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Nr. 345 48. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 26. Juli 1931

Lehnert

Rucht aus der Weltstadt

000

PEZZO

Im letzten halben Jahre haben 30 000 Menschen Ber- 1 der Verstand still, da kam die dritte Maschine, und die lin verlassen. Das ist die Einwohnerzahl einer deutschen  Mittelstadt. Wer im Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reiches nachblättert, der findet auf dem 30 000- Punkt genau die Stadt Konstanz   und ringsherum Schweinfurt  , Lüdenscheid  , Stendal  , Iserlohn  , Wilhelmshaven   und Kolberg  . Man kann sich nun überhaupt nicht vorstellen, daß Stendal   oder Kolberg   eines Tages vom Erdboden verschwinden sollten, daß 30 000 Menschen eines Tages spurlos in alle Winde verweht sind. Dagegen in Berlin   merkt kaum jemand etwas davon. Nur alle halben Jahre kommt die Bevölkerungsstatistik heraus, da liest man eine magere Lokalnotiz: Berlin   wird kleiner. Weiter nichts. Und wer sich dann noch die Mühe machen wollte, nach­zurechnen, wieviel 30 000 von 4500 000 sind, der bekäme so kleine Bruchzahlen, daß er mit Promille rechnen müßte. Trotz­dem besteht die Flucht aus der Weltstadt. Wenn sich die 5000, die in dieser schweren Zeit allmonatlich Berlin   verlassen, noch einmal versammeln würden, dann wäre das eine riesige Demon­stration: 5000 Menschen mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel, die Frankfurter Allee   herunterziehend, der Heimat zu. Das wäre eine Sensation, dieser allmonatliche Auszug der 5000. Aber so ist es ja nicht. Tropfenmeis und unbemerkt versickert dieser Menschenstrom irgendwo auf einem Dorf oder in einer kleinen Stadt.

machte 36 000 Flaschen den Tag: Nun standen die armen Handbläser da mit ihrem Talent, von dem sie rühmen, daß sie keine Buttermamsell und kein Krämer betrügen könne. Denn wenn ihnen jemand statt der verlangten 250 Gramm Butter nur 235 Gramm in die Hand stecken wollte, dann merkten sie das sofort, weil auf diesem| Fingerspitzengefühl für Unterschiede des Gewichts die halbe Glas­macherkunst beruht. Wenn der Flaschenbläser eine 750- Rubikzenti­meter- Flasche blasen will, dann nimmt er dazu 300 Gramm Glas­masse. Diese 300 Gramm wiegt er nicht ab, sondern das Gewicht hat er im Gefühl, er nimmt nicht 310 Gramm, denn dann würde der Boden zu dick werden und die Flasche hätte nicht 750 Kubik­zentimeter Inhalt.

Das Fräulein aus der Neumark.

Die Menschen, die von Berlin   gehen, brauchen nicht immer Ar­beislose zu sein. Das wäre grundfalsch, glle Berlinflüchtigen als halbverhungerte Arbeitslose hinzustellen. So leicht läßt sich die ganze Frage nicht über einen Kamm scheren. Da kam zum Beispiel mit der letzten Konjunkturwelle, die nun schon lange verebbt ist, ein junges frisches Mädchen aus der Neumark nach Berlin  . Sie war in den ersten zwanziger Jahren, wollte mal ein wenig die Welt sehen, denn der elende Trott in der elterlichen Wirtschaft war ihr gründlich über: immer in aller Herrgottsfrühe die Kühe melken, ewig die Schweine füttern und dann ins Heu oder auf den Acker, um Rüben zu sezen, nein, sagte sich das Mädchen, da fahre ich lieber nach Berlin   und werde ein Fräulein. Es gelang ihr noch gerade vor Toresschluß. In einer Konditorei wurde sie hinters Büfett gestellt, bekam ein schwarzes Kleid an und eine weiße Schürze davor, ver­faufte Kuchen, schenkte Kaffee ein oder Schnäpse, und jeder sagte zu ihr: Fräulein. Alles sah wunderschön aus. Bei Lichte besehen alferdings nicht mehr: Da tam eine zwölfftündige Arbeitszeit her aus, von mittags 12 bis mitternachts 12, und wenn die Gäste weiter: fneipten, wurde es noch später. An Lohn gab es 17 Mark in der Woche und Essen und Trinken dazu. Aber von diesen 17 Mart, die auf den Monat gerechnet 70 Mark wurden, mußten 30 Mark für das Zimmer gezahlt werden, 15 Mark macht heute bei jedem Werftätigen ohne Gnade das Fahrgeld aus, dann sollten Kleider sein, Schuhe und Strümpfe, und zum Schluß blieb herzlich wenig übrig. So fündigte das Fräulein aus der Neumark ihre Stellung. ,, Nein", sagte sie, da stehe ich mich ja zu Hause viel besser. Bei uns fommen selbst während der Ernte kaum 12 Arbeitsstunden für eine Frau heraus, und hier geht das Winter wie Sommer so lange. Was nügen mir die 17 Mart, wenn die Hälfte davon für die Woh­nung drauf geht. Zu Hause wohne ich bei meinen Eltern umsonst, habe mein Essen und Trinken, wogegen ich hier in Berlin   alle meine Spargroschen zusetzen mußte. Nein, ich tausche die Neumark nicht mehr gegen Berlin   ein." In Berlin   fliegen eben keine gebratenen Tauben umher. Das ist nur der große Irrtum der Provinz.

