Der Abend
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Nr. 274
B 137
48. Jahrgang
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Eine Konferenz jagt die andere
Der Reichskanzler empfängt um 12 Uhr die Vertreter der Gewerkschaften aller Richtungen zu einer gemeinsamen Besprechung über den Inhalt der Notverordnung bzw. die wirtschaftliche Lage Deutschlands . Von den freigewerkschaftlichen Organisationen nehmen Leipart, Graßmann und Aufhäuser an den Beratungen teil.
Eine furchtbare Schiffskatastrophe, die aller Vorausficht nach 300 bis 400 Menschen das Leben gekostet hat, hat sich am Sonntag nachmittag an der bretonischen Küste vor der Loiremündung ereignet. Ein kleiner Ausflugsdampfer, der am Sonntag morgen von Nantes aus mit etwa 500 Mitgliedern der Arbeiter. genossenschaften an Bord nach der vor der Loiremündung gelegenen Insel Noirmoutier gefahren war, ist auf dem Rückweg, etwa fünf Meilen von St. Nazaire entfernt, in einen Sturm geraten und gefentert. Man glaubt, daß die Passagiere, um sich vor dem Wind zu schützen, die Unvorsichtigkeit begangen haben, sich fämt lich nach der windgeschütten Seite des Dampfers zu be- Die Führer der Regierungsparteien werden um geben, so daß das kleine Schiff das Gleichgewicht verlor 4 1hr, die der Sozialdemokratie um 6 Uhr empfangen. und von einer Sturzwelle umgeworfen wurde. Die Um 3 Uhr nachmittags tagt der Vorstand der sozialdemoWärter eines nahegelegenen Leuchtturms waren Augen- kratischen Reichstagsfraktion. zeugen der Katastrophe. Sie alarmierten sofort die Hafenverwaltung von St. Nazaire , die zwei Dampfer an die Unglücksstelle entsandte. Infolge des hohen See gangs war das Rettungswerk sehr erschwert. Gegen Mitternacht kehrten die Rettungsdampfer mit nur acht leberlebenden( darunter zwei Desterreicher) und vier Leichen an Bord nach St. Nazaire zurück. Die genaue Zahl der Opfer läßt sich noch nicht feststellen, da ein Teil der Ausflügler auf der Insel zurückblieb und das Festland über einen Damm erreichen wollte, der bei Ebbe passierbar ist. Die Sinfahrt war bereits so bewegt, daß viele Personen frank wurden und daher auf die Rückreise zu Wasser verzichteten.
In einer Minute gesunken.
Nach den letzten Nachrichten aus Saint Nazaire hat das Schiffsunglüd in der Bucht von Bourgneuf etwa 350 Todesopfer gefordert. Erst später stellte es sich heraus, daß etwa 150 Ausflügler den Dampfer wegen des heraufziehenden Unwetters bereits in Pornic verlassen hatten, um mit der Eisenbahn nach Nantes zurückzukehren. Acht Personen fonnten aus dem Wasser gezogen werden. Vor der Ausfahrt hatte das Ausflugskomitee übrigens erklärt, daß die Gäste eine große Ueberraschung erwarte. Diese Voraussage hat sich nun in ganz unerwartet schrecklicher Weise erfüllt. Ein Geretteter berichtet, daß der Dampfer in einer minute gefunten fei. Durch das Hindrängen der vielen Menschen nach einer Seite habe er starte Schlagfeite erhalten und sei durch eine Sturzsee plötzlich gefentert. An Bord hätten sich im Augenblick des Unglücks unbeschreibliche Szenen abgespielt. Alles sei so schnell gegangen, daß taum Zeit gewesen sei, einen Gedanken zu fassen. Die marferschütternden Schreie der Ertrinkenden, darunter viele Frauen und Kinder, hätten den Sturm und das Brausen des Seeganges übertönt. Ein Opfer nach dem anderen sei vor seinen Augen versunken. Bon der franzöfifchen Westküste laufen Sturmberichte ein, die das Dampferunglüd verständlich machen. Der Ortan dauerte etwa 4 Stunden und richtete schweren Schaden an. Bei Dünkirchen wurde ein kraftwagen vom Sturm in den Kanal geschleudert, wobei die beiden Infaffen den Tod fanden. Ueber Granville ging ein finfflufarfiger Regen nieder, der die niedriger gelegenen Teile des Ortes vollkommen unter Waffer setzte.
Schilderung eines Geretteten.
