Ar. 56�.48. Jahrgang
Oiensiag, 1. Dezember 1931
BärgermeisterScholtzandSklareks Stürmische Auseinandersetzungen
Die gestrige SNarek.verhandluag war voller dramakifcher Zwischenfälle: ste stand unker dem Zeichen des tragischen Selbstmordes des Stadtrats Schüning und der heftigen Ausfälle der Brüder S klare? gegen den Bürgermeister Scholh. »Ich habe es nicht gewollt mit Schüning," ruft Leo Sklarek aus,„aber di« Wahrheit mußte hier an den Tag kommen. Das geht alles auf dos Konto von Scholtz, das behaupte ich noch einmal. Was er für«In Mensch ist, wird sich bei den Zeugenaussagen her� ausstellen Ich erkläre, daß der Obermagistrotsrat Schalldach Scholtz olles gesagt hat." Als Oderstaateanwalt von Steinaecker bat, den Bürgermeister doch in Schutz zu nehmen, ließ der Vorsitzende die goldenen Worte fallen: »Bei Leo Sklarek muß mau n'cht alles auf die Goldwaage legen." Wie sehr er mit diesem Ausspruch den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, bewies die Vernehmung des Stadtrats Nydahl. Als er Zeuge im E-erichtsfaal erschien, wußte überhaupt niemand, weswegen er geladen ist. Dann erinnerte sich plötzlich Leo Sklarek, daß er es gewesen, der ihn in einem seiner Wutausbrüche erwähnt hatte: Nydahl habe ihm gesagt, daß die Verträge der Gebrüder Sklarek im Magistrat glatt durchgingen und einstimmig angenommen würden. Der Zeuge Nydahl, der dienstlich eigentlich nie auch nur das ge- ringste mit den Gebrüdern Sklarek zu tun gehabt hatte, gibt zu, daß er gelegentlich einer Begegnung im Restaurant tatsächlich ge- äußert Hab«, die Vorlagen die Firma Sklarek betreffend würden vom Magistrot einstimmig angenommen. Was hatte aber Leo Sklarek in der Voruntersuchung nicht alles über den Stadtrat Nydahl im Zusammenhang mit diesem Gespräch gesagt, um die Korruption der Magistratsmitglieder zu schildern. Nydahl habe unmittelbar nach diesem Gespräch bei der Firma Sklarek Anzüge bestellt und nicht bezahlt: sobalo er Ihn in irgendeinem Restaurant getroffen habe, habe Nydahl ihn angepumpt. 300, 400 M.. das Geld aber nie zurückgegeben. Nydahl bestreitet olles ganz entschieden. Er hat in Wirklichkeit nur einmal von Leo Sklarek für einen armen Lehrer ein Darlehen in Höhe von 300 M. erhalten und das Geld in Raten von je 50 M. bezahlt. Worauf Leo Sklarek ein neues Darlehen in Höhe von Lvv M. für den Lehrer hergab: auch dieses sei zurück- gezahlt worden. Außerdem habe Leo Sklarek Mitgliedsbeiträge zugunsten von Waisen usw. gegeben. Die Anzüge, di« er bestellt habe, seien von ihm bezahlt worden, und zwar an Max Sklarek. Leo Sklarek entschuldigt sein« falschen Anschuldigungen in der Vor» Untersuchung mit folgender charakteristischen Begründung: Er habe einen jeden belastet, um nur aus der Untersuchuogshafi herauszukommen. Als arg übertrieben erwiesen sich auch nach dem Verlauf der gestrigen Verhandlung die Vorwürfe, die Leo Sklarek gegen den Bürgermeister Scholtz erhoben hat. Er schimpfte ihn einen Intriganten. den d«r Vorsitzende der eigenen Partei einen Leichcnlutscher genannt habe. Er habe die Sklarek-Afsäre nur aufgezogen, um den Llerbürgermeister Böß zu stürzen, weil er an besten Stelle wollte. Deshalb Hab« er für feine Aktion ausgerechnet den Zettpunkt ge- wählt, als der Oberbürgermeister in Amerika war. In Wirklichkeit fei er über alles bereits seit langem orientiert gewesen. Bürger. meister Scholtz bestreitet energisch, auch nur das geringste von irgend- -welchen Unregelmäßigkeiten in der geschäftlichen Tätigkeit der Firma Sklarek gewußt zu haben und schildert ausführlich, wie sich die Dinge vor der Verhaftung der Gebrüder Sklarek zugetragen haben. Am Montag, dem 23. September 4920. habe er und Karoing vom Bürgermeister des Bezirksamts Spandau dl« schriftliche Mit- teilung von Unregelmäßigkeiten erhalten. Der Obermagistrats- rat Brandis wurde von der chauptprüfungsstelle beaustragt, den Dingen nachzugehen. Die Stadt war geschädigt, da viel zu hohe Zahlungen geleistet waren. Es stellt« sich heraus, daß die
