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Der Regen kam in so dicken Strängen vom Himmel, daß es um den Bauernwagen geradezu dunkelte, obgleich es Vormittag war. Blitze zuckten, Donner rollte. Ergeben trottete das schlechtgenährte Pferd die Landstraße hinunter. Der Bauer oben nahm von dem Un- weiter keine Notiz. Er war etwa sechzig Jahre und schien von mäch- tiger, schwerer Gestalt; ein Gesicht mit festem grauem Blick; knapp- geschlossenen Lippen und großen festen Zügen. Von seinem grün- braunen Hut leckten Bäche auf die Arm« hinunter; durch die Stoppeln seiner hageren braunen Backen floß es wie ein unaufhörliches Bad. Am Eingang des Dorfes, das er nun erreicht hatte, kamen ihm zwei Landleute in lehmigen Schaftstiefeln entgegen. Der Wagen rüttelte bis dicht an sie heran. Die beiden Männer waren stehen- geblieben, wie um sich auf eine längere Unterhaltung mit dem Dritten einzurichten. DireU vor ihnen hielt das Pferd. Aber von oben her kam nur ein ruhiges Kopfschütteln, und ein einziges Wort: Nichts." Die beiden wurden blaß und sahen sich an. Ehe sie sich zu einer Frage entschlossen hatten, war das Gefährt schon wieder in Bewegung. Die beiden zauderten, ob sie ihm folgen sollten. Verloren irrten ihre Blicke in der Landschaft umher. Dann lehnte sich der eine, wie er- schöpft, gegen einen Baum. Sein Blick war verstört, er sah seinen Begleiter nicht an. Der Regen ließ allmählich nach. Im grauen Himmel klafste ein Riß, ein silbern sich oorkämpfendes Gleißen, das seinen Abglanz auf die bereits beruhigten Felder legte. Den Seitenweg hinunter, der zum Pfarrhaus führte, kam ein Mann mit feinem, leichtgebräuntem Gesicht; in Lodenmantel und Wickelgamaschen, barhäuptig wie er war, zeigten seine blonden Haare die Zerzausung von Regen und Wind. Da kommt der Lehrer", murmelt« der eine er war ein hagerer Mensch mit einer abgebrauchten braunen Mütze auf dem schütteren Haar. War das nicht Wrist?" rief der Lehrer ihnen zu, noch eh« er ganz heran war. Er deutete in die Richtung des weitergezogenen Bauernwagens. Ja, er kommt aus der Stadt", antwortete der Hagere mürrisch. Er wollte Kredit besorgen. Aussichtslos." Er schwieg. Nach einer Pause fügte er hinzu: Bei Wrist soll heute das Vieh geholt werden. Der Gerichts- Vollzieher ist schon im Ort." Der Lehrer antwortete leise:Ich weiß." Heute er, morgen wir", sagte der andere Bauer. Der Lehrer machte eine Bewegung, als ob er entgegnen wollte, aber er schwieg. Was ist nun von all den Reden, die Ihr uns gehalten habt, übriggeblieben", sagte wieder der Bauer mit der armseligen braunen Mütze;Ihr habt höhere Verkaufspreise und Kredit vorausgesagt. Ob Ihr recht behalten habt, könnt Ihr heute sehn." Die Zeiten werden sich bessern", sagte der Lehrer so leise wie vorher. Wann? Wie lange sollen wir warten?" Der andere Bauer, untersetzt und breit, tat den Mund auf: Bis es den Städtern besser geht, bis sie wieder Geld haben, um unsere Produkte zu kaufen, bis." Aber, als ob es ihm reute, daß er in seiner verzweifelten Lage überhaupt noch sprach, machte er ein« verächtliche Handbewegung:Anstatt zu reden, sollten wir lieber..." Er schwieg. