Morgenausgabe
Nr. 277
A 140
48.Jahrgang
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Vorwärts
Berliner Bolksblatt
Mittwoch
17. Juni 1931
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Brüning lenkt ein- feine Krise!
Ein Anfangserfolg im Kampf um die Notverordnung!
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion nahm in ihrer Haushaltsausschusses des Reichstags zuzustim| schwer verstimmt. Es machte geradezu den Eindruck, als ob geftrigen Nachmittagssigung das Ergebnis der inzwischen mit men und an seinen Arbeiten mitzuwirken." Brüning geführten Verhandlungen zur Kenntnis und setzte dann die Debatte fort.
Die endgültige Entscheidung rückte immer näher, als der Reichskanzler die Abgeordneten Wels und Breitscheid wiffen ließ, daß er zu einer weiteren Konzession be reit sei. Er ließ erklären, daß er in naher Zeit über die ,, notwendigen Aenderungen" der Notverordnung verhandeln wolle und dann auch mit der Einberufung des Haushaltsausschusses einverstanden sei. In Anbetracht der Zusagen des Reichskanzlers sah sich die sozialdemokratische Fraktion im legten Stadium der Verhandlungen vor eine neue Situation gestellt. Die große Mehrheit beschloß unter den obwaltenden Umständen, das Angebot der Reichsregierung anzunehmen und der Einberufung des Haushaltsausschusses nicht zuzustimmen.
Um 18 Uhr trat der Weltestenrat wieder zusam men. In der Zwischenzeit hatten die Rechts- und Links radikalen beschlossen, ihre Taktik vom Vormittag zu ändern und für die Einberufung des Haushaltsausschusses zu stimmen. Sie waren zu diesem Entschluß gekommen, nachdem der Staatssekretär der Reichskanzlei in der Mittagssigung des Aeltestenrats ohne zwingenden Grund erklärt hatte, daß die Regierung auch für den Fall der Einberufung des Haushaltsausschusses zurücktreten werde. Unter Bezugnahme auf diese Erklärung stellte der Kommunist Torgler in der Sizung des Aeltestenrats den Antrag auf Einberiffung des Haushaltsausschusses. Nicht, wie er erflärte, weil die Kommunisten die„ Illusion" haben, daß in diesem Ausschuß an der Notverordnung irgend etwas geändert würde, sondern um auf diesem Wege den Sturz der Regierung zu erreichen. Die Deutschnationalen und Nationalsozialisten schlossen sich der Erklärung ihrer Wegbereiter an. Die Abstimmung ergab, daß nur die Links- und Rechtsradikalen für die Einberufung des Haushaltsausschusses waren. Alle anderen Frattionen stimmten dagegen.
So hat die zugespitzte innen- und außenpolitische Lage Deutschlands im letzten Augenblid eine Entspannung
Der wirkliche Kampf mit wirksamen Mitteln gegen die unsozialen Härten der Notverordnung vom 5. Juni ist hier als Programm der Sozialdemokratischen Partei verkündet worden. Diesen Kampf hat die Reichstagsfraktion am gestrigen Tage mit Energie und Konsequenz geführt. Sie hat dabei einen Erfolg davongetragen.
die Regierung überhaupt keine Berständigung wolle, sondern den Konflikt und ihre eigene Demission. Dieses Bild hat sich jedoch im Laufe des gestrigen Tages start verändert. Die Regierung zeigte sich zu fachlichen 3ugeständnissen auffozialpolitischem Gebiet geneigt, die nicht unbeträchtlich waren. Sie erklärte sich auch bereit, in einem nicht fernen Zeitpunkt an der Beratung der Notverordnung im
Haushaltsausschuß mitzuwirken. Damit war der VerhandFraktion zog hieraus die Konsequenz, indem sie auf den solungsweg geöffnet, war eine neue Sachlage eingetreten. Die
Auch das ist hier schon gesagt worden: Nur gemeine Bolksbetrüger fönnen so tun, als fönnten sie die Notlage, aus der die Notverordnung entstanden ist, und die harten Not- fortigen Zusammentritt des Ausschusses verzichtete. wendigkeiten, die sich aus ihr ergeben, durch irgendwelche Beschlüsse einfach wegpusten. Wir werden uns also wohl hüten, den Erfolg, den die Fraktion gestern errungen hat, als einen alles wendenden Sieg hinzustellen. Wir sind damit einverstanden, wenn man diesen Erfolg im Verhältnis zu dem Erstrebenswerten als recht bescheiden bezeichnet. Auf der anderen Seite muß aber doch gesagt werden, daß erstens das gestern Erreichte ein Optimum darstellt, wie es unter entsetzlich schmierigen Umständen eben noch erreicht werden fonnte, und daß zweitens für weitere Kämpfe um die Berbefferung der Notverordnung eine günstige Ausgangsstellung gewonnen worden ist.
