Todesurteil imReins-Prozeß Sieben Monate Gefängnis für Sophie Reins, die Mutter freigesprochen
Nach mehr als vierstiindiger Peratang verkündete gestern um GM Uhr abends Landgerichtsdirektor Tr. Schneider das Urteil im Prozeh wegen des Raub- mordes an dem Geldbriefträger Schwan: „Ter Angeklagte Ernst ReinS wird w e g e n M o r- des in Tateinheit mit schwerem Raube mit Todeserfolg zum Tode und zum dauernden Ver- lust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Die Ange- klagte Sophie Reins wird wegen Hehlerei zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt, welche Strafe durch die Untersuchungshaft verbüht ist. Die Angeklagte Frau Ida Reins wird freigesprochen. Die Ltrteilsöegrünöung. Ernst Reins. der sich vor der Bekanntgab« des Urteils schon wieüer gesetzt hatte, blieb während der ganzen Verkündigung ruhig und unbewegt. Der Vorsitzende teilt« dann noch die Beschlüsse mit. daß der Haftbefehl gegen Sophie Reins aufgehoben werde und daß die beiden von der Verteidigung gestellten Sachverständigen aus der Staatskasse zu entschädig«!! seien. Dann ging Landgerichtsdirektor Schneider auf den Lebenslauf des Angeklagten E r n jt Reins ei», obwohl ja, wie«r ausdrücklich betont«, die Frage der mildernden Umstände beim Vorliegen eines Mordes nicht geprüft werden könnten. Aber das Gericht sei mit der Verteidigung der Ansicht, daß Ernst Reins vermöge seines durch Abstammung und Erlebnisse gebildet«» Charakters ein unglücklicher Mensch sei. Tatsächlich seien in seiner Familie schwer« Fälle von Geistes- krankheit vorgekommen, und sein eigener Bater habe ihm durch seine Krankheit ein unheilvolles Erbteil hinterlassen, durch das Ernst Reins an seinem Augenlicht beschädigt sei. Abgesehen von diesen unglücklichen Umständen habe das Gericht auch den Eindruck gehabt, daß bei seiner Berufswahl ein unglücklicher Stern gewaltet Hab«. Diese Erfahrung und feine sonstige Veranlagung haben ihn Schick- salsschläge, von denen Millionen seiner Volksgenossen betroffen wur- S«n, schwerer empfinden lassen, als es objektiv notwendig gewesen fei. Am Tage der Tot könne von einer Notlage nicht im«ntfernte- sten di« Red« gewesen sein. Er sei damals durchaus in der Lage gewesen, wenn auch nicht ein üppiges, so doch ein bescheidenes und ordentliches Leben zu führen. Daß er damit nicht zufrieden gewesen sei, daß er flch trotzdem vom Schicksal benachteiligt gefühlt habe, lag in seiner unglücklichen Charakteroeranlagung, durch die er ss-b oll- mählich in eine Stimmung hineinversetzt habe, die den Tatsachen nicht entsprach. So kam ihm der Gedanke, ssch größere Geldmittel zu verschaffen, und zwar durch einen Gewaltakt. Das Gericht sei der festen, durch nichts zu erschütternden Ueberzeugung gewesen, daß Ernst Reins, wenn er nicht gar den festen Willen gehabt habe, zu töten, sich mindestens klar«var, daß die Möglichkeit der T ü t u n g mit dem vorbereiteten Instrument bestand. Dies« Absicht habe er gebilligt und er habe sich auch den Erfolg der Tat vor- gestellt. Cr sei also hineingegangen in die Tat mit dem Bor- satz und dem Bewußtsein, zu töten. Seine Vorbereitungen haben leider vollem Crfslg-gehabt, da der Briefträger die Unvor-' sschtigkeit gehabt habe, der Aufforderung des Angeklagten zu folgen und in das Zimmer zu treten, das sein Sierbezimmer werden sollte. Hier habe sich Ernst Rems dann als der ruhig überlegende Mensch gezeigt. Es sei«ine alt« Erfahrung, daß der Täter den Gedanken an sein« Tat innerlich zurückweise, und das Gericht sei daher auch überzeugt, daß Ernst Reins jetzt selbst glaub«, nicht die Absieht der Tötung gehabt zu haben. Der Ernst Reins aber von damals sei ein anderer als der Ernst Reins, der heut« vor Gericht stehe An jenem Morgen habe er die Absicht gehabt, zu töten, oder mindestens mit der Möglichkeil der Tötung gerechnet. Wirklich wie ein Bandit aus dem Dunkeln habe er den Briefträger überjallen. Als er sah, daß der Briefträger noch nicht tot war, habe er ihn in einer geradezu bestialischen Weise gewürgt. Ernst Reins weise es jetzt von sich. daß er dem Briefträger die Geldtasche abgenommen habe, aber das