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Um Himmels willen, was habt Ihr vor?" fragte der Lehrer, von diesem Gesichtsausdruck erschreckt. Der Bauer setzte sich in Be- wegung, der Hagere folgte ihm.Wohin wollt ihr?" rief der Lehrer. Da hinaus..." Sie gingen zum Dorf hinein. Der Lehrer sah ihnen eine Weile nach. Dann wandte er sich zur Linken, er ging die Landstraße hinunter. Dort, einige hundert Schritte vorm Dorf, stand die Schule heute übrigens nur von den auf dem Hofe spielen- den Kindern des Lehrers belebt. Es war ein Ferientag. Es fiel jetzt kein Tropfen mehr. Die erste Wirkung der sich durch- arbeitenden Sonne lag silbern über Hecken und Feldern. Von sehr weit her sah wie ein blauer Nebel ein Zug des Gebirges hindurch. Den beiden Bauern, die bereits an den wenigen Häusern des eigentlichen Dorfes vorbei waren, kam ein junges Mädchen entgegen- gelaufen. Wrists Mädchen ", sagte der Hagere.Weshalb rennt sie denn? Da ist ein Unglück passiert." Es war Wrists Tochter, die, seit die Mutter gestorben war, die Wirtschaft im Hause besorgte. Von den Söhnen hatten sich zwei als Siedler niedergelassen, der dritte war Arbeiter. Das junge Mädchen rief den beiden Männern etwas entgegen, sie verstanden nichts, die Entfernung war noch zu groß. Ihre Arme fuchtelten, deuteten zu den Feldern hinüber, wo der Hof ihres Vaters, verdeckt von Hecken, lag. Sie rief: Er hat mich fortgeschickt, weil der Beamte konnnt... Ich habe den Beamten gesehen, mit ihm den Arbeiter, der das Vieh zur Versteigerung treiben soll... Er hat mich fortgeschickt... nun ist er ganz allein im Haus... Es gibt ein Unglück..." Atemlos stand sie vor den beiden Männern und sah unruhig in ihre Augen, als erwartete sie von ihnen Hilfe. Sie war noch unter zwanzig, eher zart als kräftig. Ihr gar nicht derbes Gesicht unter dem wirren blonden Haar war in Schweiß gebadet. Warum bist du gerannt? Willst du wen holen?"- Den Lehrer! Der Lehrer meint's gut mit uns!" Sie rannte fort. Die beiden sahen ihr kopfschüttelnd nach. Schweigend gingen sie weiter. Ein Pfad führte von der Landstraße ab zum Gehöft. Dort hinten, der schmalen Rückseite des Hauses gegenüber, stand ein Mann, der seine Aufmerksamkeit auf die in seinem Blickbereich liegenden Ausgänge gerichtet hielt. Es war der Arbeiter, der mit dem Gerichtsvollzieher gekommen war. Der Bau war von jener älteren Art, die Mensch und Tier noch unter einem Dach vereint. Das breite behäbige Haus ließ auf den Wohlstand seines längst ge- storbenen Erbauers schließen. Aus dem Innern scholl gedämpft dos Bellen eines Hundes. Der Arbeiter erklärte den beiden nähergekommenen Bauern, daß Wrist dem Gerichtsvollzieher den Eintritt in sein Haus verwehrt hotte. Anscheinend hatte der alte Bauer so oerzweifelt fest mit einem Kredit der Bank gerechnet, daß er jetzt, nach seiner Rückkehr aus der Stadt mit gescheiterten Hoffnungen, den Kopf verloren hatte und «inen ganz sinnlosen Widerstand wagte. Sein Vieh, das er nicht hergeben wollte, auf die Weiden eines Nachbarn zu führen, um es so dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen dies hatte ihm ein Ge- fühl von Stolz von vornherein verboten. Er faß in seinem Trotz ver- barrikadiert wie in einer zum Fall verurteilten Festung. Die Bauern gingen zur Einsahrtsseite hinüber. Ueber dem Ein- gang stand in schwer entzifferbaren Lettern ein Spruch:Wer Gott vertraut, Hot wohl gebaut im Himmel und auf Erden." Dem Tor gegenüber fanden die Bauern den Gerichtsvollzieher, der ihnen aufmerksam entgegensah. Die Bauern fragten ihn: Worauf wartet Ihr? Was habt Ihr vor?"