Der Fraktionsvorstand hatte am Montag beschlossen, die Einberufung des Haushaltsausschusses vorzuschlagen, und die Reichstagsfraktion hatte sich gestern mittag diesem Vorschlag angeschlossen. Indem sie die Einberufung des Reichstagsplenums abgelehnt hatte, hatte sie doch schon deutlich genug zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht auf Krach und Krise ausging, nicht auf Klamaut und Kladderabatsch, sondern daß sie einen praktischen Weg suchte, um praktische Verbesserungen der Notverordnung herbeizuführen.
Daß die Regierung sich zunächst weigerte, diese Brücke zu betreten, wurde von der Fraktion nicht verstanden und hat sie
Beschluß der Funktionäre.
Mit diesem Beschluß der Reichstagsfraktion war das Drama des gestrigen Tages eigentlich beendet. Es folgte nur noch das Satyrspiel der zweiten Sigung des Aeltestenrats, in der sich Deutschnationale, Kommunisten und Nationalsozialisten plötzlich für die Einberufung des Haushaltsausschusses begeisterten. Mit schöner Offenheit erklärten sie, daß sie an eine Berbefferung der Notverordnung gar nicht dächten, sondern daß es ihnen nur darauf ankomme, den Sturz der Regierung Brüning herbeizuführen. Sie glaubten, die Mitwirkung der Sozialdemokratie an diesem Werke zweds schnellster Herbeiführung der Faschistenherrschaft in Deutsch land sei sicher. Wer beschreibt die Länge ihrer Gesichter, als sie sich auf einmal von der Sozialdemokratie vetlaffen fanden! Ja, die werden heute nicht schlecht über„ Berrat" schimpfen! als ob die Sozialdemokratie ihnen jemals versprochen hätte, fie in ihren Bürgerkriegsplänen zu unterstützen!
Die Sozialdemokratie hat mit dem schweren Verhand lungskampf des gestrigen Tages den Bürgerkriegspolitikern keinen Dienst, dem arbeitenden Volk jedoch einen desto besseren Dienst erwiesen. Man macht sich keiner Uebertreibung schuldig mit der Feststellung, daß Deutschland sich gestern am Rande einer Wirtschaftstatastrophe be fand und daß die Lage auch jetzt noch in sehr hohem Maße tritisch bleibt. Die Reichsbant mußte gestern und vor= gestern erneut 130 Millionen Devisen beschaffen. So start blieben während diefer Tage trotz der Diskonterhöhung die ausländischen Kreditkündigungen. Rund 1 Milliarde
erfahren. Jetzt liegt es bei der Regierung Brüning, ihr Wort Appell an die klassenbewußte, disziplinierte Arbeiterschaft. Mart Devisen hat die Reichsbank seit dem 1. Juni verloren.
schnellstens einzulösen.
Der am Dienstag von der sozialdemokratisch e it Reichstagsfraktion mit großer Mehrheit gefaßte Beschluß hat folgenden Wortlaut:
Nachdem die Regierung sich zur alsbaldigen Aufnahme von Verhandlungen zur Aende. rung der Notverordnung bereiterklärt hat, nimmt die sozialdemokratische Fraktion von der Ein: berufung des Haushaltsausschusses angesichts der bedrohlichen Finanz- und Wirtschaftslage im gegenwärtigen Zeitpunkt Abstand."
Das Büro der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gibt zu dem Beschluß noch folgendes bekannt: Die fozialdemokratische Reichstagsfraktion war am Dienstag den ganzen Tag über im Reichstag versammelt, um zu den Anträgen auf Einberufung des Reichstags Stellung zu nehmen. 3 unächst wurde beschlossen, die Einberufung des Haushaltsausschusses des Reichstags zu verlangen, um dort die Möglichkeiten der Verbesserung der Notverordnung zu prüfen. Nach der ersten Sitzung des Aeltestenrais um 12 Uhr gab der Reichskanzler den Vertretern der sozialdemokratischen Frattion Erklärungen zur Notverordnung ab, aus denen hervor ging, daß die Reichsregierung bereit ist, bei den Ausführungsbestimmungen für die Milderung von Härten Sorge zu tragen. Von entscheidender Bedeutung für die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion war eine meitere Erklärung des Reichsfanzlers, er fei bereit, unter der Boraussetzung, daß das finanzielle Gesamt ergebnis nicht gefährdet merde, die Verhandlungen mit der sozialdemokratischen Fraktion fortzusehen. Er sei auch gewillt, im gegebenen Zeitpunkt der Einberufung des
Am Schluß der gestrigen Berliner Funktionärver jamnríung wurde nach einem Referat Aufhäusers, über das wir an anderer Stelle berichten, folgende Resolution mit sehr starker Mehrheit angenommen:
Die Funffionärversammlung der Sozialdemokratie Groß- Berlin sieht in der Netverordnung vom 5. Juni einen unerhörten Angriff auf die Lebenshaltung aller Schichten des arbeitenden Boltes. Einer völlig einseitigen steuerlichen Belaffung der Cohnund Gehaltsempfänger und der Verbraucher fiehen der brutale Abbau der Erwerbslosenunterstüßung, der Kriegsbeschädigtenrenten, der Beamtengehälter und der Wohlfahrtspflege gegenüber, lediglich die hohen Pensionen bleiben gefchont. Der Sohn abbau der Arbeit nehmer in den öffentlichen Betrieben wird durch Eingriff in die Tarifverträge erzwungen, das Arbeitsrecht durch Einführung fozialer Härten und Ungerechtigkeiten ist in diefer Notverordnung einer Arbeitsdienstpflicht aufgehoben. Die schlimmste Häufung verbunden mit Subventionen und Liebesgaben an Industrie und Landwirtschaft.
