SmileSEolat„C ®t«fc TlnkipUe aus dem Nachlaß des großkn französischen Romanciers erscheint hier zum erstenmal in deutscher Sprache. Lucien Berard et Hortonsc Loriviere sind seit einer Woche ver- heiratet. Die Mutter der jungen Frau ist Witwe und führt seit dreißig Jahren ein Spielwarengeschäft in der Rue de la Chaussee- d'Antin. Sie ist ein trockenes und spitziges Weib von herrschsüchtigem Charakter, hat zwar ihre Tochter dem einzigen Sohn eines Eisen- und Kurzwarenhändlcrs nicht verweigern können, beabsichtigt aber, den jungen Hausstand gründlich zu überwachen. Im Ehekontrakt hytte sie den Laden Hortense übergeben, sich jedoch ein Zimmer in der Behausung vorbehalten. Tatsächlich leitete sie das Ganze weiter unter dem Borwand, die Kinder in den Verkauf einzuarbeiten. Es ist Mitte August, intensive Hitze herrscht: die Geschäfte gehen schiecht. Die alte Frau Lariviere ist nach säuerlicher als sonst. Sie duldet nicht einmal, daß Lucian sich einen Augenblick neben Hortense vergißt. Hat sie die beiden doch eines Morgens dabei überrascht, wie sie einander im Laden küßten! Und das eine Woche nach der Hochzeit! Alles muß feine Ordnung haben, und man muß dem Geschäft gleich einen guten Ruf schaffen. Niemals hat sie Herrn Lariviere erlaubt, sie im Laden auch nur mit den Fingerspitzen anzurühren. Uebrigens war ihm auch nie der Gedanke gekommen. So hatten sie den Grundstein zu ihrem Unternehmen gelegt. Lucien wagt noch nicht, sich aufzulehnen, sendet ober hinter dem Rücken seiner Schwiegermutter seiner Frau 5)andküss«. Eines Tages jedoch erlaubt er sich, daran zu erinnern, daß die beiderseitigen Familien ihm vor der Hochzeit eine Reise während des Honigmonds versprochen. Frau Larwiere preßt die dünnen Lippen aufeinander. „Meinetwegen", brummt sie,„geht einen Nachmittag im Bois de Vincennes spazieren." Verblüfft sehen die Jungvermählten«inander an. Hortense beginnt ihre Mutter tatsächlich lächerlich zu finden. Kaum wird sie nachts von der Guten allein bei ihrem Mann gelassen. Beim geringsten Geräusch kommt Frau Lariviere auf bloßen Füßen, klopft an die Tür und fragt, ob jemand krank sei. Antworten sie, es ginge ihnen gut, so ruft die Fürsorgliche:„Ihr tätet besser daran, zu schlafen... Morgen schlaft ihr mir sonst im Kontor ein." Das ist nicht mehr zu ertragen. Lucien zählt alle Ladenbesitzcr der Gegend auf, die sich kleine Reisen gestatten, während Verwandte oder tüchtige Angestellte die Geschäfte betreuen. Da ist der Handschuh- Händler Ecke der rue La Fayettc, der augenblicklich sich in Dieppe aufhält: der Messerschmied aus der Rue Saint-Nicolas ist soeben nach Luchon gereist: der Juwelier dort gleich am Boulevard ist mit der Frau in die Schweiz gefahren. Jetzt gönnen sich eben alle behaglich lebenden Leute einen Monat auf dem Lande. „Daran geht das Geschäft zugrunde, mein Herr! Verstehen Sie wohl!" ruft Frau Lariviere.„Zu Lebzeiten meines Mannes gingen wir einmal im Jahr, am Ostermontag, nach Vincennes , und hoben uns dabei nicht schlecht gestanden... Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Hören Sie gut zu: Sie oerbummeln das Geschäft mit diesen Gelüsten, herumzureisen. Jawohl— das Geschäft wird zugrunde gehen." „Es war ober doch abgemacht, daß Lucien und ich«in« Reise machen sollten" wagt Hortense einzuwenden.