Die Tochter Wrists hatte den Beamten gebeten, bis zum Er- scheinen des Lehrers mit der Dollstreckung zu warten. Von der Wiv kung des Lehrers versprach sie sich alles. In seiner heiklen Lage war der Gerichtsvollzieher dazu bereit. Seine Worte ließen erkennen, daß er, mit persönlicher Unbeteiligtheit, nur dienst- und pflichtbewußt dem verschlossenen Tor gegenüberstand, auf dem sein scharfer, hell- blauer Blick während der ganzen Unterhaltung haften blieb. Cr war ein untersetzter Mann mit rotem Gesicht und goldblondem Schnurrbart. Wie er sagte, wartete er das Eingreifen des Lehrers ab, um Wrist das Schlimmste zu ersparen. Das Bellen des Hundes aus dem Hause scholl fort. Es dauerte nicht lange, so kam der Lehrer, von dem verzagten, unglücklichen Mädchen begleitet. Der Lehrer ging sogleich ans Tor, sichtbar faßte er«inen Entschluß dann klopfte er mit der Faust und rief: Wrist! seid nicht halsstarrig! öffnet! ich bin's! Ihr wißt, ich bin euer Freund!" Es blieb still. Dann heulte der Hund wieder los. Der Lehrer hatte die Faust zum abermaligen Klopfen angesetzt da öffnete sich der mannshohe Eingang im Tor und Wrist stand uns gegen- über. Die Zinken nach oben, drohte die Heugabel neben ihm. Aber seine Stimm« war ganz ruhig. Sein Gesicht war gelblich. Was wollt Ihr?" fragte er. Nehmt Vernunft an", sagte der Lehrer,hier ist ein Beamter, dem Ihr gehorchen müßt." Geht von meinem Hof", antwortete der Bauer. Neben ihm, wie ein Bundesgenosse sein riesiger Hund, der uns ansah und schwieg. Der Bauer überragte den Lehrer um Kopfeslänge, mächtig hingebaut machte er ihn geradezu schmal und klein. Vater..." begann das ängstliche Mädchen. Komm du herein", befahl er. Das Mädchen sah fragend den Lehrer an. Der winkte ihr mit den Augen zu. Mit schmalen Schultern ging sie an ihrem Vater vorbei ins Haus. Auf diesen Augenblick schien der Beamte gewartet zu haben. Er schickte sich an, dem Mädchen zu folgen. Sosort ging Wrist mit der Heugabel vor der Lehrer, der ein Blut­vergießen fürchtete, sprang dem Bauern an die Brust, er hielt ihn an den Aufschlägen seiner Weste gepackt, so daß die Heugabel, die der Bauer in der Linken hielt, nunmehr nur ein Hemmnis bei der Verteidigung für ihn war, er konnte sie nicht mehr zum Stoß an- setzen. Der Beamte umschlang seine Arme wie mit Fesieln. Von drinnen war für einen Augenblick Aufruhr zu hören das Mädchen schrie, die Kühe stießen ein kurzes Gebrüll aus, ein wildes Ge- trappel, dazu das Keuchen des angefallenen Mannes, das Aechzen des Kampfes... Aber sie hatten nicht mit dem Tier gerechnet: Schon fuhr der Hund dem Lehrer an den Hals, der Entsetzte ließ los, sprang zurück, riß die andern mit sich der Bauer hatte schon vorher die Heugabel neben sich hingeworfen, mit den Fäusten griff er vor, er gab dem Lehrer einen Stoß vor die Brust, der den Mann noch einmal zurücktaumeln machte der Hund fuhr mit wüstem Gekläff zurück, für einen Augenblick stand er wie ein Sieger strack aufgerichtet neben seinem Herrn und sah aus unergründlich dösen Augen die Feinde an. Gleich darauf war die Tür zugeschlagen. Für einen Augenblick herrscht« Stille. Dann schwang sich der Beamte auf ein Rad und radette davon. Der Arbeiter blieb. Die beiden Bauern hatten sich schon vorher zurückgezogen, sie hatten dem Kampf nur aus dem Hintergrund zugesehen. Stumm sahen sie noch immer herüber. Was sollten sie dem unglücklichen, freiwillig Eingeschlossenen wünschen? Ein möglichst frühzeitiges Ende dieses verzweifelten Zuftandes, in den sein trotziges Herz ihn hineingeführt hatte, in dem es keine Hilfe von außen für ihn gab wäre dies nicht das glücklichste Ende gewesen? Mittlerweile kamen mehr und immer mehr Leute aus dem Dorf, viel« Frauen darunter, auch Kinder. Sie blieben in leisem