Die Nolverordnung bringt teine Sanierung der Gemeinden und der Sozialversicherung, fie bringt vielmehr eine allgemeine weitgehende Schwächung der kauftraft der breiten Maffen; sie verschärft damit die Wirtschaftskrise und Maffen
arbeitslosigkeit.
Arbeiter, Angestellte, Beamte, Sozial- und Kriegsrentner müffen von der Sozialdemokratie gegen die verhängnisvollen Wirkungen der Notverordnung geschützt werden.
Die Berliner Funktionäre verlangen deshalb von der Reichs. fagsfraktion, daß fie noch vor dem Inkrafttreten eine wesentliche Aenderung der Notverordnung erfämpft.
In diesem Kampf um Recht und Schutz der werktätigen Massen muß die Partei parlamentarisch wie außerparlamentarisch alle Maßnahmen treffen, insbesondere auch die rechtzeitige Einschaltung des Reichstags verlangen.
Die Funktionäre appellieren an die klaffenbewußte, disziplinierte Arbeiterschaft in dieser ernsten, gespannten politischen Lage geschloffen zur Sozialdemokratie zu ffehen, um die Pläne der Realtion, vor allem die zerschlagung der Sozialversicherung und des Tarifrechts mit vereinten äräften abzuwehren.
Die Reichsbank steht nahe an der Grenze, wo sie feine Kredite, auch nicht zur Devisenbeschaffung, mehr gewähren darf, denn die gesetzliche Mindestdeckung des Notenumlaufs ist durch die Devisen- und Goldverluste nahezu erreicht. Daraus wäre zwar auch jezt noch feine Gefahr für die Währung entstanden, aber die Reichsbank hätte sehr bald zu der sogenannten Kreditrestriktion schreiten müssen, die wahrscheinlich die Banken in alleräußerste Verlegenheiten gebracht, mit Sicherheit aber gerade die noch arbeitenden Unternehmungen vielfach zur Stillegung und zu massenhaften Arbeiterentlassungen gezwungen hätte. Diese Gefahren sind feineswegs schon voll beschworen, aber die gestern erfolgte Lösung der politischen Krise fann der entscheidende Anfang mit zur Abwendung der Katastrophengefahren sein. zur Wiederherstellung des ausländischen Vertrauens und da
Das war aber noch nicht alles. Das Reich selbst stand bei Fortdauer der politischen Krise und der ausländischen Kreditfündigungen, nachdem Reichsbank und Banken fast ausgepumpt waren, vor der Tatsache, am 19. nicht die Gelder für die vollen Länderüberweisungen und am 25. nicht die Gelder für die vollen Gehaltszahlungen zu erhalten. Bei zahlreichen Städten und Gemeinden mußte die drohende absolute Kredit not und unübersehbare Geldteuerung zur Zahlungseinstellung für die Wohlfahrtserwerbslosen führen.
Obwohl die Lage so furchtbar war und obwohl die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Furchtbarkeit dieser Lage restlos tannte, hat sie sich von feinem, Ultimatum einschüchtern lassen und für das arbeitende Bolk um die Verbefferung der Notverordnung gekämpft. Sie hat bei diesem Rampf Erfolge errungen und dem Willen der Arbeiterschaft Beachtung erzwungen; die Katastrophen- und Bürgerkriegspolitiker haben ihr Ziel nicht erreicht. Diese Erfolge find Anfangserfolge. Diese Anfangserfolge müssen durch neue zähe Rämpfe in baldiger Zukunft ausgebaut werden.