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BERLIN  Montag 15. Juni 1931

Der Abend

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48. Jahrgang

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Schiffsfatastrophe in Frankreich  

400 Konsumgenossenschaftler ertrunken

Paris  , 15. Juni.  ( Eigenbericht.)

Arbeiterführer bei Brüning  

Eine Konferenz jagt die andere

Der Reichskanzler empfängt um 12 Uhr die Vertreter der Gewerkschaften aller Richtungen zu einer gemeinsamen Besprechung über den Inhalt der Not­verordnung bzw. die wirtschaftliche Lage Deutschlands  . Von den freigewerkschaftlichen Organisationen nehmen Leipart, Graßmann und Aufhäuser an den Beratungen teil.

Eine furchtbare Schiffskatastrophe, die aller Voraus­ficht nach 300 bis 400 Menschen das Leben gekostet hat, hat sich am Sonntag nachmittag an der bretonischen Küste vor der Loiremündung ereignet. Ein kleiner Ausflugsdampfer, der am Sonntag morgen von Nantes   aus mit etwa 500 Mitgliedern der Arbeiter. genossenschaften an Bord nach der vor der Loiremündung gelegenen Insel Noirmoutier   gefahren war, ist auf dem Rückweg, etwa fünf Meilen von St. Nazaire   entfernt, in einen Sturm geraten und gefentert. Man glaubt, daß die Passagiere, um sich vor dem Wind zu schützen, die Unvorsichtigkeit begangen haben, sich fämt lich nach der windgeschütten Seite des Dampfers zu be- Die Führer der Regierungsparteien werden um geben, so daß das kleine Schiff das Gleichgewicht verlor 4 1hr, die der Sozialdemokratie um 6 Uhr empfangen. und von einer Sturzwelle umgeworfen wurde. Die Um 3 Uhr nachmittags tagt der Vorstand der sozialdemo­Wärter eines nahegelegenen Leuchtturms waren Augen- kratischen Reichstagsfraktion. zeugen der Katastrophe. Sie alarmierten sofort die Hafenverwaltung von St. Nazaire  , die zwei Dampfer an die Unglücksstelle entsandte. Infolge des hohen See gangs war das Rettungswerk sehr erschwert. Gegen Mitternacht kehrten die Rettungsdampfer mit nur acht leberlebenden( darunter zwei Desterreicher) und vier Leichen an Bord nach St. Nazaire   zurück. Die ge­naue Zahl der Opfer läßt sich noch nicht feststellen, da ein Teil der Ausflügler auf der Insel zurückblieb und das Festland über einen Damm erreichen wollte, der bei Ebbe passierbar ist. Die Sinfahrt war bereits so be­wegt, daß viele Personen frank wurden und daher auf die Rückreise zu Wasser verzichteten.

In einer Minute gesunken.

Nach den letzten Nachrichten aus Saint Nazaire   hat das Schiffs­unglüd in der Bucht von Bourgneuf etwa 350 Todesopfer gefordert. Erst später stellte es sich heraus, daß etwa 150 Ausflügler den Dampfer wegen des heraufziehenden Unwetters bereits in Pornic   verlassen hatten, um mit der Eisenbahn nach Nantes   zurückzukehren. Acht Personen fonnten aus dem Wasser gezogen werden. Vor der Ausfahrt hatte das Ausflugskomitee übrigens erklärt, daß die Gäste eine große Ueberraschung erwarte. Diese Voraussage hat sich nun in ganz unerwartet schrecklicher Weise erfüllt. Ein Geretteter be­richtet, daß der Dampfer in einer minute gefunten fei. Durch das Hindrängen der vielen Menschen nach einer Seite habe er starte Schlagfeite erhalten und sei durch eine Sturzsee plötzlich gefentert. An Bord hätten sich im Augenblick des Unglücks unbeschreibliche Szenen abgespielt. Alles sei so schnell gegangen, daß taum Zeit gewesen sei, einen Gedanken zu fassen. Die marf­erschütternden Schreie der Ertrinkenden, darunter viele Frauen und Kinder, hätten den Sturm und das Brausen des Seeganges über­tönt. Ein Opfer nach dem anderen sei vor seinen Augen versunken. Bon der franzöfifchen Westküste laufen Sturmberichte ein, die das Dampferunglüd verständlich machen. Der Ortan dauerte etwa 4 Stunden und richtete schweren Schaden an. Bei Dünkirchen   wurde ein kraftwagen vom Sturm in den Kanal geschleudert, wobei die beiden Infaffen den Tod fanden. Ueber Granville ging ein finfflufarfiger Regen nieder, der die niedriger gelegenen Teile des Ortes vollkommen unter Waffer setzte.

Schilderung eines Geretteten.