Gespräch auf dem Weg. der zum Anwesen führt«. Der Himmel wat jetzt so unschuldig blau, als wäre er es Zell seines Lebens gewesen; unter der Sonne funkelten Gesträuch und Felder, und in der Ferne die bläulichen Hügel standen wie leichter Nebel. Es verging ein Stück Zeit, indes aus dem Hause die Laute der Tiere vernehmlich waren. Vom Bauern blieb nichts zu sehen noch zu hören. Neben dem Lehrer standen jetzt mehrere, augenscheinlich in der Gemeinde einflußreiche Männer in der Nähe des Eingangs... Sie verhietten sich schweigsam. Dann wurde die Pause durch ein Ereignis jäh abgeschnitten. Der Gerichtsvollzieher, in seinem Gefolge drei Landjäger mtt übergehängtem Gewehr, überdies eine Waffe am Koppel, kamen auf den Weg geradelt. Dies exakte rasche Auftauchen, die militärische Art. wie sie von ihren Rädern sprangen, erfüllte die Zuschauer mit dem ängstlichen Gefühl, daß es jetzt nicht mehr um Geld, nicht mehr um Besitz sondern um mehr noch, um Menschenleben ging. Die schwärende Empfindung, daß in der nächsten Stunde hier ein uner- bittlicher Kampf zwischen Menschen ausgetragen würde, beengte manchem unter den Zuschauern die Brust. Und ohne Verzug wurde der Kampf vorbereitet. Die Landjäger gingen zum Tor, einer von ihnen klopfte mit dem Gewehrschaft dröhnend gegen das Holz und befahl zu öffnen feine Stimme machte auch den am wenigsten Be- teiligten den Atem stocken. Keine Antwort. Nur der Hund heulte auf. Dann schwieg auch er. Ein knapper Befehl an die inzwischen noch angewachsene Menge, sich zu entfernen und zu dreien näherte sich die bewaffnete Gewalt dem Tor, um es aufzusprengen. Unvermutet befanden sich eine Axt und andere Werkzeuge in ihren Händen. Entschlossen be- gannen sie ihren Angriff. Aber ehe die Leute aus dem Dorf die unter der Wucht dieses plötzlichen Unternehmens aufgeregten Gedanken noch recht konzen- triert hatten nahm mitten in der Menge ein Gemurmel seinen Ausgang es pflanzte sich wellengleich fort schwoll an. Und nun nahmen alle zugleich etwas wahr, was sie aufschreien ließ... Feine und leichte Schwaden entstiegen dem Haus«. Sogleich wurde ihnen der Brandgeruch merkbar, das furchtbare Brüllen von den Ställen her, das eingesetzt hatte, bekam jetzt einen anderen Sinn. Stimmengewirr in der Menge eine Kehle hoch über allen:Der Bauer verbrennt mit seinem Haus!" Die Landjäger traten zurück, sie starrten zum Giebel Rauch. Wiehern. Heulen, Gebrüll. Nur vom Bauern selber kein Laut. Entjchtossen stürzten sie sich wieder auf den Eingang los die Tür brach auf aber durch Qualm zurückgeschlagen,' konnten die Rückwärtsweichenden nur noch er- kennen, daß die Diele sessellos brannte. Ein Landjäger rannte die lange Seite des Hauses entlang, von der Rückseite her klirrte zer- trümmertes Fensterglas.Wasier! Löschen!" Gleich darauf kam der Landjäger zurück, die Tochter des Bauern hing bewußtlos über die Schulter. Geschrei füllte die Luft. Der Bauer verbrennt! Die Tiere verbrennen! Ein Mann aus dem Dorf war aufs Rad gestiegen und schon davon. Und in der nächsten Viertelstunde, in der nach einem letzten wilden Gebrüll kein Laut außer Knacken und Brechen und Prasseln vom brennenden Hause zu vernehmen war, starrte die zusammen- geballte Menge in die herauszüngelnden Flammen. Ohnmächtig sahen die Beamten zu. Endlich kamen die Motorspritzen angerattert die Feuer schlugen dicht beisammen obenaus wie eine Reih« triumphierender Rachgeister. Die Sparren verkohlten. Löscharbeit war umsonst. Tier und Mensch waren im Brand zugrunde gegangen. Das gerettete Mädchen kam mit dem Leben aber nicht mit unversehrtem Gemüt davon. Später kamen die Bauern, die sich anfangs im Hintergründe des Belagerungskampfes gehalten hatten kurz vor dem Ausbruch des Brandes aber verschwunden waren, vor Gericht. Aber ihre Schuld war nicht nachzuweisen, das Urteil sprach sie von der Anklage frei. Und so gilt allgemein die wohlbegründete Ansicht, daß der Bauer Wrist selber dies Ende seines Hofes herbeigeführt hat.