sei nur so, daß er sich jetzt innerlich in seinem Gedankengange gegen diese Scheußlichkeit aufbäume. Nach Ueberzeugung des Gerichts könne es aber nicht anders vor sich gegangen sein, als daß er seinem Opfer, das noch lebte, die Geldtasche abgenommen habe. Er habe also einen lebenden Menschen beraubt. Daß Ernst Reins nicht nur bei der Vorbereitung, sondern bei der ganzen Handlung nicht im Assell gewesen sei, sondern mit kühler Ueberlegung gehandelt habe, beweise vor allem mit Evidenz sein Verhallen nach der Tat. Wenn er bei dem Kampfe in Todesängsten geschwebt halte, wäre er nicht in der Lage gewesen, sich ruhig zu waschen und der Wirtin kaltblütig einen Austrag zu geben. Seine Angaben über diesen Kampf seien daher nur eine Konstruktion zu seiner eigenen Rechtfertigung. Wenn dieser Fall keim Mord sei, dann gäbe es nach Ansicht des Gerichts überhaupt keinen Mord. Nach dem Gesetz mußte Rems mit der einzig zulässigen Strafe bestrast werden, so daß über das Strafmaß kein Wort zu verlieren sei. Mutter und Schwester hätten wohl am Tage der Tat noch von nichts gewußt. Aber am Tage nachher wußte die Mutter, daß ihr Sohn irgendeine schwere Tat begongen hatte. Außerordentlich naheliegend sei es, daß auch di« Schwester davon gewußt habe. Ader zugunsten der Schwester sei das nicht angenommen worden, so daß sich die Vernehmung der Johanna Reins erübrigt hälle. Mit zwingender Gewalt muhte aber Sophie Rems noch den Umständen annehmen, daß die Gelder ihres Bruders aus einer strafbaren Handlung stammten. Denn dieser orbestslose Bruder, der nur van seinen Unterstützungen lebte, hätte ihr sonst nicht 4Ü0 Mark für Besorgungen geben können. Sie Hobe sich daher in Deutschland wie auch später in Italien ver Hehlerei schuldig gemacht. Der Angeklagte Ernst Reins zeigte sich nach der Urteils- begründung ruhig und gefaßt und besprach sich mit seinem Ver- teidiger, den er sofort beaustragt«. Revision gegen dos Todee- urteil beim Reichsgericht anzumelden.
Familie ging in den Tod. Vier Menschen Opfer der Wirtschastssorgen. Bremen . 1?. Dezember. Die Familie des Formers Reimers, bestehend aus den beiden Eheleuten nnd zwei Kindern im Aller von ll) und Z Jahren, wurde heule früh in ihrer Wohnung d n r ch G a s vergiflei tot aufgefunden. Wiederbelebungsversuche blieben ergebnislos, da bereits die Leicheuflarre eingetreten war. Ans hinlerlasseuen Briefen gehl hervor, daß wirtschaftliche Sorgen die Familie in den Tod getrieben haben.
Mißbrauch der Erwerbslosen. In den gestrigen Abendstunden bildeten sich fast in allen Stadt- teilen kommunistisch« Demon st ratio» z.züge. Durch Handzettel waren die Erwerbslosen zu sinnlosen Zugbildungen auf- gefordert worden. Di« Berliner SchutzpaNzei.tiefand sich bereits� seit den frühen Rachmittagstunden in A l a r m b er eits ch o f.t Die. Ba n nin«rteNgrenze wurde unter besonders scharfer Be, obachtung g-hallen. Bon 17.35 bis um Ö Uhr mußte die Polizei vierzehnmol zur Auflösung von Demanstrationszügen schreiten. In einem Falle muhte ein Schreckschuß abgefeuert werden, als die Menge versuchte, einen Festgenommenen zu befreien. Ins- gesamt wurden etwa 35 Personen sestgenonimen und der Politischen Polizei übergeben. Ein wohltäligkeitskonzerl der Schupo findet am heutigen Sonn- tag von 12 bis 11 Uhr im Wintergarten zu freiem Eintritt für Sozial- und Kleinrentner, Kriegsbeschädigte und Krieaerhinter- blieben« statt. Das Konzert erhält eine besondere Rote durch die Mllwirkung der Frau Kammersängerin Sigrid O n e g i n, die sich in den Dienst der guten Sache gestellt hat. Die Leitung des SO Mann starken Sinfonie-Orchesters liegt in den Händen von Gene- ralmusikdirektor Erich Böhlke , Staatsoper Wiesbaden .
