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Morgenausgabe

Nr. 253

A 128

48.Jahrgang

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Der Borwärts. erscheint mochentag lich ameimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgabe für Berlin  und im Handel mit dem Titel Der Abend". Illustrierte Beilage Bolt und Zeit". Ferner Frauenstimme". Technit", Blick in die Bücherwelt", Jugend- Borwärts" u. Stadtbeilage

Vorwärts

Berliner Boltsblatt

Mittwoch

3. Juni 1931

Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.

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Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands  

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Gegensätze im Kabinett.

Um die 40- Stunden- Woche.

Die Beratungen über die neue Not perordnung im Reichss fabinett sind noch nicht abgeschlossen worden. Das Kabinett hat am Dienstag abend% 10 Uhr die Beratungen wieder aufgenommen, sie werden voraussichtlich noch am Mittwoch vormittag andauern. Bon den Vertretern der Länder sind sehr erhebliche Vorstellungen gegen die neue Notverordnung erhoben worden.

Wie mir erfahren, gibt es im Kabinett sehr ernste Auss einandersetzungen u m die 40 Stunden Woche. Reichsarbeitsminister Stegerwald verlangte eine allgemeine Ermächtigung, bei bestimmten Wirtschaftsgruppen die 40- Stunden­Woche einzuführen. Dagegen erhob der stellvertretende Wirtschafts­minister Trendelenburg aus allgemeinen Erwägungen Wider­spruch, und der Reichsfinanzminister Dietrich schloß sich ihm an, da er bei Einführung der 40- Stunden- Woche einen wesent. lichen Rüdgang der Lohnsteuererträge fürchtete Soviel wir erfahren, ist eine Entscheidung über die 40- Stunden­

Woche bisher noch nicht gefallen.

Das Kabinett will im übrigen aus Anlaß der neuen Not­verordnung eine weitere Gentung der Minister

gehälter vornehmen.

Dutschversuch der Unternehmer.

Das Zarifrecht soll zerschlagen werden.

Der Reichsverband der deutschen Industrie   ver­öffentlicht eine Erklärung, die zu den provokatorischsten Borstößen zählt, die das Unternehmertum in der Nachkriegszeit gegen den Staat und seine Gesetze gerichtet hat. Diese Erklärung verdient besonderes Interesse nicht nur wegen der Stellungnahme des Reichsverbandes zu der bevorstehenden Notverordnung, sondern vor allem auch desmegen, weil sie einen Gegenstoß gegen die starke Willenserklärung des sozialdemokratischen Parteitags gegen die Sozialreaktion darstellt, gegen das sozialistische Wirtschaftspro­gramm, das der Gesamtwirtschaft dienen will und sich deshalb gegen Den bisherigen Kurs der

einseitig auf die Stärkung der Unternehmermacht gerichteten Wirtschaftspolitik

richtet. Die Veröffentlichung des Reichsverbandes lautet:

Wie der Reichsverband der deutschen Industrie   mitteilt, hat der bisher bekanntgewordene Inhalt der bevorstehenden Notverord­nung in allen Kreisen der Industrie eine starte Enttäuschung und schmere Besorgnisse hervorgerufen. Man sieht in der Absicht, im Bege einer Krisensteuer eine neue direkte Belastung des Ein­fommens zu schaffen, einen überaus verhängnisvollen Entschluß, der sich dahin auswirken muß, daß zum Nachteil aller schaffenden Stände weitere Mittel der Kapitalbildung entzogen werden. Damit wird die Mutlosigkeit nur vergrößert und jeder Anjas zu einer allmählichen Befferung der Wirtschaftslage erneut gefährdet. Bei aller Würdigung der Schwierigkeiten in den öffentlichen Finans zen fann die Absicht der Regierung, eine neue Bejteuerung des Einkommens einzuführen, insbesondere deshalb nicht verstanden merden, weil die Regierung wiederholt und in programmatischer Form selbst erklärt hat, daß sie jede neue steuerliche Belastung für einen schweren Fehler hält.