„Besinn dich nur, Mutter, du hast das bewilligt." „Vielleicht... aber das war vor der Hochzeit. Man sagt allerlei Dummheiten vor jeder Hochzeit zu... Wie, bitte? Jetzt seid aber vernünftig." Um Streit zu vermeiden, ist Lucien hinausgegangen. Er ver- spürt den wilden Wunsch, seine Schwiegermutter zu erdrosieln. Als er nach etwa zwei Stunden zurückkommt, ,st er ganz verwandelt, spricht mit sanfter Stimme zu Frau Lariviere, ein seichtes Lächeln spielt um sein« Mundwinkel. Abend» fragt er sein« Frau: „Kennst du die Normandie ?" „Du weißt ja, daß ich sie nicht kenne", antwortete Hortens». „Ich bin doch immer nur ins Bois de Vincennes gekommen." Am nächsten Morgen läßt ein Donnerschlag den Spielwaren- laden erzittern. Luciens Vater, im ganzen Viertel als Papa Berard bekannt und berühmt als Lebenskünstler, der alle Dinge gütlich ordnet, lädt sich selbst zum Frühstück ein. Beim Kaffee ruft er aus: „Hier bringe ich ein Geschenk für unsere Kinder." Und zieht triumphierend zwei Eisenbahnbilletts aus der Tasche. „Was soll dos heißen?" ftogt mit halberstickter Stimme die Schwiegermutter. „Gott : zwei Plätze erster Klasie für eine Rundreise in der Normandie ... Fein, meine Kinderle, einen Monat in freier Natur! Ihr werdet frisch wie Rosen zurückkommen." Frau Lariviere ist zerschmettert. Sie möchte schon protestieren, wagt sich ober im Grunde nicht in einen Streit mit Papa Berard, der stets das letzte Wort behält. Was sie vollends verblüfft, ist die Absicht des Kurzwarenhändlers, die Reisenden sofort zum Bahnhof zu geleiten. Er wird sie nicht eher verlassen, bi» er sie glücklich im Abteil oerstaut hat. In dumpfer Wut erklärt sie:„Gut, geht! Rehmen Sic mir nur 'meine Tochter fort. Mir schon recht: nun werden sie einander doch nicht mehr im Laden küssen, und ich muß auf die Ehre meines Hauses passen!" Endlich sind die Jungvermählten in Begleitung des Schwieger- vaters auf dem Bahnhof Saint-Lazare . Der Glückstifter hat chnen gerade soviel Zeit gelassen, daß sie ein paar Wäsche- und Kleidungs- stücke in einen Koffer stopfen konnten. Jetzt drückt er den Reisenden schallend« Küsie auf die Wangen, empfiehlt ihnen, aus alles zu achten, damit sie später berichten können, was sie gesehen haben. Das soll ihm Spaß machen! Auf dem Abfohrtbahnsteig eilen Hortense und Lucien den Zug entlang, um ein leeres Abteil zu finden. Sie haben Glück und finden eins, in das sie eiligst einsteigen und sich bereits für ein Tete-i-Täte installieren, als zu ihrem Schmerz ein bebrillter Herr hereinklettert, der sie seinerseits streng mustert. Der Zug fetzt sich in Bewegung: Hortense wendet sich verzweifelt ab und gibt vor. die Landschaft zu studieren. Tränen steigen ihr in d'« Augen; sie kann nicht einmal Bäume erkennen. Lucien tüftelt über ein geniales Mittel nach, sich des alten Herrn zu entledigen, findet aber nur unbrauchbare, zu energische Auslunstsmittel. Einen Moment lang hofft er, der Lästige werde in Mantes oder in Vernon aussteigen. Vergebliche Hoffnung. Der Herr fährt bi» nach 5?aorc mit. Außer sich beschließt Lucien jetzt, ruhig die Hand seiner Frau zu streicheln. Schließlich sind sie doch verheiratet und dürfen öffentlich zärtlich sein. Doch die Blicke des alten Herrn worden immer strenger. Offenkundig mißbilligt er diesen Liebesbeweis: errötend zieht die jung« Frau ihre Hand zurück. Der Rest der Reise verläust in un- behaglichem Schweigen. Endlich ist Rouen erreicht. Lucien hat bei der Abfahrt aus Paris «inen Führer gekauft. Sie steigen in einem darin empfohlenen Hotel ab und sind sogleich Beute der Kellner. Bei Tisch wogen sie kaum ein Wart mitein- ander zu wechseln, da alle Welt sie betrachtet. Zeitig gehen sie schlafen: die Zimmerwände sind fv dünn, daß ihnen kein« Bs- wegung ihrer Nachbarn rechts und links entgeht. Nun wagen sie nicht mehr, sich zu rühvgll, nicht einmal sich zu räuspern.