fümnw«. Mein Bruder hätte ein« Eisenbahn gekriegt.«b«r weil mein Papa arbeitslos ist, können wir nur Essen kriegen." .. weil meine Eltern kein Geld habeu.� Damit nun niemand jagen kann, wir hätten uns die jammer- vollsten Briese h-rmisgesucht, seien die Briefe von Kindern, deren Eltern noch Arbeit haben, angefügt. Zuerst die zehnjährig« Luci« H. Ihr Vater ist kaufmännischer Angestellter. Sie schreibt: „Zu Weihnachten wünsche ich mir nur Wäsche. Zu Spiel- lachen bin ich schon zu groß. Eigentlich wünsche ich mir noch viel mehr. Aber bei der Zeit geht das nicht, weil meine Eltern nicht stniel Geld haben." Dann Willi W., sein Vater ist Gswerkschastsangcstellter. Willi ist neun Jahre alt: „Das Höchste, was ich mir zu Weihnachten ersehne, ist ein« Dampfmaschine. Ich habe einen Rekord-Baukasten. Damit bau« ich Modelle. Die treibe ich dann mit der Dampfmaschine an. Aber ich glaube nicht daran, eine Danapsn, aschin« zu bekommen, denn bei uns zu Hause geht es schlecht. Mein Bruder und meine cch:»cstcr sind arbeitslos. Wir wollen aber das beste hoffen." Oder Heinz St., dessen Vater Kraft Wagenführer in einen, städtt- scheu Betrieb ist: „Da es zu Weihnachten geht, wird es Zeit, daß ich meinen Wunschzettel schreibe. Dieses Jahr wird er aber nicht so voll als lonst. Als erstes wünsche ich mir die Vergrößerung meines Stabil- Baukastens. Da meine Kafperpuppen kaputt sind und ich Kasper!« spielen will,' brauche ich neue Kösperlepupen. Als letztes wünsche ich mir zwei Bücher:„Ans unbekannten Meeren" und„Bis an den Stordol". Mehr kann ich mir nicht wünschen, weil mein Bater nicht soviel Geld als bisher verdient. Und die Kinder aus den Neubauwohnungen haben beinahe gar nicht gewagt, einen Wunschzettel auszuschreiben. Da kommt es auf jeden Pfennig an, & So schreiben Kinder über die Not unserer Zell . Man mußte olle dies« Zettel nehmen, sie in einen Briefumschlag stecken und zu- senden: dem Schlichtungsausschuß Grrß-Bersin, dem Pmssentmtgs- kammissar und der Renhsregierung. Dann sagten es die Kinder dm hoben Herren: bei uns gibt es kein Weihnachten mehr!
Zwei Monate Gklarek-Prozeß. Bor der Erörterung des Etadtbankkomplexes. Am heutigen 13. Dezember sind zwei Monate»ergan- gen. seil der Sklarek-Prozeh in Moabit begonnen hat. In 31 ver- Handlungslagen mit durchschnittlich sechsstündigen Sitzungen ist bis jetzt im wesentlichen nur der erste Teil der riesige» Anklage gegen Stlarek und Genossen erledigt worden, der die Lieserung»- vcrträgc zwischen der Sklarekschen SVG. und der Stadt und die dabei vorgekommenen Unregelmäßigkeiten behandelt. Während di« Angeklagten sich in etwa 20 DevhauMungsttsgen zu den einzelnen Anklagepunkten geäußert haben, waren die letzten 11'Tage dieses Zeitraums der Beweisaufnahme gewidmet, und zwar wurden bisher über 60 Zeugen vernommen, darunter de- kanntlich zahlreiche Mitglieder des früheren und jetzigen Berliner Magistrats und viele Beamte der Stadtverwaltung. Man rechnet damit, daß die Beweisaufnahme über diesen ersten Teil der An- klage noch bis Ende der kommenden Woche dauern wird, und daß dann mit der erneuten Vernehmung der Angeklagten zum Teil' 2, dem Stadtbankkomplox, begomtetemerdemckanm ber wohl als Hauptpunkt der ganzen Anklage zu betrachten ist und einen großen Raum in der Anklageschrift einnimmt. Unter diesen Um- ständen laßt es sich schwer voraussagen, wann der Sklarek-Prozeh sein Ende finden wird
Hochbahnstrecke wieder im Verkehr. Nach Durchführung der Abftützungsarbellen an der schadhaften Stelle des Hochbahnviadutts in der Gitschiner Straße wurde in der sechsten Abendstunde die Strecke Gleisdreieck— W arschauer Brücke wieder für den durchgehen- den planmäßigen Verkehr freigegeben. Die schadhafte Stelle am Viadukt gegenüber dem Patentamt wurde aber von den Zügen nur mit stark herabgeminderter Geschwindigkeit befahren.