Brüder SNarek an diesen Unregelmäßigkeiten die Schuld trugen. Ich kam am 23. September mit dem Stadtkämmerer Lange überein, sofort den Polizeivizepräsiventen Dr. Weiß zu benachrichtigen. Ich habe auch den Oberburgermeister in Amerika benachrichtigt und bin der festen Überzeugung, daß. wäre er hier gewesen, er nicht anders gehandell hätte. Leo Sklarek schreit dem Zeugen ins Gesicht, daß er ihn und seine Brüder hätte rufen sollen.»Ich habe Sie nicht gerufen," erwidert Scholtz.„well ich in jener Nacht erkannt habe, daß die Stadt um viele hunderttausend Mark geschädigt worden war. Sie hätten ja ebenso verschwinden können wie erst vor kurzem der Bankdireklor Seiffert." Die Verteidigung hält dem Zeugen vor, daß er im Falle Kieburg anders gehandelt hat, obgleich dieser«ine Bilanzsälschung begangen hatte, um einen Verlust von 400 000 M. zu verschleiern. Es sei damals gegen Kieburg nicht strafrechtlich vorgegangen worden. Die Vorlage des Magistrats an di« Stadtverordnetenversammlung spreche nur von Unrichtigkeiten. Vors.: Als Sie die Vorlogen unterzeichneten, haben Sie da nicht das Wort Bilanzfälschung vermißt? Auch ein anderer Punkt wird angeschnitten: Ist dem Bürger- meister Scholtz etwas von dem Monopolvertrag bekannt ge- wesen. Der Zeuge bestreitet das. Er behauptet, daß sein Par» teifreund Benecke, mit dem er übrigens familiär verkehrte, ihm nichts davon erzählt habe. Der Vorsitzende meint, daß dieser Monopolvertrag für Herrn Beneck? bestimmt nicht so bedeutungslos gewesen sei, wie es der Zeuge darzustellen beliebt. Stadtrat Benecke fei ja verzweifelt darüber gewesen, daß er den Vertrag unterzeichnet habe: er Hobe sogar einen Anzug, den er bei Sklareks bestellt habe, sofort wieder abbestellt. Der frühere Stadtkämmerer K a r d i n g weiß nichts Wichtiges zu bekunden. Die stockende Zahlungsweise der Firma Sklarek sei nicht derartig gewesen, daß man ihm ein Darlehen hätte verweigern müssen. Der frühere Syndikus und jetzige zweite Bürgermeister Lang« soll über Einzelheiten zu einem späteren Zeitpunkt gehört werden. Ueber Kieburgs Verfehlungen hat er erst bei dessen Eni- lassung aus dem Dienst der Stadt gehört. Er selbst sei für eine Strafanzeige gewesen. Daß irgendjemand Kieburg habe schonen wollen, wisse er nicht. Heute. Dienstag, werden weiters Mitglieder des Magistrats als Zeugen vernommen. Max Manie und fein„Meldereiier". Das Schöffengericht Berlin- Mitte wird sich demnächst wieder mit einem neuen„W e t t s y st e m" von Max K l a n t e zu de- schäftigen haben. Gegen Klonte ist gemeinschaftlich mit mehreren anderen Angeklagten als feine Gehilfen von der Staatsanwalt- fchaft I Anklage wegen Betruges erhoben worden. Wie erinnerlich, hatte Max Klonte vor einer Reihe von Jahren durch den von ihm gegründeten Wettkonzern, durch den zahllose Leute große Summen verloren hatten, viel Aufsehen erregt, und er war im September 192S zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Max Klant« verfolgte aber sein« Ideen wester. Im Jahre 1929 gab er eine Zeitschrift„M eldereiter" heraus und gründete gleichzeitig in einem Lokal in der Oranienstraße ein Weit- düro. Er suchte nun Leute, die sich mit Kapital bis zu 1000 Mark an seinem Unternehmen beteiligen sollten. Er wollte«ine Ver- einigung gründen, die nach seinem neuesten System„totsichere" Wetten abschließen sollte. Von den Gewinnen sollten die Wetter 80 Prozent, die Weitvereinigung den Rest erhalten. Es fanden sich auch wieder verschiedene Leute, die überflüssiges Geld und Ber - trauen zu Klantcs„Wettglück" hatten. Die Anklage lautet auf Betrug, Urkundenfälschung und Vergehen gegen dos Rennwettgefstz.