Einer der Geretteten hat dem Berichterstatter des„ Matin" in St. Nazaire folgende Schilderung von der Katastrophe gegeben: ,, Ich war mit meiner Mutter, die leider auch ertrunken ist, an der Steuerbordseite geblieben. Plöglich sahen wir, wie sich das Schiff unter dem Gewicht der auf die Backbordseite geeilten Passagiere auf die Seite legte. Im gleichen Augenblid fam eine furchtbare Welle auf uns zu, die den Dampfer völlig zum Kentern brachte. Innerhalb einer Minute begann er mit dem Kiel nach oben in den Fluten zu versinken. Ich bemerkte im Wasser ein Ruder, an das ich mich festklammerte. Nicht weit von mir entfernt sah ich ein Rettungsboot des Dampfers, in dem bereits einige Passagiere Platz ge
nommen hatten. Ich machte übermenschliche Anstrengungen, um sie zu erreichen und wurde in das Boot gezogen. Die furchtbare See brachte das Boot aber zum Kentern. Zwei Infaffen ertranten. So gut es ging, flammerte ich mich an das fieloben treibende Boot feft, bis bie Rettungsdampfer erschienen. Um mir sah ich Männer,
Um 11 Uhr trat das Kabinett zu einer Sigung zusammen, in deren Verlauf der Reichskanzler die Minister über seine Verhandlungen mit den Partei führern informierte. Das Kabinett ist mit Brüning der Auffassung, daß Aenderungen an der Notverordnung vorgenommen werden sollen, jedoch erst im Oktober nach dem Wiederzusammentritt des Reichstages.
Der Reichskanzler ist am Sonntagabend von der Hildes heimer Tagung des Zentrums nach Berlin zurüdgefehrt. Er wird die am Sonnabend unterbrochenen Verhandlungen mit den Parteien wieder aufnehmen. Zunächst sind Einzelbesprechungen geplant. Dann soll eine Konferenz mit sämtlichen Regierungsparteien folgen, an die sich eine Besprechung mit Bertretern der Sozialdemokratie anschließen wird. An der Konferenz mit den Regierungsparteien werden auf Wunsch des Reichskanzlers der preußische Ministerpräsident Braun, Reichstagspräfident 2öbe und der Reichsbantpräsident Dr. Luther teilnehmen. Im Regierungslager ist man neuerdings überzeugt, daß eine Verständigung zwischen der Reichsregierung, den Regierungsparteien
Frauen und Kinder auf dem Wasser schwimmen, die so furchtbare Schreie ausstießen, daß das Braufen des Sturmes übertönt wurde. Einen nach dem anderen sahen wir in den Fluten verschwinden. nach meiner Ansicht sind etwa 350 Personen an Bord gewesen, da 100 bis 150 Personen auf der Insel zurückgeblieben sind."
Arbeiter fuhren in den Tod.
gungsdampfer St. Philbert" war am Sonntag vormittag von Zu der Katastrophe wird ergänzend berichtet: Der BergnüNantes aus mit 500 bis 600 Ausflüglern an Bord nach der Jufel Noirmoutier ausgelaufen. Die Mehrzahl der Passagiere bestand aus Mitgliedern eines Geselligkeitsvereins und des Geroffenschaftsverbandes des Departements Niederloire, d. h. also vornehm. lich aus Arbeitern der Stadt Nantes und des Coiregebietes. Nach einem mehrffündigen Aufenthalt auf der Infel begaben sich die Ausflügler um 15 Uhr zur Rüdfahrt an Bord. Die Unter wurden bei schönstem Wetter gelichtet. Doch erhob sich nach etwa einstündiger Fahrt ein heftiger Sturm, der von Minute zu Minute an Stärke zunahm. Der kleine Vergnügungsdampfer war dem Seegang nicht gewachsen und geriet sehr bald in eine äußerst frifische Lage. Vermutlich wurde das Unglüd noch dadurch beschleunigt, daß alle Passagiere nach Steuerseite drängten, um vor dem Unweffer Schutz zu suchen, wobei das Fahrzeug Schlagfeite erhielt. Eine Sturzfee, wie fie an der Westküste nicht selten ist, verstärkte das Uebergewicht und brachte die„ St. Philbert" mit Sefundenschnelligkeit zum Kentern.