Die Erklärung des Reichsarbeitsministers, daß er nicht in der Lage sei, die staatlichen Schlichtungsin­ffanzen für weitere allgemeine Lohnfenfungen zur Verfügung zu stellen, wird in der Industrie dahin verstanden, daß der Arbeits­minister selbst von der Ueberflüffigkeit dieser Schlichtungs­instanzen überzeugt ist. Auch in Deutschland   werden die Löhne und Preise trotz aller politischen Hemmungen ganz von felbft auf das Niveau sinken, das wirtschaftlich tragbar ist, wenn erst einmal die Tarifverträge von dem politischen Zwange befreit werden, so daß wieder wie früher Arbeitsverträge unter der aus­fchließlichen Verantwortung der Bertragschließenden zustande fon­

men fönnen."

Die Berufung auf die Kapitalbildung ist allmählich zum Hohn geworden. Dahinter verbergen sich die sozialreaktionären Absichten des Unternehmertums, sie ist die Proklamation des Klaffenkampjes von oben. Die Stellungnahme gegen die sogenannte Krisensteuer ist schamlos. Diese Steuer wird zum größten Teil von Lohn und Gehaltsempfängern getragen werden, nicht von den Besitzenden in Deutschland  . Das Opfer, das dem Besitz durch diese Krisensteuer zugemutet wird, ist lächerlich gering! Aber der Reichsverband als Vertreter des industriellen Befiges will die Gesamtlast der deutschen   Not auf die Schultern des arbeitenden Boltes legen, er will auch nicht einen einzigen geringfügigen Teii der Last auf die eigenen Schultern nehmen. Straffer ist noch niemals der Befigegoismus zutage getreten!

Die höhnischen Worte gegen den Reichsarbeitsminister faffen bie 2bficht erkennen, die Politik des Lohndruds fortzufezen nicht

nur gegen die wirtschaftliche Vernunft, sondern auch gegen das Tarifrecht. Sie find nicht mehr und nicht weniger als die Ver. fündung der Absicht des Rechtsbruchs und eines bevorstehenden Berfuchs des Unternehmertums,

auf die Schlichtungsordnung zu pfeifen

und unter Bruch des Tarifrechts der Arbeiterschaft den 11nter nehmerwillen zu diftieren. Wenn Reichsarbeitsminister Stegerwald nicht die Schlichtungsinstanzen in den Dienst einer zweiten Lohn abbaumelle stellen will, so wollen die Unternehmer einen Butsch gegen das Arbeitsrecht unternehmen.

Taktif und Disziplin.

Der zweite Verhandlungstag des Parteitags. St. Leipzig, 2. Juni.  ( Eigenbericht.)

An die Aufnahmefähigkeit seiner Teilnehmer stellt dieser Parteitag starke Anforderungen. Den spannungsreichen Verhandlungen des Montag folgte am Dienstag eine fast fünfftündige Vormittagssigung, die mit dem Referat Breit scheids über den Kampf gegen den Faschismus und dem Bericht Sollmanns über die Tätigkeit der Reichstagsfraktion ausgefüllt war.

Wenn während dieser langen Sizungszeit nicht die ge­ringste llnruhe entstand und die Tische des Erfrischungs. raumes nebenan ziemlich unbesetzt blieben, so spricht das am besten für die rednerische Meisterschaft, mit der die beiden Referenten ihre Aufgabe erledigten. Auch die Zeitungen, von denen die Tische belegt waren, blieben so gut wie unberührt. Hier ist das Signal, das der Arbeiterschaft deutlich zeigt, was Nur ein Berliner   Sensationsblatt, das in dicken Lettern von ihr unter der Herrschaft des Faschismus in Deutschland   bevorstehen Stürme auf dem Parteitag" berichtete, ging von würde. Als Tarnow   auf dem Parteitag der Sozialdemokratie Hand zu Hand. Solche Sensationsmache im Interesse des das Drängen der sächsischen Industriellen auf eine neue Lohnabbau- Straßenverkaufs hat weder mit einer ernsten Berichterstattung offensive brandmarkte als Sabotage an der Wirtschaft noch mit Politif etwas zu tun. und als bemußte soziale und politische Provokation von höchster Gemeingefährlichkeit, hat er bereits die treffenden Worte zur Kennzeichnung dieser Kundgebung des Reichsverbandes gefunden.