ine ülundreife" Beim Aufstehen am anderen Morgen schlägt Lucien Be- sichtigung der Stadt und baldig« Abreise noch Havre vor. Den ganzen Tag lang bleiben sie auf den Beinen: sie bc- sichtigen die Kathedrale, wo man ihnen den„Buttcrtunn" zeigt, der von den Steuern errichtet wurde, die die Geistlichkeit aus den Molkereien der Gegend zog. Weiter pilgern sie ins Schloß der Herzöge der Normandie , in die alten Kirchen, die zu Futtcrfpeichern verwendet werden, auf die Place-Ieannc-d'Arc, ins Museum, sogar auf den monumentalen Friedhof. Sic tun's, als ob sie eine Pflicht erfüllten, erlassen sich auch nicht ein historifches Gebäude. Hortense vor allem langweilt sich zu Tode. Sie ist derart ermüdet, daß sie am folgenden Tag in der Eisenbahn schläft. In Havre erwartet sie eine andere Unannehmlichkeit. Die Betten in ihrem Hotel sind so schmal, daß das Paar in eiixm Zweibettzimmer untergebracht wird. Hortense faßt dies als Bc- leidigung auf und fängt an zu weinen. Lucien muß sie trösten und schwört ihr zu, nur solange in Havre zu bleiben, bis sie alle Sehenswürdigkeiten besichtigt. Die tollen Wanderungen fangen von Neuem an. Bon Havre gehts in der gleichen Art weiter durch mehrere Städte, die im Führer als wichtig angesternt sind. Sic besuchen Honfleur , Pont-l'Eoäque. Caen , Baycux, Cherbourg . In ihren Köpfen rumort es von Straßen- und Dcnkmalsnanren. Sie ver- wechseln die Kirchen; der schnelle Wechsel der Aussichten schüchtert sie ein, da sie sich gor nicht dafür interessieren. Nirgends noch haben sie«in friedliches Winkelchcn für ihr Glück gefunden—»i> sie sich unbelauscht hätten küssen können. Jetzt sind sie soweit, nichts mehr ansehen zu wollen, setzen aber getreulich ihre Reife fort wie«ine Fronlefftung, deren sie sich nicht entledigen können. Da sie nun einmal abgereist sind, müssen sie auch wieder heimkommen. Eines Abends läßt sich Lucien in Cherbourg die Worte:„Ich glaube, ich zieh' sogar deine Mutter noch vor!" entschlüpfen. Am folgenden Morgen fahren sie nach Granvillc weiter. Lucien bleibt aber düster und wirft wilde Blicke auf die Landschaft, deren Felder sich fächerförmig zu beiden Seiten der Bahnlinie entfalten. Plötz- lich hält der Zug an einer kleinen Station, deren Namen ihnen nie zu Ohren gekommen; ein bewundernswertes Fleckchen Grün, unter Bäumen wie verloren. Lucien ruft:„Hier steigen wir aus, schnell, Liebchen!" „Aber diese Station steht ja nicht im Führer" meint Hortense verblüfft. „Ach was, im Führer!" erklärt er,„du wirst gleich sehen, was ich mit dem Führer anfange! Fix doch, Liebling, ausgestiegen!" „Aber unser Gepäck?" Und Hortense steigt aus, der Zug fährt weiter und läßt die
Die Souks von Tunis Tunis ist noch ganz Orient. Die Franzosen kamen hierher nicht als Feinde, eroberten das Land nicht mit der Waffe in der Hand, sondern sie halsen zunächst den Tunesiern, die allzu sehr in Schulden steckten, ihre Finanzen in Ordnung zu bringen. Daß sie nach und nach aus Beschützern zu Herrschern wurden, das ist der üblich« Lauf der Geschichte, ober e» heißt noch immer, daß Tunis nur unter der Schutzherrschast, dem„Protektorat", Frankreichs steht, und jedenfalls haben die Franzosen den äußeren Charakter der Städte so gelassen, wie sie ihn vorgefunden hoben: sie bauten nur daneben ihr« europäischen Viertel. So ist denn Tunis orientalisch schön und sonderbor und bietet den Europäern Schauspiel. Be- lehrung, Einsicht in eine fern« Vergangenheit, die hier erhalten blieb, wie erstarrt, ein verzaubertes Land. Besonder» stark ist dieser Eindruck einer im Schlummer verharrenden Welt