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Ar. 427-» 48. Jahrgang
4. Beilage des Vorwärts
Sonntag,-Ii. Oktober 1931
Krude 8. Schulz:&£eddi Uuifl fOl't
Das Auto ist um die Ecke gebogen und schiebt sich mm in raschem Tempo durch die Häuserblocks hindurch..Du sollst doch nicht vor den, Auto über den Damm laufen", rust eine dünn«, er- schreckte Kinderstimme:.0 Gott, jetzt ist es überfahren". Der Tan ist ganz heiser und atemlos geworden. Mit schneeweißem Gesicht sitzt Heddi aus der Türschwelle. Unter der ZiMrcttenschochtel, die sie rasch zwischen zwei Schuhkartons vorwartsgeschoben hat, liegt ein gelbes Hcrbstblatt, dos der große Ahorn über ihr eben ab- geschüttelt hat. Die Kinderhand bewegt sehr vorsichtig die Zigaretten- schachtet zurück. Die Augen blicken furchtsam und mitleidig aus das Blatt, das allmählich frei wird und seine gelb-bronze-rote Pracht zeigt.Oh", sagt Heddi und lächelt. Ueber ihr Gesicht strömt ein« zarte Röte. Ihre Augenlider flattern ein paarmal auf und ob, als wollten sie den Anblick des übersahrcnen Blattes von den Augen sortwischen. Die dünnen Finger heben das Blatt auf und legen es in die Zigarettenschachtel.Komm, wir wollen dich nach Hause fahren." .Borsicht, langsamer!" sagt das Kind dann streng und mit rauher Stimme. Die Zigarettenschachtel zwischen den Schuhkartons setzt sich wieder in Bewegung. Heddi!" Es ist viel Lärm auf der Straß«: aber klang da nicht ihr Name?5)cddi!" Die Hand zuckt, die Zigarettenschachtel steht still. Beunruhigt blickt Heddi in die Höhe. In der Stimme schwingt ein Ton, den sie nicht liebt. Sie weiß, die Mutter ist wieder un- zufrieden mit ihr. Sie kennt die Nünance ganz genau: die Mutter ist oft mit ihr unzusriedcn. Ein kleiner, kalter Duck legt stch stets über Heddis Magen, wenn die Mutter sie in diesem Ton ruft. Die Bewegung, die die Mutter jetzt macht, heißt: heraufkommen.Ja", nickt Heddi eifrig. Die beiden Schuhkartons unter dem Arm in einem klappert die Zigarcttenfchachtel mit dem Ahornblatt stolpert Heddi die Treppen herauf. Ihre langen, flinken Beine wollen immer noch flinker sei«, und so kommt es, daß sie kurz vor dem Absatz der zweiten Etage ausrutscht und ein paar Stufen zurückgleitct. Die Pappkartons landen am Ende der Treppe. Knie und Ellenbogen tun weh: aber dafür ist jetzt keine Zeit. Heddi holt rasch ihre Schachteln zurück und läuft bis zur Wohnung herauf. Atemlos klingelt sie. Wie lange bleibst du denn?" Die Mutter ist sehr böse. Heddi schluckt und sieht auf den Fußboden, wo ihre beiden Füße stehen m Schuhen, von deren Sohlen die feuchten Hcrbstbläter wild her- vorwuchern. Ueber Heddi braust die zairkend klagende Stimme der Mutter. Heddi hört:.Schon wieder nicht" und.niemals" undwie oft soll ich es dir sagen" undandere Kinder machen ihren Eltern Freude". Heddi denkt: La, ich hätte mir die Füße unten abtreten müssen und vor der Korridortür nochmol", und dann steigt die Stimme der Mutter plötzlich schrill in die Höhe:So, nun hol' es dir jetzt gleich."Ja", sagt Heddi hiljlos, denn sie weiß nicht, was sie sich holen soll,.ja, gleich". Aber sie steht da und rührt sich nicht vom Platz.Na, marsch." Für Heddi ist die Welt riesengroß und einsam in diesem Augenblick. Sie beginnt, vor Verlassenheit zu weinen. Dabei fühlt sie, daß die Mutter auf eine Erklärung wartet.Ich", schluchzt sie,ich weiß ja nicht, was ich holen soll." Die Mutter schüttelt das Kind zornig bei der Schulter.Mit dir kann man reden, wie mit einem Stück Holz." Plötzlich fängt sie an zu weinen:Daß ich auch mit einem solchen Kind gestrast sein muß." Heddi hat jetzt jedes Wort gehört. Sie findet, daß die Mutter recht hat. Nein, sie macht ihren Eltern keine Freude: die Füße hat sie sich auch nicht abgetreten. Ihr verheultes Gesichtchen hobt sich zu dem Gesicht der Mutter empor..Bitte, fei doch nicht böse: ich will ja..." dann hört