Sefenheim

Unvergeßlich ist der Blick von der Plättform des Straß- burger Münsters. Ueber enge, schmale, winklige Gassen der Altstadt schweift das Auge in die Ferne, über die breite, grüne Ebene des Rheinstroms bis hinüber nach den dunklen Höhen des tannen - bewaldeten Schwarzwaldgebirges. Breit und gewaltig ziehen auf der anderen Rheinseite die Vogesen nach Belsort hinab. Ein gesegnetes, blühendes Land von unendlicher Lieblichkeit liegt zwischen den beiden Gebirgen. Weinberge, Hopfenfelder, weite Aecker und Wiesen, Obstbäume in reicher Fülle, und von ihnen umrahmt kleine Dörfer und Städte: Das ist das Elsaß, wie es schon Goethe erlebt hat. An klaren, hellen Tagen folgt das Auge mühelos dem Lauf der Bahnlinie, die sich von Straßburg nach Nordwesten zieht. An einem kleinen Dorfe macht sie halt. Es ist Sefenheim, die Heimat der Friederike Brion . Etwa zwei bis drei Stunden braucht man, wenn man den Weg auf der schönen Landstraße, zwischen Acker und Wiese und Feld, mit dem Fahrrad, dem Hauptbeförderungsmittel der Landleute, zurück- legt. Es ist also ein tüchtiger Weg. den Goethe hier zurückgelegt hat, oft spät abends oder nachts, wenn er zu Pferde die Geliebte besuchte, ein Weg allerdings, dessen Lieblichkeit auch heute noch eindrucksvoll und erfrischend ist Wenige Kilometer vor Sesenheim liegt Drusenhelm, eine freundliche, kleine Ortschaft. Hier verweilte Goethe vor seinem ersten Besuch in Sesenheim und überredete den Wirtssohn, ihm seine Kleider zu borgen, um die jungen Mädchen im Pfarrhaus, die ihn kurz vor- her, ebenfalls in einer lustigen Berkleidung, tennengelernt hatten, zu überraschen. Wiesenfußpsade führen auch heute noch, wie damals, in der Richtung der breiten Chaussee auf das nächstliegende Dörfchen, auf Sesenheim , zu. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn plötzlich der spitze Kirchturm auftagt, wenn man dann den Ort selbst betritt, in dem sich eine Tragödie abgespielt hat, die man auch heute noch nicht bis ins Letzte kennt. Gegenwärtig ist die Zeit der Ernte, und wieder ist es ganz so, wie Goethe es inDichtung und W a h r h e i l" beschrieben hat: Still und menschenleer liegen Straßen und Häuser. Ueberall sind die Haustüren, die Fenster verschlossen. Nur da und dort tönt die Stimme eines spielenden Kindes oder das Anschlagen eines Wachhundes durch die fast bedrückende Stille. Wir suchen nach dem alten Pfarrhaus, das in seiner schlichten Schönheit und seinen malerischen Reizen den Dichter so angeheimelt hat. Doch nur die alte Scheune ist noch erhalten geblieben. Ein neues Gebäude, andere Menschen, eine andere Zeit lösten das Jahr- hundert der Friederike Brion ab. Dennoch ist bis zum heutigen Tage ihr Andenken dort lebendig geblieben, und die Mütter der heirats- fähigen Töchter versäumen nicht, warnend auf dieses klassische Beispiel hinzuweisen, sobald eine von ihnen einen sozial über ihr stehenden Erwählten oder sogar einenStudierten" auserkoren hat, und ihr Mißtrauen ist nur durch den Ehering und den Trauschein zu überwinden.Was wellet Sie?" meint eine solche Mutter ent-