Einer der Geretteten hat dem Berichterstatter des Matin" in St. Nazaire   folgende Schilderung von der Katastrophe gegeben: ,, Ich war mit meiner Mutter, die leider auch ertrunken ist, an der Steuerbordseite geblieben. Plöglich sahen wir, wie sich das Schiff unter dem Gewicht der auf die Backbordseite geeilten Passagiere auf die Seite legte. Im gleichen Augenblid fam eine furchtbare Welle auf uns zu, die den Dampfer völlig zum Kentern brachte. Inner­halb einer Minute begann er mit dem Kiel nach oben in den Fluten zu versinken. Ich bemerkte im Wasser ein Ruder, an das ich mich festklammerte. Nicht weit von mir entfernt sah ich ein Rettungs­boot des Dampfers, in dem bereits einige Passagiere Platz ge­

nommen hatten. Ich machte übermenschliche Anstrengungen, um sie zu erreichen und wurde in das Boot gezogen. Die furchtbare See brachte das Boot aber zum Kentern. Zwei Infaffen ertranten. So gut es ging, flammerte ich mich an das fieloben treibende Boot feft, bis bie Rettungsdampfer erschienen. Um mir sah ich Männer,

Um 11 Uhr trat das Kabinett zu einer Sigung zusammen, in deren Verlauf der Reichskanzler die Minister über seine Verhandlungen mit den Partei führern informierte. Das Kabinett ist mit Brüning   der Auffassung, daß Aenderungen an der Notverord­nung vorgenommen werden sollen, jedoch erst im Oktober nach dem Wiederzusammentritt des Reichs­tages.

Der Reichskanzler ist am Sonntagabend von der Hildes heimer Tagung des Zentrums nach Berlin   zurüdgefehrt. Er wird die am Sonnabend unterbrochenen Verhandlungen mit den Parteien wieder aufnehmen. Zunächst sind Einzelbesprechungen geplant. Dann soll eine Konferenz mit sämtlichen Regierungs­parteien folgen, an die sich eine Besprechung mit Bertretern der Sozialdemokratie anschließen wird. An der Konferenz mit den Re­gierungsparteien werden auf Wunsch des Reichskanzlers der preu­ßische Ministerpräsident Braun, Reichstagspräfident 2öbe und der Reichsbantpräsident Dr. Luther teilnehmen. Im Regierungslager ist man neuerdings überzeugt, daß eine Verständigung zwischen der Reichsregierung, den Regierungsparteien

Frauen und Kinder auf dem Wasser schwimmen, die so furchtbare Schreie ausstießen, daß das Braufen des Sturmes übertönt wurde. Einen nach dem anderen sahen wir in den Fluten verschwinden. nach meiner Ansicht sind etwa 350 Personen an Bord gewesen, da 100 bis 150 Personen auf der Insel zurückgeblieben sind."

Arbeiter fuhren in den Tod.

Paris  , 15. Juni.

gungsdampfer St. Philbert" war am Sonntag vormittag von Zu der Katastrophe wird ergänzend berichtet: Der Bergnü­Nantes aus mit 500 bis 600 Ausflüglern an Bord nach der Jufel Noirmoutier   ausgelaufen. Die Mehrzahl der Passagiere be­stand aus Mitgliedern eines Geselligkeitsvereins und des Geroffen­schaftsverbandes des Departements Niederloire, d. h. also vornehm. lich aus Arbeitern der Stadt Nantes   und des Coire­gebietes. Nach einem mehrffündigen Aufenthalt auf der Infel begaben sich die Ausflügler um 15 Uhr zur Rüdfahrt an Bord. Die Unter wurden bei schönstem Wetter gelichtet. Doch erhob sich nach etwa einstündiger Fahrt ein heftiger Sturm, der von Minute zu Minute an Stärke zunahm. Der kleine Vergnügungsdampfer war dem Seegang nicht gewachsen und geriet sehr bald in eine äußerst frifische Lage. Vermutlich wurde das Unglüd noch dadurch be­schleunigt, daß alle Passagiere nach Steuerseite drängten, um vor dem Unweffer Schutz zu suchen, wobei das Fahrzeug Schlagfeite erhielt. Eine Sturzfee, wie fie an der Westküste nicht selten ist, verstärkte das Uebergewicht und brachte die St. Philbert" mit Sefundenschnelligkeit zum Kentern.

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Die Leuchtturmmärter von Kap St. Gildas waren ohnmächtige 3eugen des Unglüds. Sie fonnten nichts anderes hun, als die Rettungsgesellschaft von St. Nazaire   zu benachrichtigen, die jofort den Schlepper Bornic" zur Rettung der Schiffbrüchigen entsandte. Balo darauf lief auch der Lotsendampfer von St. Nazaire   nach der unglücksstelle aus, doch erschien alle Hilfe infolge des hohen See­ganges von vornherein hoffnungslos. Um 23 Uhr fehrten die beiden Fahrzeuge in den Hafen zurück und bestätigten den furchtbaren Um­fang der Katastrophe. Der Lotsendampfer hatte sieben Ueber­liebende und eine Leiche an Bord, während der Schlepper einen