Ein dezimierter Beruf.

Als zweiter typischer Fall sei nunmehr ein Arbeitsloser vorgestellt, den die Rationalisierung überflüssig gemacht hat. Im Jahre 1891 ging am Himmel der deutschen   Glasindustrie ein strahlender Stern auf: die Glashütte   in Stralau. Wie ein Magnet zog dieser Betrieb die Glasmacher   aus allen Gauen Deutschlands  an. In den besten Zeiten arbeiteten dort 350, 360 Flaschenbläser, von denen machte jeder seine 160 bis 180 Flaschen pro Tag, und am Wochenende bekamen sie ihre 45 oder 50 Mart aufs Brett gezahlt. Stolz waren die Glasmacher  , und mit ihren ausgearbeiteten Lungen waren sie obendrein noch die besten Sänger im ganzen Arbeiter fängerbund. Boshafte Menschen sagten allerdings, das käme wohl mehr von den dauernd geschmierten Rehlen, wo auf je 100 Flaschen bläser immer 8 Jungens famen, die sogenannten Schmierer", die hatten weiter nichts zu tun, als den ganzen Tag Kaffee, Bier oder Wasser herbeizuschleppen für die ausgedörrten Kehlen der Glas­ macher  . Es war eine Schinderei, das ganze Glasmachen, aber ein einträgliches Gewerbe. Und so tamen die Westpreußen   wie die Holsteiner nach Stralau. Eines Tages, es war während des Krieges, wurde eine Flaschenmaschine amerikanischen Patents aufgestellt. Die machte in je 24 Stunden 18 000 Flaschen. Dann kam die zweite Maschine, die machte gleich 24 000 Flaschen, also Bierflaschen und ähnliche einfache, und nach dem Kriege, da stand den Handbläsern

Das machten sich dann die Maschinen allein. Zumal noch die Schillermaschine kam, die außer auf Fassonflaschen auf jede ge­wünschte Flaschenart eingestellt werden kann, denn die amerikanischen 36 000er- Maschinen, das waren gegen die Schillermaschinen unge= schlachte Klöße, weil sie nur 36 000 Flaschen immer in der gleichen Art herstellen konnten. Jede Schillermaschine hat von 10 Flaschen­

V....

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Wieder hinter dem Pflug.

健康

bläsern immer 9 überflüssig gemacht, jetzt sigen noch in der ganzen großen Stralauer Glashütte   16 Handbläser. Die anderen haben versucht, als Arbeitsmänner im Bau- oder Verkehrsgewerbe unter­zutauchen, einigen ist es gelungen, anderen nicht. Und diese anderen sind dann eben zurück aufs Land gefahren und beackern jetzt wieder ihre Scholle wie einst in jungen Jahren. Neulich hat ein Glas­macher, der wieder Bauer geworden ist, an seine Stralauer Freunde geschrieben:... ich fühle mich hier wohler, als wenn ich Arbeits­loser in Berlin   wäre..."

Fremd in der Heimat.

Dann hat mit dem Strom der Dreißigtausend eine betagte Dame Berlin   hinter sich gelassen. 27 Jahre hat sie das Berliner  Pflaster getreten, es war alles schön, so lange ihr Mann lebte, der ein Prokurist war. Aber der segnete dann das Zeitliche, und für die Frau blieb nur noch eine Rente. Gut, sagte sich die Frau, wenn ich wieder in meine Heimat ziehe, nach dem schönen Neckarwestheim   im Amte Lauffen  , dort kann ich billiger und geruhsamer leben. Diese Rechnung mit der Lebenshaltung stimmte. Zwei Stuben und Küche, die kosten in Neckarwestheim   28 Mark im Monat, das Brot, das backen die Schwaben   selbst, Gemüse hat auch jeder, soviel er will, Butter, Eier, Fleisch, alles ist billiger, wobei sich die Preise von Berlin   mit denen von Neckarwestheim   noch herzlich schlecht ver= gleichen lassen, weil man dort unten eben Selbstversorger ist. Aber etwas anderes: die Frau dachte, wenn sie nunmehr nach 27 Jahren wieder in das stille Dorf einzieht, das nicht einmal Bahnstation ist, dann würde man sie mit offenen Armen empfangen. Das Gegen­teil war der Fall. Die Frau ist in ihrer Heimat eine Fremde. Wer 27 Jahre lang Berliner   Asphalt getreten hat, der ist ein anderer Mensch geworden. Wenn zum Beispiel die Frau in ihrer Heimat in einem besseren Kleid, wie es in Berlin   alltäglich ist, auf die Straße geht, dann fragen die Frauen: ,, Nu, wo wolle Sie hi, gange Se zur Hochzit?" So ist das. 4 000 000 Berliner   fennen nicht ihren Pastor, aber in Neckarwestheim  , da komret allen voran der Pfarrer. In Berlin   fräht kein Hahn danach, wenn eine Frau ins Wirtshaus geht in Nedarwestheim wurde die Frau einmal totenblaß, als fie mit ihrer Tochter im Wirtshaus ein Glas Wein trant, und der Pfarrer fam herein. Und als dann die beiden Frauen den Gottes­diener fragten, ob es denn so schlimm wäre, wenn eine Frau ins Wirtshaus geht, sagte er: Ach nei, durchaus nit, nur wege de