„Walter", sagte Germaine endlich,„ich weiß nicht, was ich setzt jagen soll, denn das liegt noch weiter außerhalb meines Begriffsvermögens— das muß ich mir erst selbst einmal Nor machen. Ich will jetzt nur einmal an das Nächstliegend« denken. Wir wollen heute abend nach Hause fahren— und dann werden wir sehen.. Wolter unterbrach sie heftig.«Germaine, hast du mich denn nicht verstanden? Ich habe mich so an diesen Ausgleich gewöhnt, ich kann einfach nicht mehr leben, wenn ich nicht täglich eine bestimmte Dosis Morphium habe. Hier habe ich einen Apotheker— sie kennt ihn schon lange— ich bekomme es ohne Rezept. Der Preis allerdings— diese Kerle nützen einen ja aus bis ckufs Blut— das ist auch der Hauptgrund, warum ich mich so heruntergewirtschaftet habe..." „Och lasse dich hier nicht allein, Walter, da kannst du machen, was du willst! Jetzt um keinen Preis! Aber wir können hier nicht leben, ich habe die Mittel nicht dazu— es gibt keinen Ausweg, als die Heimkehr! Ich muß morgen wieder im Dienst sei. Doch Walter", sagte sie fest, als der Bruder den Kopf schüttelte,„du mußt mitkommen— ich habe auch Mama versprochen, nicht ohne dich zu fahren. Ich habe ihr deinen Brief gezeigt— denn jetzt gibt es nichts mehr«i vertuschen. Jetzt müssen wir ganz wahr gegeiwinander fem Und fest zusammenhalten, Mama, du und ich, denn nur dann können wir alles dos bezwingen." Waller lächelte müde und gequält,.�ch weiß nicht, ob es da überhaupt noch was zu bezwingen gibt. Germomc. oh noch ein Ausweg möglich ist. lind trotzdem mußt du nicht glauben, daß ich nun jede Widerstandstrast verloren hätte. Als es mir zum Bewußtsein kam. wie weit ich schon war--- nicht nur in der Sache mit dem Mädel, sondern auch darin— da habe ich rücksichtslos mir selber täglich die Dosis gekürzt, ich habe überhaupt keine Spritze genoinmen, bis ich einfach nicht mehr konnte. Mau sieht mir's ja auch an. Diese schwarzen Pupillen, das Zittern, die Schweißausbrüche— das sind nur Enthall-
samkestserscheinungen. Sobald ich Morphium bekomme, ist alles weg— dann bin ich wieder im Gleichgewicht. Er wischte sich Hände und Stirn. In Germaines Gesicht war kein Blutstropfen mehr. Aber ihre Stinnne war von einer verzweifelten Festigkeit.„Walter", sagte sie,„seit einigen Wochen hat sich ein junger Nerven- arzt bei uns niedergelassen, ich kenne ihn, er wohnt uns !iegenüber. Er war auch im Felde und hat Schweres hinter ich. Zu dem gehen wir und sprechen mit ihm, bei dem findest du Verständnis, verlaß dich darauf." Ein leiser Schimmer von Spannung und Erwartung glomm in den Augen des Bruders auf..La", sagte er.„das wäre vielleicht die Rettung für mich Das wußte ich nicht— ich dachte nur an unseren allen Medizinalrat, der hätte mich lieber sterben lassen, als daß er mir nur Chloral verschrieben hätte, geschweige denn Morphium." Er atmete auf..La, ich werde mit dir fahren, wir fahren heim, Germaine— ach, wie gern fahre ich nach Hause! Aber was soll ich Emmy sagen?" Germaine stand auf und wmkie dem Kellner.