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und der Sozialdemokratie erzielt und die Einberufung des Reichs­tags zunächst vermieden werden kann. Man ist dieser Ueberzeugung nicht, weil man bereit wäre, die Notverordnung fofort in dem erforderlichen Maße zu ändern, sondern auf Grund der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Lage. Der Optimismus, der von dem Reichskanzler und allen Reichsministern geteilt wird, stützt sich nicht zuletzt auf die offensichtlichen Bemühungen der Volkspartei, ihren Beschluß auf Einberufung des Reichstags möglichst schnell und ohne viel Aufsehen in sein Gegenteil zu verfehren. Eine Mitteilung von führender Seite der Deutschen Boltspartei in der Kölnischen Zeitung  ", die am Sonntagabend auf Grund der Unterredung zwischen dem Reichskanzler und dem volksparteilichen Führer Dingelden während der Eisenbahnfahrt des Reichs­fanglers nach Hildesheim   der Deffentlichkeit übermittelt wurde und die auf Herrn Dingelden persönlich zurückzuführen sein dürfte, deutet die Möglichkeit einer Rückkehr der Voltspartei in das Regierungslager für heute bereits an. Natürlich nicht aus der Einsicht, daß der Beschluß der Volkspartei vom Donnerstag eine Dummheit war, sondern weil hinsichtlich der Aufrollung des Reparationsproblems, der Notverordnung und der geforderten Um­bildung des Kabinetts zwischen dem Reichskanzler und Dingelden eine ,, Annäherung" zu erwarten sei. Die Volkspartei stellt also in Aussicht, daß Brüning   ihr mindestens auf halbem Wege ent­gegenkommen wird, und dieses Entgegenkommen dürfte ihr einen neuen Umfall mert sein. Bom Zentrum wird erklärt, daß Brüning Herrn Dingelden bisher in feinem Punfte nachgegeben habe und auch nicht daran dente, seine Regierung gemäß dem Wunsche der Volkspartei nach rechts zu erweitern.

Brüning hat am Sonntag auf der Hildesheimer   Tagung seine Unterredung mit Dingelden nur gestreift. In seinen Ausführungen legte er den Hauptwert auf eine Darstellung der Weltwirtschafts­lage und eine Betrachtung über die wirtschaftliche Situation Deutsch­ lands  . Der Verlauf der anschließenden Debatte ließ keinen Zweifel darüber, daß die künftige Politit des Zentrums mindestens bis auf

Ueberlebenden, den österreichischen Staatsangehörigen Jel­linet, und drei Frauenleichen geborgen hatte. Alle üb­rigen Fahrgäste des Unglücsdampfers müssen in den Wellen den Tad gefunden haben. Die Ueberlebenden waren zum größten Teil bewußtlos und viel zu erschöpft, um einen Augenzeugenbericht geben zu können. Die Unglücksbotschaft rief in Nantes  , von wo die Mehr­zahl der Verunglückten stammt, eine unbeschreibliche Erregung hervor. Der Präfekt und der Bürgermeister begaben sich sofort an Bord eines Rutters, um den Ort der Katastrophe zu besichtigen. Der Präsident des Genossenschaftsverbandes, dessen Mitglieder auf dem Ausflug den Tod fanden, Borsitzender des Internationalen Arbeitsamtes, Albert Thomas  , wurde benachrichtigt und hat von Genf   aus seinem tiefen Mitgefühl Ausdruck verliehen. Die genaue Zahl der Opfer festzustellen und die Ursache der Katastrophe zu flären wird erst am heutigen Montag möglich sein.

Ueberbelastung des Dampfers?

Man hält es für wahrscheinlich, daß der 189 t große Dampfer überbelastet war. Wie einige Frühblätter zu melden wissen, sollen viele Frauen und Kinder an dem verhängnisvollen Aus­fämpfenden Dampfer von der Mündung der Loire   aus beobachtet flug teilgenommen haben. Augenzeugen, die den mit dem Sturm haben, erklären übereinstimmend, daß die St. Philbert" schon eine ganze Stunde vor dem Sinten starke Schlagfeite nach Steuerbord hatte. Da die Katastrophe nur fünf Meilen von der Küste entfernt eintrat, fonnte das plötzliche Sinfen des Fahrzeuges deutlich wahr­genommen werden. Im Gegensatz zu anderen Nachrichten heißt es, daß der Schiffstörper noch zwei Stunden aus den Wellen empor­ragte und von Sturzseen überspült wurde. Diese Beobachtung, läßt die Schlußfolgerung zu, daß der Dampfer auf ein Riff oder eine Sandbank aufgelaufen sein muß. Die Passagiere sprangen zum größten Teil über Bord oder wurden von den Wellen mit­gerissen. Erst um 18,30 Uhr habe man nichts mehr von dem Brack gesehen und auch die noch mit dem Seegang fämpfenden Schiff­brüchigen aus den Augen verloren. Als der erste Rettungsdampfer an der Unglücksstelle erschienen sei, habe er nicht mehr viel auss richten können. Die See sei in weitem Umkreis mit Leichen und Trümmern bedeckt gewesen.