in den Souks von Tunis . Kenner der arabischen Welt behaupten, daß die Souks in Fez noch großartiger sind, ober die von Tunis sind unbedingt die schöneren durch da» Spiel des Lichtes, das in die engen Gassen und GSßchen durch die Spalten in ihren Wölbungen und Ueberdeckungen hineinsickert, hier sein Spiel treibt, launisch, lustig, melancholisch. Denn die. Souks sind kleine Läden und W e r k st ä t t e n. die sich aneinander reihen in langen gewölbten Gängen oder, wenn sie einmal im Freien liegen, überdeckt werden von dichtem Rohrgeslecht. In den Souk« ist es sehr ruhig trotz des emsigen Lebens, denn jeder Souk ist ein in sich abgeschlossenes Reich, in dem einige Men- fchen still und mechanisch ihrer Arbeit nachgehen. Es scheinen Ge- setz« und Regeln zu bestehen, die dies« Welt beherrschen, denn man kann leicht feststellen, daß sich gewisse Handwerke an einer Stell« versammeln, und wenn man in einen langen Souk hineingerät, so kommt man an unzähligen kleinen Käsigen vorüber, in denen das Gleiche„fabriziert" wird, Mützen oder Schuhe oder Stoffe... In anderen Straßen wieder gibt es Lederwaren, Silberwarea, Teppiche, Parfüm». Dies« Souks sind meistens wie kleine Schmuck- stübchen eingerichtet: sie wirken anziehend fürs Aug« und sind schon an und für sich eine Verlockung, eine Falle, die dem Käufer ge- stellt wird. Als Falle könnte man auch die äußerst« Liebenswürdig- keit der Inhaber deuten, die nicht ruhen, bis man„unverbindlich" in ihren Laden hineingekommen ist, sich die Dinge, die sie liebevoll ausbreiten, angeschaut hat und«ine Tost« maurischen Kasse« mit dem„Freund" getrunken hat. Höflichkeit zeichnet die Sitten des Orient» so sehr aus, daß dies« übergroße Zuvorkommenheit der Verkäufer vielleicht einfach als ein Bedürfnis dieser Menschen aus- gelegt worden kann, zu denen wir als Boten aus einer anderen Welt hinabsteigen, aber fest steht auch, daß man die neuen„Freunde" sehr gern zu Käufern machen möchte, und daß der so behandelte Europäer meist entwaffnet ist und sich nun seiner Kauflust überläßt. Sonderbar wirkt auf diesen Gast, Freund und Käufer, wenn er den Souk verläßt, die Aufschrift, die er gleich daneben sieht: „Museimanischer Gottesoienst. Eintritt für Fremde verboten". Alls ihren Gatt beholten sie für sich allein, diese höflichen und freund- lichcn Menschen? Sie behalten auch wohl noch viel anderes für sich allein, das in der Tiefe ihrer Seelen schlummert, tief verschleiert vor dem Auge des Fremden. Sie sprechen ftanzösisch, viele von ihnen sind auch schon weit gereist und hoben Brocken von Deutsch . Englisch . Italienisch, Spanisch auf diesen Reisen gesammelt. Einmal im Jahre aber kommt der Bey aus seinem Schloß in Marsa nach Tunis und begibt sich in die Souks. Es geschieht an einem Feiertag, aber in den Souks herrscht ein reges Leben. Sie sind noch schöner geschmückt al« sonst, und der kleinste Handwerker wie der Besitzer der schönsten Teppichsammlung tragen feierlich« Freude auf dem Gesicht geschrieben. In den Moscheen, die der Fuß eines Ungläubigen nicht betreten darf, werden feierlicher als sonst Gebete abgehalten. Der Islam lebt, und indem er lebt, ist er eine geheimnisvoll« Kraft, die sich vielleicht zeitweis« duckt, die sich aber wohl nie völlig ergibt. In dem Labyrinth der Souks lebt nicht nur dos Handwerk, wie durch«ine Zauberkraft erhalten, sondern es lebt noch der Orient, der Islam, jene Welt, die un» durch ihre Farbigkeit, ihr Anderssein entzückt, bis sie eines Tages sich wieder aufbäumt und, de« Halbmonde« gedenkend, Krieg erklärt ollem, «« fremd ist. S. K.