Heddi auf: denn der Satz hat in ihren Gedanken kein Ende.Muter, bitte, wein doch nicht mehr", sagt sie dann erschüttert, als die Mutter noch immer das Taschentuch an die feucht glänzenden blauen Augen führt. Die Mutter blickt herunter und sieht den Herbstblätterkranz an 5ieddis Schuhen. Spuren davon ziehen stch von der Eingangstür her über den Fußboden. Das Taschentuch hat jetzt Ruhe: ihre Stimme klingt wieder ganz klar und zornig:Und die Füße hast du dir auch nicht abgetreten!" Endlich erfährt Heddi auch, weshalb sie heraufgerufen wurde. Sie hat vergessen, im Wohnzimmer Staub zu wischen, eh« sie spielen ging. Das soll sie jetzt nachholen.Aber erst die Füße abtreten und den Schmutz da wegfegen." Heddi reibt ihre Sohlen an der Strohmatte vor der Entreetür, bis gewiß kein Stäubchen mehr daran haftet. Dann nimmt sie Handfeger und Müllfchippe und fegt die Matt« ob und den Korridor. Als das geta« ist. holt sie sich das Staubtuch und geht ins Wohn- zimmer. Sie hat jede Bewegung brav und exakt wie ein kleiner Automat ausgeführt. Im Wohnzimmer fängt sie mit ihrer Arbeit beim Bertiko an. Sie muß auf die Fußbank steigen, um über die ganze Platte reichen zu können. Mit einem Pinsel staubt sie vor- schriftsmäßig die kleinen porzellanenen Nippes ab. Die runde Kugel,
in der Goldfische an dünnen Stielen hin und her zittern, wenn man die Kugel schüttelt, liebt sie besonders. Aber sie bewegt sie nur einmal ganz zaghaft und macht dann ihre Arbeit weiter. Dann kommt das Plüschsofa heran mit dem Tisch davor und den beiden Sesseln, ein ganzes Regiment von Säulen und Eäulchen und Schnitzwerk. Bor lauter Konzentration auf diese Arbeit ver- gißt Heddi ihren Kummer. Das ist, wie sie es im stillen immer nennt, die schlimme Zimmerseite. Wenn die fertig ist, geht es rasch vorwärts. Aber auf dieser Seite steht auch noch die Nähmaschine. Oben, Kasten und Brett, das ist rasch getan. Doch das eiserne Gestell von schwarzem, goldbronziertem Blumengerank mit dem Triebrad ist noch ein böses Stück. Als Heddi damit fertig ist, ist sie vergnügt. Sie setzt sich auf das Trittbrett, ruckt ein wenig an dem Treibriemen und beginnt zu schaukeln. Bumm", macht es. Ein fürchterlich lauter, hohler Ton. Heddi bleibt vor Schreck das Herz stehen. Die Mutter reißt die Tür auf. Sie sieht das Kind unter der Nähmaschine hocken, zerrt es hervor: So nimmst du dir meine Worte zu Herzen!" Heddi ist blaß: sie schweigt. Wenn nur die Nähmaschine nicht kaputt ist. Da sagt es die Mutter:Wenn du die Nähmaschine kaputt gemacht hast!" Eine fürchterliche Drohung schwingt für Heddi in dem Satz. Die Mutter hebt den Kasten ob, denkt: ich Hab vergessen, die Nähmaschine ab- zustellen: hoffentlich ist die Nadel ganz geblieben; es ist meine letzte und ich will heute noch nähen. Die Nadel ist zerbrochen. Die Mutter ist ärgerlich, über sich ebenso wie über Heddi. Aber der Sag:So, jetzt ist die Näh- Maschine kaputt!" klingt Heddi als vernichtender Urteilsspruch. Die Mutter meint es nicht so schlimm. Sie findet nur, daß es ganz nützlich ist, diesem verspielten, verträumten Mädel einen kleinen Schreck einzujagen. Schließlich kosten Nähnwschinennadcln auch Geld und jetzt muß sie sogar gleich fort gehen, um neue ein- zukaufen. Sie stülpt mit einem nachdrücklichen Seufzet den Kasten wieder auf und geht aus dem Zimmer. An der Tür dreht sie sich noch einmal um:Ich geh jetzt fort." Heddi steht da mit ihrem Staubtuch und den drei guten Zimmer- feiten. Die Nähmaschine ist kaputt. Die Mutter geht jetzt weg. Die Mutter war sehr traurig, daran trägt sie, Heddi, schuld. Heddi weint nicht, sie schluckt nur von Zeit zu Zeit. Ihr ist, als tue in- wendig irgend etwas weh. Draußen klappt die Korridortür. In Heddi steigt eine namenlose Angst auf. Sie steht sehr lange un- beweglich an einem Fleck. Dann reißt sie sich doch zusammen und setzt ihr Staubtuch