schuldigend und mit einem sorgenden Blick auf ihr blühendes, hoch- gewachsenesMaidle", das mit ihrer schlanken, biegsamen Gestalt und dem reichen Blondhaar wie ein Abbild der Friederike wirkt, i möcht's net erlewe, daß es ihr au so geht..." Und man kann ihr nicht widersprechen, denn nicht nur der Goethebiograph, sondern auch die schlichte Frau aus dem Volke, für die Geburt, Heirat und Tod die großen drei Ereignisse des Lebens bedeuten, hat recht... Dann steht man in dem kleinen Göethe-Musemn, das alles auf­bewahrt hat, was an den Liebesbund Goethes und Friederikes erinnert: Briefe, Bücher, Bilder, gepreßte Blumen, alte, vergilbte Blätter, bescheidene Schmuckstücke. Es sind tote Gegenstände, aber aus ihnen steigen lebendiges Fühlen und Hoffen, Glückseligkeit, Ent- täuschung, Schmerz, Schuld und Verzweiflung auf, wie sie zwei junge Menschen durchpulsten. Das Bild der lieblichen Pfarrers- tochter in ihrer Nationaltracht, wie sie Goethe beschrieben hat, gleitet unsichtbar durch den Raum, und die stillen Abende im Pfarrhaus, die Gastfreundschaft des freundlichen, in sich gekehrten Vaters, die prüfenden Blicke der hochgewachsenen, immer noch ansehnlichen Mutter, die heitere Gesellschaft der älteren Schwester und des jüngeren Bruders alles das fügt sich ein in diesen einfachen, länd- lichen Rahmen, der sich verhältnismäßig wenig verändert hat. Die Häuser sind ja heute etwas anders gebaut; Technik und Zivilisation haben auch hier vieles gewandelt; aber das Leben der Bewohner flieht auch heute noch still und ohne die Hetze der Großstadt dahin. Wohl sieht man nicht mehr die ansprechende deutsche Tracht mit den, schwarzen, knappen Mieder und der schwarzen Taffetschürze, aber die heranwachsenden jungen Dorsmädchen, die sich so lieblich aus- nehmen in dieser von Feldern eingerahmten Dorfidylle, scheinen genau so wenig in städtisches Getriebe zu passen, wie Friederike Brion , als sie Goethe in Straßburg besuchte. Aus dem alten Friedhof liegen auch die Gräber des Vaters und der Mutter Brion . Die man allhie zu Grab getragen, von ihnen wird man immer sagen, dieweil ihr Kind ein Liebesleben dem größten Dichter hat gegeben." Das ist die Grabschrift, die einen verklärenden, versöhnenden Glanz über die Liebestragödie von Sesenheim zu breiten versucht. lieber allem menschlichen Irren, allem Schmerz, aller Vergänglichkeit aber wölbt sich wie zur Zeit der Liebesnächte Goethes und Friede- rikes der tiefblaue Himmel des Elsaß, der den Glanz dieser lieblichen Landschaft widerzustrahlen scheint, und wie zur Zeit Goethes stehen noch heute tage-, ja wochenlang Wolken über den entfernten Gebiraen am Horizont, ohne jemals den reinen Himmel dieser wundersamen Ebene zu trüben. Rasche, vorübergehende Gewitter erquicken das Land, aber Sturm und Regen weichen schnell der Sonne die nltt.- in h-itere und blühende Farben hüllt. Und fast will es' unfastbar scheinen, daß in einem solchen Lande der Schönheit und der idyllischen Dorfer, des blauen Himmels und der gesegneten Ieldev n-J r. Erlebnisse, furchtbarste Tragödien des e nzeln n Mensen ganzen Volkes abgespielt habe« könne«. 3 �e,