Beiden an dem herrlichen grünen Fleck. Sie sind mitten auf dem Lande, als sie aus dem kleinen Bahnhof treten. Keinerlei Lärm. Vögel singen in den Bäumen, ein klarer Bach murmelt durch den Talgrund. Luciens erste Sorge ist, den Führer in eine Lache zu schleudern. Schluß damit! Sie sind frei! Nach dreihundert Schritt stoßen sie auf eine einsame Herberge, deren Wirtin ihnen ein großes, weißgekalktes von frühlingshafter Heiterkeit erfülltes Zimmer einräumt. Die Mauern sind mindestens einen Meter dick. Zudem ist außer ihnen kein Reifender in diesem Gasthaus—? lediglich die Hühner mustern sie neugierig. „Unsere Fahrkarten haben noch eine Woche Gültigkeit" kon» statiert Lucien. „Also, diese acht Tage werden wir hier oerbringen." Welch köstliche Woche! Margens früh wandern sie durch ein- fame Wege, vergraben sich im Wald, auf dem Abhang eines Hügels; dort bringen sie die Tage zu; versteckt im hohen Gras, das ihre Liebe schützt. Manchmal pilgern sie den Lauf des Baches entlang. Hortense läuft wie ein ausgerissenes Schulmädchen; dann zieht sie Schuh und Strümpfe aus, nimmt ein Fußbad, während Lucien sie zu Hilferufen veranlaßt, indem er sie heftig in den Nacken küßt. Der Mangel an frischer Wäsche, der Zustand der Entblößung von allen Kulturgegenständcn erheitert sie. Sie sind über die Abgeschiedenheit beglückt: in einer Einsamkeit zu sein, in der sie niemand vermutet. Hat doch Hortense bereits grobe Wäsche von der Wirtin leihen müssen, Leincnhemden, die ihr die Haut zer- kratzten und sie zum Lachen reizen. Ihr Zimmer ist so heiter. Schon um acht Uhr schließen sie sich darin ein, wenn die dunkel und ruhig daliegende Landschaft sie nicht mehr lockt. Bor allein haben sie aber angeordnet: sie wollen nicht geweckt werden. Manch- mal geht Lucien selbst in Pantoffeln hinunter, Holl das Frühstück herauf— Eier und Koteletts— und erlaubt niemand, ins Zimmer zu kommen. Sind das auserlesene Frühsiücksgenüsie, die am Bettrand eingenommen werden und dank der Küsse, die zahlreicher als die Bissen Brot sind, gar nicht enden! Am siebenten Tag sind sie überascht und trostlos darüber, so schnell gelebt zu haben. Sie reisen ab, ohne den Wunsch, z» erfahren, wo sie geweilt und einander geliebt. Ihnen genügt: sie hatten das richtige Quartier für ihren Honigmond. In Paris erst finden sie ihr Gepäck wieder. Als Papa Berard sie ausfragt, geraten sie in Verwirrung. In Caen haben sie das Meer gesehen; den„Butterturm" verlegen sie nach Havre . „Aber verflucht und zugenäht!" ruft der Kurzwarenhändler, ihr erzählt ja gar nichts von Cherbourg ... und vom Arsenal ?" „Ach Gott ! Ein ganz nettes, kleines Arsenal ", antwortet Lucien.„Aber Bäume fehlen." Da zuckt Frau Lariviere verbittert mit den Achseln und murmelt:„Als ob das der Mühe wert war, zu reisen! Sie kennen ja nicht einmal die wichtigsten Gebäude... Jetzt Schluß, Hortense, mit den Dummheiten: setz' dich an den Schreibtisch." (Einzig bereck)tigte Übertragung von Anni« Konen.)
