung sich schon lange Zeit sei es in der Ahnenreihe, sei es unter den Volksgenossen engrammatisch" entfaltet haben. Vergellen und 4rrlebnisfähigkeit Wir haben weiterhin die Gabe, uns an eine Lehre, an ein Kunstwerk usw. nur noch in der Weise zu erinnern, daß wir wissen: wir wurden in sie eingeweiht. Zugleich jedoch besinnen wir uns, wenn auch alles oder das meiste Inhaltliche dem Gedächtnis ent- glitt, des Eindrucks, den jene Lehre, jenes Gedicht, jenes Drama oder Tonwerk auf uns ausübte. Dieses Aussallen alles Stofflich- Inhaltlichen bei erhaltener Erinnerung an die affektiven Bestür- münzen ist eine ganz großartige Einrichtung im geistigen Haushalt des Menschen. Sie ermöglicht uns, in größeren Zeitabständen immer wieder mit gestärkter Urteilskraft und gesammelter Eindrucksfähigkeit an jene Schöpfungen heranzutreten. Von solcher Einsicht aus läßt sich erst ganz ermessen, wie ver- fehlt eine Pädagogik war oder vielleicht noch ist, die dem Schüler die Werke der klassischen Literatur geradezu zeilenweise aufzudrängen suchte. Durchsprechen von Satz zu Satz, Aus-
Wir v«ri>ffe»ili<ben diele Anrequnq,«lme uns mit der Meinung des Autors de*ilfllid> der Staatsbürgerkunde*u identlfisieren. Wie alle Teilgebiete menschlichen Zusammenlebens, so hat auch dos Erziehungs- und Unterrichtswesen seine periodisch wechselnden Schlagwort«. Nachdem sich die unter dem SchlagwortArbeits- schule" zusommengesaßten methodischen Strömungen im Unter- richt der modernen Schule ausgewirkt und unter Abwerfyng gekünstelter und unrationeller Arbeitsweisen durchgesetzt hatten,. taucht jetzt ein neues Schlagwort auf: Gegenwartsunter- richt. Nicht nur die Richtlinien für die Ausstellung von Stoffplänen, wie sie die Volksbildungsministerien der verschiedenen deutschen Länder aufgestellt haben, fordern,der Unterricht soll gegenwarts  - nah sein", sondern eine ganze Reihe von Fachleuten wünscht ein besonderes UnterrichtsfachGegenwartskunde". Ich nehme an, daß damit ein Fach gemeint ist, das die Zeitgeschichte mehr als bisher in den Dienst der Staatsbürgerkunde und der staatsbürgerlichen Erziehung stellt. Vor solchem be- sonderen Fach ist dringend zu warnen! Einmal ist die Schule aller Arten mitFächern" reichlich gefüttert, zum anderen sollte jeder Lehrende so stark in der Gegenwart stehen und alle Fragen des täglichen Lebens so verfolgen, daß es ihm möglich ist, ohne beson- deres Fach überall die Gegenwart zum Brennpunkt unterrichtlichen Erlebens zu machen! Gegenwart und Zeitung gehören zusammen. Nichts liegt darum näher, als endlich einmal die Zeitung zur Gestaltung der Gegen- wart im Unterricht heranzuziehen. Man soll damit nicht warten, bis die staatsbürgerlichen Belehrungen an die Schüler herantreten! Wir haben schon im zweiten Schuljahr vorsichtige Versuche unternommen und eine Form gefunden, die es uns ermöglicht, in jedem Augenblick die Hilfe der Tageszeitung in Anspruch zu nehmen. Die Not hat uns dazu getrieben. Es ist kein pädagogisches Neuland mehr, daß neben das Lesebuch die Ganzschrift treten muß, daß die Kinder gar nicht früh genug an die Quellen des täglichen Lebens herangebracht werden können. Aber wo das alles hernehmen, wenn in unseren Klassen über die Hälfte der Ernährer arbeitslos ist? Dabei richten sich ja auch außerdem die Sachgebiete, die der Lehrende noch dem Willen der Kinder formt, nicht gerade nach den Quellen, die im Bücherschrank der Schule stehen. Bei der Suche nach kostenlosem aktuellem Lesestoff stießen wir auf die Zeitung. Sie ist auch den Arbeitslosen zugänglich, wenn oftmals auch erst in zweiter Hand. Winter war's, und die Lesestücke unseres sonst recht netten und brauchbaren Lesebuchs warenalle". Zudem wollten sie in diesem Jahre gar nicht auf den Berliner   Winter passen. Also frisch ans Werk, das heißt an die Zeitung!Was unsere Zeitung vom Winter schreibt" war die Ausgabe zum nächsten Tage. Was die Kleinen da alles gesunden hatten: Berlin   im Schnee. Der Schneesturm tobt weiter. Schneesturm über Berlin  . Berlin   im Schneesturm. Im Kampf gegen den Schnee. Ein schwerer Tag für die Straßenbahner. Opfer der Kälte. Winterreise durch Berlin  . Schneestürme im März. Märzschnee in der Großstadt. Heut« regnet's. Opfer des Nebels. Wo bleibt der Frühling? Wir hotten nun für eine ganze Zeit Lesestoff, bis der Früh- l i n g uns zu neuer Umschau zwang. Und wieder war die Ausbeute recht reichlich: Vorftadtfrühling. Der erst« Gast.