Politischer Racheakt in Wien  

Verhaftung des Täters.- Bisher keine Aufklärung.

Wien  , 25. Juli.  ( Eigenbericht.)

Jm 18. Wiener Gemeindebezirk wurde eine schwere Bluttat ver­übt. In seiner Wohnung wurde dort der 32 Jahre alte Kaufmann Georg Semmelmann von einem Manne namens Egon Spielmann, der nach den bei ihm vorgefundenen Papieren an­geblich aus Zürich   stammt, durch zwei Revolverschüsse in den Kopf getötet. Der Täfer versuchte zu flüchten, es gelang jedoch, ihn auf der Straße einzuholen und der Polizei zu übergeben. Da sowohl der Erschossene wie auch der Täter in der kommunistischen  Bewegung eine Rolle gespielt haben sollen, wird vermutet, daß es sich um ein politisches Attentat handelt. Spielmann hüllte fich bisher über die Gründe seiner Taf in Schweigen, so daß erst die weiteren polizeilichen Ermittlungen Klarheit bringen werden.

Die Wiener   Polizeibehörden haben an das Ber= liner Polizeipräsidium das Ersuchen um Mithilfe an der Aufklärung des Verbrechens gerichtet. Der Leiter der Politischen Bolizei im Berliner   Polizeipräsidium, Regierungsdirektor Goerte, hat jede erdenkliche Mithilfe zugesagt. Es ist damit zu rechnen, daß die Berliner. Polizei den Wiener   Behörden bereits am Montagvor­mittag mit einem längeren Bericht über die Persönlichkeit des Täters und seines Opfers in allen Einzelheiten dienlich sein kann.

Nach den bisherigen Ermittlungen der Wiener Polizei scheint es sich um einen vorbereiteten Plan zu handeln. Georg Semmelmann hat sich allem Anschein nach seit einiger Zeit von der Bartei abgewendet. Wie es heißt, soll er Beziehungen zu anderen Parteien gesucht haben. Hier glaubt man auch das Motiv zur Tat zu erkennen. Ilm   eine Preisgabe politischer Geheimnisse zu ver= hindern, mußte Semmelmann, der früher sehr eifrige kommunistische

Agitator, aus dem Wege geräumt werden. Aus Rache an dem Ab­trünnigen ist der Mord zweifellos seit längerer Zeit geplant gewesen. des Ermordeten und einen Plan des Bezirks, in dem Semmelmann Der Mörder verweigert jede Aussage, man hat jedoch ein Lichtbild wohnte, bei ihm gefunden. Das deutet darauf hin, daß Spielmann fein Opfer persönlich wohl gar nicht getannt und mög licherweise im Auftrage gehandelt hat. Es hat sich weiter heraus­gestellt, daß der Erschossene noch eine Funktion in der Kommunisti­fchen Partei ausübte. Er soll trotzdem die Absicht gehabt haben, seine Erfahrungen als Kommunist publizistisch zu verwerten. In den Taschen des Täters wurden bei seiner Verhaftung 650 Schillinge ge= funden. Der Ermordete soll in sehr schwierigen finanziellen Ver= hältnissen gewesen sein.

Die Entführung des Kommunisten Braun. Semmelmann iſt der Berliner   Politischen  , Polizei keine unbekannte Persönlichkeit. Bor etwa drei Jahren machte er bei der Entführung des Kommunisten Braun aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit   von sich reden. Semmelmann drang mit mehreren Komplicen in das Sprechzimmer des Untersuchungs­richters ein und befreite Braun sowie eine ebenfalls in Haft befind­liche Kommunistin Olga Benario  . Die Täter wurden nach einiger Zeit ermittelt. Bei seiner Festnahme nannte sich Semmelmann Dr. Hans Fink. Der Trick verfing aber nicht und Semmelmann wurde bald entlarvt. Im Mai 1928 wurde dann Semmel­mann vom Reichsgericht zu einer Freiheitsstrafe von Jahren verurteilt. Die Strafe hat er verbüßt. Lange hörte man nichts mehr von ihm, bis ihn jetzt in Wien  , wo er mit seiner Frau wohnte, die Kugel des Rächers ereilte. Die Untersuchung dürfte noch weitere Ueberraschungen bringen.

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