Kompagnie Nazis als Angeklagte. Etrafanträge im Oranienburger Nationalfozialisten-prozeß. In dem Oranienburger Prozeß gegen die SS Na- t i o n a l I o z i a l i st e n, die sich in mehrwöchiger Beweisaufnahme vor dem Schnellfchöfsengericht in Oranienburg zu verantworten hatten, wurden am Montagabend nach längeren Ausführungen der Anklagevertreter die Strofanträge gestellt. Staatsanwaltschaftsrat Heif bentragte gegen 16 Angeklagte Freispruch mangels Beweises. gegen 38 Angeklagte wurden wegen des am 24. September verübten Landfriedensbruchs Strafen von einem Monat bis zu einem Jahr zwei Monaten Gefängnis be- antragt. Gegen den Stadtrat Fuchs, den Leiter der dortigen Ortsgruppe der NSDAP., wurden neun Monate Gcfäng- n i s beantragt. Einäscherung Fritz Kuneriö. Unser lieber Genosse und Mitkämpfer Fritz Kunert wurde am Montag in aller Stille im Krematorium Baumschulenweg ein- geäschert. Genosse Kunert hatte gewünscht, daß ihm seine lang- jährige Gattin und Kameradin Marie Kunert selbst einen Nach- ruf an seinem Sarge widmen sollte. In Erfüllung dieser schweren Pflicht schilderte Genossin Kunert den erschienenen Trauergästen und den Genossen des 16. Kreises das Loben ihres Gatten und unseres Genossen, ein Leben voller Pflichterfüllung und Kampf für den Sozialismus. — Wir werden das Andenken unseres verstorbenen Genossen Kunert stets in Ehren halten und uns bemühen, ihm nach- zueifern. Die eigene Mutter in den Toö gefahren. Wegen fahrlässiger Tötung hatte sich heute vor dem Erweiterten Schöffengericht Lichtenberg der 27 Jahre alte Kurt H. zu ver- antworten. H. hatte am 22. März d. I. mit seinem Auto eine Fahrt nach Kalkberge unternommen, an der seine Mutter, seine Schwester und deren Freundin teilnahmen. Auf der Rückfahrt nach Berlin auf der Chaussee von Tasdorf nach Schöneiche versuchte der Angeklagte in einer Kurve ein vor ihm fahrendes Auto zu üb«r- holen. Bei diesem Versuch geriet H. mit seinem Fahrzeug aus den Sommerweg. Er bremste aber so stark ab, daß das Auto ins Rutschen kam und gegen einen Baum fuhr. Die Mutter des An- geklagten, die im Innern des Wagens saß, wurde durch das Fenster auf die Straße geschleudert und blieb dort mit einem schweren Schädelbruch und einer Gehirnerschütterung liegen. Als die bedauernswerte Frau ins Krankenhaus übergeführt wurde, � war bereits der Tod eingetreten. Das Gericht verurteilt« den 2li>- geklagten zu drei Monaten Gefängnis. Zustelluni; der Steuerkartcn für IVSS. Die S t« u e r k a r t e n für 1932 sollen allen Arbestnehmern Berlins , die ihre Wohnung seit dem 10. Oktober d. I. nicht gewechselt haben, bis Anfang Dezember zugestellt werden. Diese Steuerkarten enthalten auf der 4. Seite gleichzeitig die Veranlagungsbenachrichtigung über die Bürgersteuer sür 1931. Arbeit- nehmer, die nach dem 10. Oktober d. I. innerhalb Groß-Bcrlins verzogen sind, müssen ihre Steuerkarte von dem Bezirk»� st e u e r a m t abholen, in dessen Bezirk sie sich bei der Personen- ftandsaufnahms am 10. Oktober d. I. in die Haushaltungsliste«in- getragen haben oder bei diesem Steueramt die Uebersendung durch di« Post beantragen. In den Anträgen ist die Wohnung am 10. Ok- tober d. I. und die jetzig« Wohnung anzugeben, auch ist das Rück- porto beizufügen. Den nach dem 10. Oktober d. I. aus anderen Orten des Deutschen Reiches zugezogenen Arbeitnehmern wird dringend geraten, sich die Steuerkart« von der Gemeinde nachsenden zu lassen, in deren Bezirk sie an diesem Tage gewohnt haben. Ausstellung in weißenjce:„Zunge Hände schaffen". Das Bc zirksamt Weißensee veranstaltet in der Zeit vom 1. bis 6. Dezember 1931 in d«r Aula des Lyzeums, Pistoriusstr. 131/133, eine Aus- stellung unter dem Motto: Junge Hände schaffen!"