wendiglernen, Stilistik an ihnen üben, Aufsätze über Aussätze schreiben, vielleicht noch Vorträge darüber halten, all das heißt, die Werke dem Schüler für immer verleiden. Sie haben sich lediglich ins Gehirn eingesenkt, ohne dem Geist etwas Rechtes zu sagen und dem Gemüt etwas zu bedeuten. Das Gedächtnis wird sie niemals mehr so los, daß man auf gereifter Entwicklungsstufe zu ihnen wie zu lange vermißten Freunden zurückkehren kann. Auch der Ehrgeiz, gewisse Werke, die kein Gegenstand der Schul- lektüre sind, auswendig zu können, wie etwa den GoetheschenFaust". verdirbt diesen Schöpfungen die Möglichkeit, ein Besitz für immer zu sein. Man kann sich nie völlig von ihnen befreien, auch wenn Lebcnsstimmungen und Berufsobliegenheiten ihrem Wertgehalt nicht mehr angemessen sind. Die E i n d r u ck s f ä h i g k e t t für sie stumpft sich ab; alles ist Sentenz und Deklamationsstoff ge- worden. Wie lästige Bekannte, die einmal gute Freunde waren, begleiten diese Werke einen Menschen, der sie nie vergessen konnte, weil eine falsche Methode sie ihn zwangsmäßig eintrichterte. Man hat in den letzten Jahrzehnten gar mancheAbkehr"bewe- gung erlebt. Abkehr von Schiller  ; Abkehr von Goethe  ; Abkehr von Lessing  . Vielerlei Ursachen mögen dabei zusammengewirkt haben. Zweifellos ist aber auch eine Unterrichtsart mit schuldig, die keine Rücksicht auf den Anspruch des Geistes nahm, diese Werke vergessen zu können, sofern sie sich den übrigen Lebensinhalten nicht mehr einfügen.
Schüchterner Frühling. Es wird Frühling in Berlin  . Berlin   sonnt sich. Frühlingsanfang. Das Schneeglöckchen. Maiglöckchen im Bockofen.- Die sichersten Frühiingszeichen der Großstadl. Das dickste Lesebuch hätte uns nicht reichlicheren Stoff geben können, der zugleich aus der allerengsten Heimat der Kinder stammte. Von nun an war der Montag der Tag, an dem das Zeitungsmaterial für die Ausgabe der Woche vorbereitet und auf seine Verwendbarkeit hin geprüft wurde. Einige Mißgriffe kamen vor. Unwichtige Dinge und politisch gefärbte Berichte drohten sich einzuschmuggeln. Das stellten wir ab, indem wir in einer Klassenelternversammlung die Eltern für unser neues Leseheft interessiert und ihre Mitarbeit gewonnen hatten. Die Frage der Ausbewahrung unseres Lesestoffs wurde schnell gelöst: Wir nahmen alte Schreibhefte und schnitten die Seiten so heraus, daß am Heftrand 2 Zentimeter stehen blieben. Auf diese Streiten klebten wir die Zeitungsausschnitte, deren Inhalt noch einmal nach lautem Vorlesen durch die Klasse überprüft wurde. Es ist klar, daß die Anwendbarkeit der Zeitung sich bald mehrte Wir gestalten auch unseren Rechenunterricht nicht an den Aufgaben des Rechenbuches, sondern an den Preistafeln des Marktes, der Ladengeschäfte und der Zeitungsanzeigen. Es wu-de selbstverständlich, daß bei der Einführung neuer Rechnungsarten die Zeitung uns den Stoff geben mußte. Für die Rechnung m.t Zehnern oder nach Mark und Pfennig, mit Metern und Zentimetern. mit Dutzend, mit Stück, standen uns ja ausgezeichnete Tabellen zur Verfügung in Form der Inserate. Lebensmittel- und Aus- Verkaufspreise der großen Firmen werden in unserem Heft täglich ernduert, und sehr bald haben die Kleinen nicht nur eine Fülle von Aufgaben aus diesen Tabellen gebildet, sondern auch schnell unauf- gefordert herausgefunden, daß es mit der Preissenkung, die ja das Tagesgespräch aller Familien ist, nicht weit her ist. Man soll den Kindern diese unverlangte Kritik nicht verwehren. Wir sind jetzt dabei, Zeitungsausschnitte für den heimatkundlichen Unterricht zu sammeln. Einige liegen vor: Erziehung zur Tierliebe. Reise durch Berlin  . Freibad Müggelsee. Bauerngehöft in Berlin   W. Freien Raum für die Tiere im Zoo. Wursthof und Schlachthaus(Viehhof). Wetteraussichten. Ich kann mir denken, daß wir auch in den aussteigenden jziajscn nicht an Stoffmangel leiden werden, insbesondere dann nicht, wenn die Zeitungen erkannt haben, welche dankbare Aufgabe sie mit lösen helfen, wenn sie bei der Auswahl der Stoffe Rücksicht nehmen auf das stürmische Verlangen der Kinder nach Aktualität. Welche Fülle von Material bieten z. B. die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über die deutsch  -öfterreichische Zollunion und über den Völkerbund für die gegenwartsnahe Gestaltung des Unterrichts auf der Ober- stufe. Es wird nicht an Gegnern fehlen, die sich am sogenannten Zei- tungsdeutsch stoßen oder dem Journalisten ein falsch gesetztes Komma verübeln. Aber schließlich gilt noch immer das Wort der Schapen  - hauerschen Zeit:Auf einen schlechten Zeitungsschreiber kommen zehn schlechte Gelehrtenschreiber." Im übrigen sind die großen Tageszeitungen bereits in ihrem Stil zu einer lesewerbenden Kraft geworden. Schließlich ist die Zeitung für einen großen Teil der Menschen das einzige, was sie lesen. Wir werden fortfahren, den Unterricht zu aktualisieren mit Hilfe der Eltern und der Zei­tungen. y. Malina. j
Das Tntungsheft Anregung für gegenwartsnah«« Unterricht