an der Kommode wieder in Tättgkcit. Auf der Kommode steht links ein Aschenbecher aus gepreßtem Glas, rechts einer aus grünem Majolika. In der Mitte eine Base aus weißem Porzellan. Für diese Base empfindet Heddi ein« Art Zärtlichkeit. In ihrer glatten Oberfläche fängt sich das Licht und zeichnet die Form nach. Seitwärts sitzt als Schmuck ein kleiner blauglänzender Bogel   auf der Base. Heddi wischt ihn mit dem Staubtuch besonders vorsichtig ab, beim Kopf airfangend zum Schwanz herunter. Sie nimmt sich in acht, daß sie ihm nicht hart in die Augen stößt.Lieber kleiner Bogel", flüstert sie dabei, und dann nimmt sie den bloßen Finger und fährt noch einmal über seinen Rücken und wiederholt die Worte:Lieber kleiner Bogel." Sie chat dabei vergessen, daß der kleine Bogel   mit einer großen Base beschwert ist. Nun stürzt ihr das Stück aus den Händen, die allzu vorsichtig das kleine blaue Tier faßten, und zerspringt in Scherben. An einem kleinen Stückchen weihen Porzellan sitzt un- versehet der blaue Bogel. Das ist mehr, als Heddi ertragen kann. Was zu ihren Füßen in Scherben liegt, ist nicht mehr eine Bas« aus Porzellan, es ist die ganze heiße Sehnsucht, ein Kind zu sein, mit dem die Eltern nicht gestraft sind. Durch Heddis achtjährigen Kopf schießen die Untaten, die sie heute begangen hat: Staubwischen vergessen, Füße nicht ab- getreten, Nähmaschine kaputt gemacht, und nun auch noch die Base zerbochcn. Sie fühlt, das alles zusammen ist mehr, als man Eltern zumuten kann. Die Scherben sucht sie zusammen, legt sie auf den Tisch. Dann geht sie auf den Korridor, wo ihre Schulmoppe hängt. Ans einem Heft reißt sie ein Blatt heraus, schreibt darauf:Ich habe die Base zerschlagen, aber sie ist mir heruntergefallen", in großer, ungeschickter Bleistiftschrift. Den Zettel legt sie zu den Scherben. Dann zieht sie ihr Mäntelchen an, stülpt die kleine grüne Mütze auf, greift nach der Klinke der Korridortür. Plötzlich kehrt sie wieder um. Sie geht noch einmal ins Wohnzimmer, nimmt den kleinen Bogel van dem Scherbenbcrg herunter, läßt ihn mit der linken Hand, die ihn fest umschließt, in die Manteltasche gleiten. Nun geht sie aus der Sttibe. Auf dem Korridor liegt noch ein zertretenes Blatt, das vorhin wahrscheinlich von ihren Schuhsohlen gefallen ist. Sie hebt es auf,.trägt es zum MUlleiincr. Jetzt ist getan, was noch möglich war. Die Korridortür schnappt hinter ihr zu. Durch die Straßen geht mit eiligen Schritten ein kleines blasses
Mädchen. Das glatte hellblonde Haar hängt vor der Mütze hervor weit ins Gesicht, da dadurch ein unwirklich schmales Aussehen bc- kamint. Die Hände sind in den Manteltaschen vergraben: die linke umschließt nach immer den Parzellanvogel. Heddi geht sehr rasch; sie hat ein Ziel. Sic will zu Tante Lotte nach Magdeburg  . Tante Lotte hat vor einem Jahr die Elten: bejuäzt. Sie war immer freundlich und vergnügt, und Heddi liebt sie sehr. Sie hat auch zu Heddi gesagt:Komm bald einmal zu mir, ich Hab einen hübschen Garten." Heddi hat sich die Einladung sehr genau gemerkt. Sie weiß auch, wo der Weg nach Magdeburg   geht. Einmal, als sie Sonntags mit den Eltern spazieren ging, bald, nachdem Tante Lotte abgereist war, hat der Vater an einer breiten Chaussee gesagt:Hier herunter kommt man nach Magdeburg  ." Wenn Heddi die Augen zumacht, sieht sie ganz deutlich, an welcher Stelle diese Chaussee abzweigte: die gerade lange Straße heruitter, dann links herum am Bahnhof den Weg geradeaus. Das ist sehr weit, ein Somttags- spaziergang, von dem man müde nach Hause kommt. Und der Bater hat gesagt, bis nach Magdeburg   sei es noch viel, viel weiter. Es ist schon spät am Nachmittag. Heddi nimmt sich vor, sich im Walde nicht zu fürchten, auch wenn es dunkel wird. Sie will auch nicht müde werden, wie manchmal des Sonntags beim Spazierengehen. Sie muß zu Tante Lotte nach Magdeburg  . Heddi hat großes Bertrauen zu ihr. Vielleicht kann sie ihr helfen, ein Kind zu werden, das keine Strafe für die Eltern ist. Alles das überlegt sich Heddi. Ihre Beine bewegen sich flink vorwärts. Bisweilen sieht sich ein Passant nach dem Kind um, in dessen kleinem weißen Gesicht der festgeschlossene Mund wie ein dünner roter Strich steht und dessen Augen groß und dunkel nach innen blicken. Heddi findet ihren Weg mit traumwandlerischer Sicherheit: die Straße, die bis zum Bahnhof führt, den schmalen Weg in den Wald. Als sie ihn erreicht hat, beginnt es schon zu dämmern. Heddi ist sich gar nicht bewußt, daß sie jetzt ganz allein ist. In ihrem Herzen brennt die Sehnsucht noch Zärtlichkeit. Manchmal streichelt ihre Hand das Porzellanftück in der Manteltasche und sie murmelt leise: Kleiner Vogel" oderTante Lottchen". lind mit beidem drückt sie genau die gleiche Sehnsucht aus. Heddi kommt an die breite Chaussee. Sie weiß nicht, daß sie tagelang marschieren müßte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie ist froh, so weit zu sein. Aber zugleich spürt sie jetzt in dem dunklen Wolde jähe Furcht in sich aufsteigen. Ihre Beine zittern vor Angst und Müdigkeit. Sie versucht zu rennen. Nun muß sie doch bald am Eiche des Weges, bald bei Tante Lottchen sein. Die Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie friert. Ein Stück kommt sie noch in ihrer eiligen Flucht vorwärts. Plötzlich stolpert sie, fällt, bleibt am Wege liegen, ein kleines, zusammengesunkenes Kleiderbündel. Ein Chauffeur entdeckt es in der Morgendämmerung und bringt es in seinem Wagen mit zur Stadt. Heddi weiß von oll dem nichts. Sie ist bewußtlos. Die Nacht war kalt und feucht; in ihrem Körper brennt Fieber. Als sie aufwacht, weiß sie nicht, daß Tage fett ihrer Flucht vergangen sind. Sie liegt in einem fremden weißen Bett. Aber daneben sitzt die Mutter. Heddi wird heiß vor Schreck. Ihr fällt sofort ein, daß die Nähmaschine kaputt ist und die Vase zer- schlagen. Mit kraftloser Stimme formt sie die Worte:Mutter, bist du böse?" Die Mutter antwortet nicht, aber Heddi spürt, daß etwas Kühles sich in ihre Hände schiebt. Die tastenden Finger fühlen den kleinen Parzellanvogel. Heddi lächelt: ihr Kopf dreht sich zufrieden auf die Seit«. Ihr. Atem geht langsam und gleichmäßig. Sie sMäft ein, schläft so sanft, als hätte sie die Worte schon gehört, die crumtch einer langen Pause sich aus dem Schluchzen der Mutter formen: Nein,'mein Kind." Kuberkelbastillen und lebende Pflanzen Ueberaus interessante Versuche über das Verhallen von lebenden Pflanzen gegenüber Tuberkelbazillen hat Prof. Dr. Hans Much   in Hamburg   unternommen. Er hat dabei festgestellt, daß lebende Pflanzen auf ein« Impfung mit lebenden Tuberkelbazillen in ganz verschiedener Weise antworten. So gibt es Pslanzen, die in kurzer Zeit die eingebrachten Tuberkelbazillen völlig aufzulösen imstande sind, so daß weder der mikroskopische noch der tierexperimentelle Nachweis mehr möglich ist. Hierher gehören besonders der Nachtschatten, die Tabakpflanze, der Staudcn-Gartensalat, der 5tnob- lauch u. a. Andere Pflanzen wiederum können die Tuberkelbazillen weder auflösen noch abtöten, wachsen aber trotzdem weiter, selbst wenn sie eine ungeheure Masse Bazillen erhalten haben, so z.B. das Bilsenkraut, die Sonnenblume, der Kürbis, der Buchweizen usw. Eine dritte Reihe von Pslanzen wiederum steht in der Mitte und läßt zwar die Tuberkelbazillen am Leben, doch hebt sie deren An- steckungskraft auf. Diese bemerkenswerte biologische Abänderung, die im tierischen Körper Jahr« beansprucht, geht in der Pflanz« in äußerst kurzer Zeit vor sich. Die Schlußfolgerungen aus diesen Versuchen werden vielleicht noch große praktische Bedeutung ge- Winnen; sie eröffnen zugleich den Blick in ein ganz neues For- Ichungsgebiet, das Much   alsBiophysik" bezeichnet.