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Die Leuchtturmmärter von Kap St. Gildas waren ohnmächtige 3eugen des Unglüds. Sie fonnten nichts anderes hun, als die Rettungsgesellschaft von St. Nazaire zu benachrichtigen, die jofort den Schlepper Bornic" zur Rettung der Schiffbrüchigen entsandte. Balo darauf lief auch der Lotsendampfer von St. Nazaire nach der unglücksstelle aus, doch erschien alle Hilfe infolge des hohen Seeganges von vornherein hoffnungslos. Um 23 Uhr fehrten die beiden Fahrzeuge in den Hafen zurück und bestätigten den furchtbaren Umfang der Katastrophe. Der Lotsendampfer hatte sieben Ueberliebende und eine Leiche an Bord, während der Schlepper einen
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und der Sozialdemokratie erzielt und die Einberufung des Reichstags zunächst vermieden werden kann. Man ist dieser Ueberzeugung nicht, weil man bereit wäre, die Notverordnung fofort in dem erforderlichen Maße zu ändern, sondern auf Grund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Lage. Der Optimismus, der von dem Reichskanzler und allen Reichsministern geteilt wird, stützt sich nicht zuletzt auf die offensichtlichen Bemühungen der Volkspartei, ihren Beschluß auf Einberufung des Reichstags möglichst schnell und ohne viel Aufsehen in sein Gegenteil zu verfehren. Eine Mitteilung von führender Seite der Deutschen Boltspartei in der Kölnischen Zeitung ", die am Sonntagabend auf Grund der Unterredung zwischen dem Reichskanzler und dem volksparteilichen Führer Dingelden während der Eisenbahnfahrt des Reichsfanglers nach Hildesheim der Deffentlichkeit übermittelt wurde und die auf Herrn Dingelden persönlich zurückzuführen sein dürfte, deutet die Möglichkeit einer Rückkehr der Voltspartei in das Regierungslager für heute bereits an. Natürlich nicht aus der Einsicht, daß der Beschluß der Volkspartei vom Donnerstag eine Dummheit war, sondern weil hinsichtlich der Aufrollung des Reparationsproblems, der Notverordnung und der geforderten Umbildung des Kabinetts zwischen dem Reichskanzler und Dingelden eine ,, Annäherung" zu erwarten sei. Die Volkspartei stellt also in Aussicht, daß Brüning ihr mindestens auf halbem Wege entgegenkommen wird, und dieses Entgegenkommen dürfte ihr einen neuen Umfall mert sein. Bom Zentrum wird erklärt, daß Brüning Herrn Dingelden bisher in feinem Punfte nachgegeben habe und auch nicht daran dente, seine Regierung gemäß dem Wunsche der Volkspartei nach rechts zu erweitern.
Brüning hat am Sonntag auf der Hildesheimer Tagung seine Unterredung mit Dingelden nur gestreift. In seinen Ausführungen legte er den Hauptwert auf eine Darstellung der Weltwirtschaftslage und eine Betrachtung über die wirtschaftliche Situation Deutsch lands . Der Verlauf der anschließenden Debatte ließ keinen Zweifel darüber, daß die künftige Politit des Zentrums mindestens bis auf
Ueberlebenden, den österreichischen Staatsangehörigen Jellinet, und drei Frauenleichen geborgen hatte. Alle übrigen Fahrgäste des Unglücsdampfers müssen in den Wellen den Tad gefunden haben. Die Ueberlebenden waren zum größten Teil bewußtlos und viel zu erschöpft, um einen Augenzeugenbericht geben zu können. Die Unglücksbotschaft rief in Nantes , von wo die Mehrzahl der Verunglückten stammt, eine unbeschreibliche Erregung hervor. Der Präfekt und der Bürgermeister begaben sich sofort an Bord eines Rutters, um den Ort der Katastrophe zu besichtigen. Der Präsident des Genossenschaftsverbandes, dessen Mitglieder auf dem Ausflug den Tod fanden, Borsitzender des Internationalen Arbeitsamtes, Albert Thomas , wurde benachrichtigt und hat von Genf aus seinem tiefen Mitgefühl Ausdruck verliehen. Die genaue Zahl der Opfer festzustellen und die Ursache der Katastrophe zu flären wird erst am heutigen Montag möglich sein.
Ueberbelastung des Dampfers?
Man hält es für wahrscheinlich, daß der 189 t große Dampfer überbelastet war. Wie einige Frühblätter zu melden wissen, sollen viele Frauen und Kinder an dem verhängnisvollen Ausfämpfenden Dampfer von der Mündung der Loire aus beobachtet flug teilgenommen haben. Augenzeugen, die den mit dem Sturm haben, erklären übereinstimmend, daß die St. Philbert" schon eine ganze Stunde vor dem Sinten starke Schlagfeite nach Steuerbord hatte. Da die Katastrophe nur fünf Meilen von der Küste entfernt eintrat, fonnte das plötzliche Sinfen des Fahrzeuges deutlich wahrgenommen werden. Im Gegensatz zu anderen Nachrichten heißt es, daß der Schiffstörper noch zwei Stunden aus den Wellen emporragte und von Sturzseen überspült wurde. Diese Beobachtung, läßt die Schlußfolgerung zu, daß der Dampfer auf ein Riff oder eine Sandbank aufgelaufen sein muß. Die Passagiere sprangen zum größten Teil über Bord oder wurden von den Wellen mitgerissen. Erst um 18,30 Uhr habe man nichts mehr von dem Brack gesehen und auch die noch mit dem Seegang fämpfenden Schiffbrüchigen aus den Augen verloren. Als der erste Rettungsdampfer an der Unglücksstelle erschienen sei, habe er nicht mehr viel auss richten können. Die See sei in weitem Umkreis mit Leichen und Trümmern bedeckt gewesen.