„Walter", sagte sie,„wir wollen keine Zeit verlieren. Du sollst auch nicht die Nacht hindurch fahren— das ist jetzt viel zu an- strengend für dich. Wir fahren schon in zwei Stunden, da sind wir heute um Mitternacht dahenn. Du bleibst ruhig hier, bestelle dir noch Tee und iß etwas— ich gehe in deine Wofi- nung und regle dort alles. Deine Wirtin wird mir beim Packen behilflich sein— einen Teil deiner Sachen kann sie nachschicken. Und mit Fräulein Berg werde ich sprechen. Sie soll das Zimmer behalten, bis sie wieder gesund ist— ich bringe das in Ordnung mit der Wirtin, sie soll auch ihre Ver- pflegung bis dahin übernehmen. Ich werde ihr sagen, daß du trank bist, und sie wird auch begreifen, daß wir dich nicht hier lassen können." „Vertraue mir. Walter", fügte sie hinzu, als der Bricher nach etwas sagen wollte,„und verlasse dich aus mich. Ich werde schon das rechte Wort und den rechten Ton finden" SS. Draußen glühte und leuchtete der Herbst. Die Wälder standen wie vergoldet in der dünnen, hellen Luft. Greifbar nahe erschienen die Berge, als lägen nicht Kilometer zwischen ihnen und der Stadt. Eine einzige weihe Wolke lag am blauen Himmel. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich. Germaine wandte sich vom Fenster ab und streckt« dem Eintretenden
die Hand entgegen.„Haben Sie einige Minuten Zeit, Herr Doktor! Ich werde mich ganz kurz fassen." „Nehmen Sie Platz— für Sie habe ich immer Zeit, Fräulein Germaine, ich hoffe, das wissen Sie!" Der junge Arzt warf ihr einen warmen, teilnahmsvollen Blick zu.„Und wie geht es Ihrem Bruder— ich wäre nachher null hinüber gekommen." „Es ist immer das gleiche— er kann nicht schlafen, er fühlt sich grenzenlos abgespannt, unfähig, etwas zu arbeiten oder zu lesen. Zu anderen Zeiten ist er dann wieder furchtbar erregt; in der vorletzten Nacht hat er sein Kopfkissen in im- zählige kleine Fetzen zerrissen... Wir wissen uns oft keinen Rat inehr.. „Und doch geht es bei ihm noch verhältnismäßig gut, Fräulein Loriotl Es gibt ganz andere Fälle, in denen der Patient Tobsuchtsanfälle bekommt. Da gibt es dann kein anderes Mittel als die Uebersührung in die Irrenanstalt— aber davon ist ja bei Ihrem Bruder keine Rede. Sie müssen eben nur Geduld haben, ihm immer mit allergrößter Schonung und Liebe begegnen, immer wieder versuche», in Güte aus ihn einzuwirken." „Herr Doktor", sagte Germaine,„selbstverständlich machen wir Walter niemals einen Vorwurf..." „Es gibt auch unausgesprochene Vorwürfe", erwiderte der Arzt.„Sehen Sie, die landläufige Meinung ist eben doch die, daß der Morphinismus ein„Laster" sei, daß man sich dadurch in wundervolle, üppige Träume wiege und wer weiß noch, in was. Aber das steht nur in kitschigen Schmö- kern. Die Wirklichkeit ist ganz anders. Es ist kein Laster— Ihr Bruder ist das beste Beispiel dafür, denn er ist wahrhaftig alles andere als ein lasterhafter Mensch. Sondern es ist eine Krankheit, die durch ein Zusammenwirken besonders trogt- scher Faktoren ziun Ausdruck kommt, wobei ich nicht bestreite» will, daß eine bestimmte körperliche und seelische Disposition dazu vorhanden sein muß. Das müsssn Sie sich immer vor Augen hallen, denn Walter ist von einer ungeheuren Fein- fühligkeit, sein« Nerven sind jetzt gespannt bis zum Zerreißen— er empfindet jeden Hauch, jeden leisesten Anklang von Verachtung, selbst wenn sie niemals ausgqsvrochen wird. als einen tödlichen Schlag gegen sich. Jeder Morphinist hat Minderwertigkeltsgefühle. furchtbare Depressionen— Sic müssen darum immer wieder sein Selbstgefühl heben, ihn ausheitern.. (Forlsetzuug folgt.)