Heue Versuche Sieinachs In der Wiener Biologischen Gesellschaft demonstrierte Prof. Eugen Steinach neue Versuche. Seine Arbeiten zur experimentellen Maskulierung, Feminierung und Hermaphrodisierung haben zu der Erkenntnis geführt, daß die Einpflanzung der dem anderen Ge- schlecht entstammenden Keimdrüse in infantil kastrierte Tiere eine Wandlung der körperlichen und geistigen Geschlechtscharaktcre bewirkt. Diese Ergebnisse der Keimdrüsenüberpslanzung ließen sich in letzter Zeit auch durch Einspritzung von chemisch isolierten Sexual- Hormonen reproduzieren. Neue Versuchsreihen liefern nun den Beweis, daß die. Wandlung der körperlichen und geistigen Geschlechtszeichcn auch ohne lieber- Pflanzung vorn anderen Geschlecht oder Zufuhr von dessen Hormon hervorgerufen werden kann, und zwar durch direkte Beeinflussung der Keimdrüse an Ort und Stelle. Abgesehen von der Ausbildung männlicher Geschlechtszeichen war ein Umschlag des geistigen Ge- schlechtscharakters im Sinne männlicher Erotisierung eingetreten. Diese Tiere erkannten und bevorzugten dos brünstige Weibchen und verfolgten es unablässig. Die Gewebeuntersuchung der Eierstöcke ergibt sowohl nach Röntgenbestrahlung als auch nach Behandlung mit Hypophysen- Vorderlappcnhormon das Bild vollständiger Luteinisierung(Latein ist der gelbe Farbstoff des Eidotters und Corpus luteum der weib- liche Keimdrüsenextrakt). Es bestätigte sich, daß das Luteingcwebe ein Inkret produziert, das dem Hodenhormon entspricht. In mehreren Versuchsreihen glaubt Steinach die Identität der Wirkung des maskulinen Hornions, das dos Corpus luteum pro- dyziert, mit dem Hodeninkret bewiesen zu haben. Die nach Infantil- kastration unentwickelten Geschlechtsmerkmole der männlichen Rotte können durch Einspritzung von Corpus-Iutemn-Extrakt zur Entwick- lung und vollen Ausbildung gebracht werden. Der Eierstock bildet also außer den Hormonen, die spezifisch auf weiblich« Geschlechtsmerkmale wirken, ein Hormon, das spezifisch auf männliche wirkt; dieses maskuline Hormon ist im Luteingewebe lokalffiert. Es besteht im Eierstock ein Zustand, den Steinach als hormonale Bisexualität bezeichnet.
3)ichlung und Wahrheii Das Grand-Guignol-Theater in Paris ist eine einzigartige Ein- richtung: es führt ausschließlich Schauerdramen auf, welche den Zu- schauern mit schwachen Nerven schlaflose Nächte verursachen. Der langjährige Hausdichter dieses„jfunstinstituts", ein gewisser Jean Aroguy, lieferte neulich sein neuestes Erzeugnis ob, besten Haupt- szenc eine Gehirnoperation auf offener Bühne bildete. Der Direktor legte nolurgemäß einen gesteigerten Wert daraus, diese„Sensation" nach Möglichkeit lebenswahr zu bringen, und ersuchte daher Profestor Pouch«, einer einschlägigen Operation in dessen Klinik beiwohnen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde erteilt, Direktor Jack Iouvin mekte sich genau sämtliche Vorgänge des komplizierten ärztlichen Eingriffs, und eilte dann freudestrahlend zu seinem Freunde, dem Verfasser des Dramas, um auch ihn zu belehren. Er erzählte breit ausholend, wie der Profestor die einzelnen Stellen desinfiziert, durch die sein Messer bis zum Gehirn vordringt, wie er sein« Instrumente ordnet, den Patienten chloroformiert, und im geeigneten Augenblick blitzschnell zu meißeln beginnt. Weiter kam ober Iouvin in seinem Fachreserat nicht, denn Monsieur Araguy siel in aller Farm in— Ohnmacht! Iouvin goß ihm zunächst einige Kognaks ein, und fragte ihn dann maßlos verwundert. was er denn eigentlich hätte? Außer sich vor Erregung antwortete der Hausdichter:„Bist du verrückt geworden, mir dies« fürchter, liche Szene zu beschreiben? Mir, der ich nicht mit ansehen kann, wenn einer eine Fliege totschlägt?!" Da war die Reihe an Iouvin, erstaunt zu sein:„Du s« l b st hast doch dieses prachtvolle Drama mit der Operation geschrieben, das mein Publikum erschauern lassen wird. Ist dir denn bei der Abiossung der Hauptszene nicht übel geworden?"—„Natürlich nicht", lautete die müde Antwort des gepeinigten Verfassers,„ich hätte es mir doch niemals träumen lasten, daß ein« Gehlrnoperatio» jso fürchterlich fem könnt»,, N