Länderminister bei Brüning.

3nformation über die Notverordnung.

Reichstanzier Dr. Brüning empfing heute im Beisein der zu­ständigen Reichsminister und des Reichsbankpräsidenten in der Reichskanzlei die Staats- und Ministerpräsidenten der deutschen  Länder zu eingehender Aussprache über die von der Reichsregierung in Aussicht genommenen Sanierungsmaßnahmen. Die Aussprache diente lediglich der Orientierung, Beschlüsse murden nicht gefaßt..

Allgemeines Volfsopfer gefordert.

Die Bundesleitung des Deutschen Beamtenbundes nahm am Dienstag, dem 2. Juni, den Bericht ihrer Vertreter über die Aus­fprache beim Reichskanzler entgegen. Sie erblickt, wie der Deutsche Beamtenbund mitteilt, nach wie vor in einem all gemeinen Boltsopfer eine gerechte Lösung, wozu jeder nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beitragen soll. Sie erwartet, daß die Reichsregierung auf dieser Grundlage ihre endgültigen Entscheidungen trifft.

Elendsbild aus Thüringen  .

Aufruf zur öffentlichen Sammlung.

Weimar  , 2. Juni.

Bezeichnung Simmersbergspende" eine Sammlung für die in Der Landrat des Kreises Hildburghausen   hat unter der bitterster Not lebende Bevölkerung der Gemeinden Schnett  , Heubach   und Fehrenbach   im Thüringer Wald   eingeleitet. 6000 Menschen müssen dort Entbehrungen schlimmster Art, buchstäblich Hunger leiden und die seelische Qual der Hoff­nungslosigkeit und Aussichtslosigkeit ihrer Lage erbufben. Jn Schnelt haben von 297 vorhandenen Haushaltungen nur noch 59 eigenes Einkommen, 388 oder 80.1 Proz.(!) der Haus­haltungen leben von Miffeln irgendwelcher Unterstützungen, die die erwerbslosen Familienmitglieder beziehen. Die Wohlfahrtserwerbslosen von Schnett   liegen durchschnitt lich schon zwei und noch mehr Jahre auf der Straße, ohne die Aus­ficht zu haben, jemals irgendwo auf dem Thüringer Wald   wieder Arbeit finden zu können. Bier Fünftel der Bevölkerung leben in fümmerlichen Berhältnissen; im Durchschnitt muß sich eine vier töpfige Familie von fnapp 34 Mr. Monatslohn ernähren und fleiden. Mehr als 76 Proz. der Kinder haben nur abgetragene oder geschenkte Sachen. Nur rund 30 Proz. der Kinder schlafen allein in einem Bett, über 70 Broz. schlafen zu zweit, dritt und mehr. Aerztliche Untersuchung der Schuljugend ergab im Borjahr, daß 33 Proz. der Kinder tuberkulös gefährdet, 17 Proz. hoch­gradig schwächlich und über 55 Proz. start untergewichtig find. auch in eubach ist der Gesundheitszustand der Kinder fata­strophal. An einem Tage wurde festgestellt, daß 24 Proz. der Kinder ohne Morgenimbiß und ohne Frühstücksbrote in die Schule ge­kommen waren. In Fehrenbach leben annähernd 200 der 254 Haus­haltungen von Unterstügungen. Auch hier sind über 31 Proz. der Schulkinder tuberkulös gefährdet, mehr als 29. Proz. in Behandlung megen Wirbelsäulenfrümmung. Hochgradig schwächlich sind 13,4, fehr unterernährt und daher speisungsbedürftig mehr als 41 Broz. der Kinder. Die Schlafverhältnisse sind die schlechtesten und über treffen die schon bei den anderen Gemeinden jeder Hygiene Hohn sprechenden Zustände noch bei meitem. Das ist ein Bild der höchften Rot, eher zu flüchtig und nüchtern gezeichnet.