Germaine kannte ihn, es war der Sohn des Schul- dieners, ein etwa siebzehnjähriger junger Mensch, der zu einem Schuhmacher in die Lehre ging. Sie faßte ihn am Arm, gerade als er wieder weitergehen wollte. „Ist das—— ist das etwa Revolution!" sagte sie atemlos. Der sunge Mann nickte stolz.„Die da vorn kommen aus Kiel und aus Berlin — der Kaiser ist abgesetzt, und draußen wird nicht mehr geschossen—" Wie betäubt blieb Germaine zurück. Hatte sie denn recht verstanden?„Draußen wird nicht mehr geschossen!" Ja. das war doch— das war doch, kein Zweifel mehr, das bedeutete den Frieden, das Kriegsende! Und das bedeutete auch, daß Walter nicht mehr an die Front kam.-- Ihr Herz klopfte zum Zerspringen., � �. „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht, er- scholl es jetzt vom Marktplatz zu ihr herüber. Und dann ein lauter Ruf:„Brüder! Der Krieg ist zu Ende! Es lebe die Deutsche Republik!" und nicht enden- wollender brausender Beifall und laute Hochrufe. In fliegender Eile rannte Germaine die Parkstraße hinarn. Was würde bloß die Mutter sagen! Und Walter würde bald hier sein— war denn das zu glauben? Man brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man froh wer, wenn man sich jung und sorgenlos fühlle.— Frau Loriot stand an der Gartentür. Blaß und verstört kam sie der Tochter entgegen.„Gott fei Dank, daß du hier bist. Was habe ich mich geängstigt! In der Altstadt muß es ja furchtbar zugehen— Angstvoll sah sie die Tochter an. Aber Germaine warf ihre Ledermappe in die Luft.„Du weißt ja noch gar nichts! Mutter, der Krieg ist zu Ende! Walter kommt w-«d-r nach Hai's?!" Sie jubelte laut. '.'lber Frau Loriot legte ihr erschreckt die Hand auf den Mund und zog sie ins Haus. „Bist du denn von Sinnen, Germaine! In Berlin soll
Revolution sein, und hier ziehen sie auch schon den ganzen Morgen mit roten Fahnen herum und plündern die Läden aus! Bei Onkel Stetten sind sie in die Billa eingedrungen und haben ihn mit dem Revolver bedroht!" Germaine sah trotzig vor sich hin- «Wundert dich das vielleicht? Das Militär hat vier Jahre lang die Menschen als tote Nummern behandelt, meinst du, das rächt sich nicht irgendwann einmal? Sie Habens lange genug ertragen!" Entsetzt, verständnislos sah Frau Loriot die Tochter an. „Germaine, um Gotteswillen, hast du den Verstand ver- loren? Verstehst du nicht, was das bedeutet? Das heißt, daß Deutsche auf Deutsche schießen! Das ist der Bürgerkrieg, das ist Deutschlands Untergang. Ich habe eben Onkel Stetten telephonisch gesprochen. Er sagte mir, daß nur die Rücksicht auf seine Kinder ihn davon abhält, sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen— er ist vollkommen niedergebrvchen. „Es tut mir leid, daß Onkel Stetten diese Enttäuschung erleben muß, daß er an sich selbst jetzt erfährt, wie furchtbar auch seelische Verwundungen sein können— aber, Mama, vier Jahre lang hat man uns gepredigt, daß es nicht um den einzelnen ginge, sondern um das ganze Volk! Wundert dich, daß das Volt jetzt diese These, die man ihm eingehämmert hat. umdreht und auf seine Führer anwendet, daß es jetzt ihnen zurust: Die Herrschast von euch einzelnen da oben ist zu Ende, jetzt geht es um uns, um das Volk?" Frau Loriot schlug die Hände zusammen.„Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Weißt du denn, wie das, was du „das Boll" nennst, in Wirklichkeit auesieht? Weißt du, daß jetzt der Mob. alle lichtscheuen Elemente, die bis jetzt nieder- geduckt waren, ans Tageslicht kommen, weil sie Morgenluft wittftn? Weißt du, daß auch wir jetzt nicht mehr sicher sind, daß man auch bei uns einbrechen, alles entzweischlagen und stehlen wird! Onkel Stetten hat mir geraten, heute Nacht nicht allein hier zu bleiben. Familie Köchlin ist auch nicht hier" Germaine legte den Arm um den Hals der Mutter und streichelte ihr leise die Wange.„Du denkst wohl, der Teufel sei in mich gefahren, meine arme Mama!" sagte ste lächelnd. „Und du siehst mich wohl schon mit einer roten Fahne herum-' marschieren! Frau Loriot sah unsicher in die Augen der Tochter, als fände sie darin den Schlüssel alles dessen, was ihr nn Wesen Germaines mitunter rätselhaft war. Aber was sie heute ge- sagt hatte, das fetzte doch allem die Krone auf— wie kam sie bloß auf solche Gedanken!
„Kind, du bist doch manchmal erschreckend impulsiv in deinen Aeußerungen, du läßt dich vollkommen hinreißen von einer augenblicklichen Begeisterung, ohne die Folgen in ihrer ganzen Tragweite zu sehen. Glaube mir, ich habe da einen ruhigeren und kühleren Blick als du. Und wenn ich heute voll tiefster Sorge bin, weil ich fürchte, daß das, was uns jetzt bevorsteht, viel schlimmer ist, als der ganze Krieg, so glaube ich, die Sachlage damit besser erfaßt zu haben als du." Germaine setzte sich an die Seite der Mutter. „Was du befürchtest, das kann wohl alles eintreffen in den großen Industriestädten, vor allem in Berlin , wo Mit- lionen Menschen zusammengepfercht sind. Da sind andere Spannungen, andere Gegensätze als bei" uns. Hier macht keiner Revolution— da sind unsere Handwerker und jUein- Händler und die paar Arbeiter viel zu sehr Kleinstädter. Darum haben sie uns ja auch ein paar"Kieler Matrosen und einen Redner aus Berlin auf den Hals geschickt. Ich habe unseren Schuhmacherlehrling getroffen, der initmarschierte. Er war so stolz darauf, ein Revolutionär zu sein— aber er würde keiner Fliege was zu leide tun. Und so sind die aller- meisten hier. Sie sind bloß alle froh, daß der Krieg zu Ende ist, das ist alles. Kannst du ihnen das verdenken? Bist du denn nicht auch froh? Freust du dich denn nicht, daß Walter nach Hause kommt?" Frau Loriot legte den Kopf an die Schulter der Tochter. „Kind, mich hat das alles so erschreckt und verwirrt, dazu noch das Gespräch mit Onkel Stetten, der doch sonst immer die Dinge so klar und nüchtern sieht und nun so zusammen- gebrochen ist. Das hat mich alles furchtbar erschüttert. Daß Walter nach Hause kommen wird— mein Gott, daran dachte ich noch gor nicht! Und doch ist es das am nächsten Liegende. Daß ich mich darauf freue und wie ich mich freue— acki. Germaine, das brauche ich dir nicht zu sagen. Ich kann es nur noch gar nicht fassen, es ist zu viel, was auf mich ein- stürmt." * Lokomotiven pfiffen, wieder ratterte ein Zug in die Bahnhofshalle ein. An den Fenstern Soldaten, Soldaten. Soldaten. Sie lachen, sie schwenken die Mützen, sie winken mit den Armen. Dazwischen lehnten andere, müde, trotzig, verbissen. Walter war nicht dabei. Die Mutter war schon vor zwei Stunden nach Hause gegangen, sie konnte sich nicht mebr auf- recht hallen. Jetzt war bereits Mitternacht vorüber, aber immer noch standen große Menschenmassen vor der Sperre und auf den Bahnsteigen.(Fortsetzung folgt.)