Breitscheids groß angelegtes Referat wird politisch ge­kennzeichnet durch eine sehr scharfe Distanzierung von der Regierung Brüning und den bürgerlichen Reichstagsparteien. Es hat vollkommen flargemacht, daß die Haltung der Sozialdemokratie in feinem Augenblick bestimmt wird durch Hinneigung zu bürgerlichen Auffassungen und Plänen, sondern daß für sie ausschlaggebend ist die Absicht, dem Faschismus den Weg zur Macht zu verlegen. Daß Breitscheid   als ein Mittel zu diesem Zweck auch eine Reform des bestehenden Ver= hältnismahlrechts in Erwägung zieht, fand stürmische Beachtung.

Bon derselben Generallinie wie Breitscheid   ausgehend, erklärte und rechtfertigte Sollmann, mehr ins einzelne gehend, die Tätigkeit der Reichstagsfraktion. Mit den neun Disziplinbrechern rechnete er ab, maßvoll in der Form, scharf in der Sache. Der stürmische Beifall, mit dem die übergroße Mehrheit der Delegierten den Redner gerade bei dieser Stelle überschüttete, zeigt, wie der Parteitag ent­scheiden wird. Er wird das Verhalten der Neun mißbilligen und gegenüber der neuen Notverordnung der Fraktion die Entscheidung überlassen.

Zu Beginn der Nachmittagssigung nahm der Parteitag die Mitteilung entgegen, daß der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Jatobshagen gestern hier in Leipzig   mit Aplomb seinen Einzug in die KPD.   voll­zogen hat. Jakobshagen war bei den letzten Reichstags= Heimatkreis nicht mehr als kandidat aufgestellt wahlen wegen mangelnder geistiger und mora lischer Qualifitation Don feinem pfälzischen worden; er stand unmittelbar vor dem Ausschluß. Aus dieser Situation hat er sich durch einen Sprung ins fommunistische Lager gerettet...

Um in der Debatte Licht und Schatten gleichmäßig zu verteilen, beschließt der Parteitag, immer einen Redner für die Politik der Reichstagsfraktion und einen gegen sie reden zu laffen. Der Aufruf der 49 zum Wort Gemeldeten ergibt, daß eine Reihe sächsischer Delegierter, unter ihnen Toni Sender  , Arzt Dresden   und Liebmann- Leipzig  , für die Reichstagsfraktion sprechen wollen.

Seydemiß, der ein Gegenreferat bei 30 Minuten Redezeit hält, wird von der Galerie mit stürmischem Beifall begrüßt, während der Parteitag sich reserviert verhält. Das gleiche Bild wiederholt sich, als Seydewiz die Rednertribüne verläßt. Er nimmt für sich und seine Mit­angeklagten die ehrliche Ueberzeugung in Anspruch, die ihm niemand bestreitet. Aber seine Ueberzeugung auch auf den Parteitag zu übertragen, gelingt ihm nicht. Immerhin fann man von seiner Rede sagen, daß sie nicht verschärfend gewirkt hat.

Toni Sender  , die vor ihrer Abreise von Berlin   einen noch glücklich abgelaufenen Straßenbahnunfall erlitten hat, spricht mit verbundenem linkem Arm, aber mit unverminder­tem Temperament. Sie ermahnt aufs eindringlichste Re­gierung und bürgerliche Parteien, den Bogen nicht zu über­spannen.

Es folgt noch eine furze bunte Reihe. Der Rechtsanwalt Rosenfeld kreuzt die Klinge mit dem Staatsanwalt 50egner, aber der Staatsanwalt ist gar nicht staats­anwaltlich, redet nicht über Disziplinbruch, sondern warnt vor den Gefahren des Faschismus, mie er sie aus Bayern   fennt. Die beiden Berliner  , Künstler und Crispien, haben sich, der eine gegen, der andere für gemeldet und tauschen