lOelloge Mittwoch, 16. Dezember 1931
Bpr-fiapnÖ SpMaiUjjaße Ja, IburärA
ean Jaures Sine@OrirätfkiSl£e/ Don Mermann Wendel
Im Crnst.Aowohlt-Bcrlag ist soeben unter dem Titel„Fron- zösische Menschen" eine Sammlung Portrötskizzeu sranzo- sischcr Männer und Frauen von Hermann Wendel erschienen. Wir entnehmen der 32 Gestalten umsassenden Galerie, die, wie der Autor e? ausdrückt,„einzig der Freude an künstlerischer Gestaltung und an der Buntheit und Bewegtheit dieser Schicksale" entsprang, eine Studie über Jean Jaurvs. Nichts fügt sich so zwanglos unserer Vorstellungswelt ein wie die Annahme, daß Jean Iaures noch, ein rüstiger Siebziger, unter uns wandelte. Haar und Bart wären weiß, aber sein Auge leben- diger, sein Lächeln menschlicher denn je. Vielleicht säße er. der aktiven Politik abgekehrt, in A l b> und schriebe an den Werken, die er für seinen Lebensabend aufgespart hatte, über den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, über Jeanne d Arc , über Dante und anderes. Denn dieser reichste Geist trug ein Arbeitsprogramm nicht für Tage und Wochen, sondern für Jahre und Lahrzehnte in sich, als stumpfsinnige Gewalt ihn jäh auslöschte Wahrhaftig, nie war ein Politiker, der sich im parlamen- tarischen Betrieb behauptete wie nur einer, so sehr das Gegenteil eines platten Routiniers, dem die Wände des Fraktionszimmers die Welt begrenzen. In einem Brief schildert der einundzwanzigjährige Innres einmal die Fruchtbarkeit seiner Heimat: Die Scheuern berstend von Getreide, das Land von Kartoffeln über- flutet, Pfirsich- und Pflaumenbäume brechend unter der Last der Früchte, die Rebenhügel—„Wein und Heiterkeit wird man in vollen Zügen in unserem schönen Süden trinken!" So verschwende- risch hatte die Natur auch den treuen Sohn dieser Landschaft aus- gestattet. Schon darin erwies sich der überzeugte Internationale ganz als Franzose, daß ihm die klassische Bildung lebendiger Teil seines Wesens war. In den Wandelgängen der Kammer ragte aus der Tasche seines zerknitterten Jacketts ein Bändchen L u k r e z, und wie der Sproß unverbrauchter Bauern- und Kleinbürger- geschlechter mit jener Naimtät, die nur großen Künstlern und kleinen Kindern eignet, das Leben, die Natur, die Literatur Tag für Tag neu erlebte, so entdeckte er an Homer immer wieder neue Sd)ön» Helten. Wer die Neigung zur Antike hinderte ihn nicht. Deutsch zu oerstehen und sich in Goethe zu verttefen oder Englisch zu lernen und an Shakespeare heranzugehen, und als der längst Berühmte nach Südamerika fuhr, machte er sich mit Spanisch und Portugiesisch so vertraut, daß er auf dem Schiff C e r» v a n t e s und Eamoens in der Ursprache las. Der sich in jungen Jahren einmal„egoistische Faulheit" vorwarf und allezeit «in bsgnadeter Schläfer war, gewann es über sich, wenn er nach anstrengender. Kammersitzung seinen täglichen Leitartikel zu Papier gebracht hatte, spät abends noch anderchalb bis zwei Stunden zu lesen, und zwar alles, wovon er irgend innere Bereicherung er- wartete: Philosophie, Geschichte. Biographien, Briefwechsel, Cr» innerungen, Romane. Dramen. Gedichte, pädagogische Werke— i» selitem HirN war Raum für'die LohNstatistik der Bergarbeiter wie {ü| den Glanz eines ReMbrandtschen Gemäldes, und Sozialismus hieß ihm Brot für alle, aber im gleichen Dlemzug Schönheit für alle. Wie Jaures zum Sozialismus kam und wie er den Sozialts- nnts auffaßte, verriet nicht minder den Franzosen. Er verkannte nicht etwa die Linie, die von Hegel zu Marx führte, und lehnt« es nicht ob. feine sozialistische Aktivität philosophisch zu untermauern. Ganz im Gegenteil! Seine lateinische Doktorarbeit behandelte, Kant. Fichte, Schelling. Hegel zergliedernd, die U r- spränge des deutschen Sozialismus, und philo- sophisch setzte er sich mit den ewigen Dingen au-einander, ehe er politisch die zeitlichen anpackte. Aber zum Sozialismus gelangte er über den Republikanismus. Ms der ZCfühnge Privatdozent an der Unwersüät Toulouse, zum erstenmal in die Kanuner gewählt, sich zum linken Zentrum hielt, nährte er die Vorstellung, daß jeder Republikaner, der den republika- nischen Gedanken zu Ende denke, S o z i a l i st werden müsse. Aber auch � als er diesen Irrtum eingesehen hatte und der marxistischen Weihen teilhaftig geworden war. grifs er gern auf die französische Ueberlieferung, vor allem auf die Große Revolution zurück, um die Forderungen des Sozialismus sinnfällig zu machen. Be- rufen, sich als Geschichtsschreiber der Jahre 1789 bis 1795 zu be- währen, erstrebt er von Anfang an eine Versöhnung des historischen Materialismus und des historischen Idealismus: die materialistische Aussassung der Geschichte hinderte ihn nicht an ihrer idealistischen Ausdeutung. Ebenso ver- schwisterten sich bei chm Individualismus und S o- zialismus. Wie er in der zukünftigen Gesellschaft eine „Synthese vom Individualismus eines Proudhon und Kommunis- mus eines Marx" sah, so war ihm das Individuum dos Maß aller Dinge, der Sozialismus die höchste Bestätigung des individuellen Rechts und der höchste Ausdruck des revolutionären Individualismus. War Jaurbs also Resormist? Er wandte sich gegen Bernstein , als dessen„Revisionirmus" chm die Basis der marxistischen Lehre zu erschüttern schien. War Jaurcs also R a- d i k a l e r? Er verfocht den Eintritt von Sozialisten in die Re- gicrung, als er nur darin die Rettung der bedrohten Republik erblickte Mögen Etiketten wie Reformist und Radikaler für die Kleinen zutreffen, so spotten die Großen solcher Schablonen. Für Iattres jedenfalls war jenseits der Schlagworte mit einem der Kirchensprache entlehnten Ausdruck das Wesentliche, immer„im Zustand der sozialistischen Gnade" zu leben, das hieß: jeden Augen- blick am Ausstieg des Sozialismus zu arbeiten und den ganzen Auswand, die ganze Tätigkeit, die ganze Kraft des Denkens und Lebens darauf zu erstrecken. In diesem Rahmen hatte der geborene Führer großer Bewegungen ein ganz unstarres System, das cho über die Losung fanatischer Doktrinäre: Alles oder nichts! nachsichtig lächeln ließ. Jaures war nicht gegen die Revolution: er meinte wohl, daß sich die Machtergreifung des Proletariats unter ähnlichen revolutionären Zuckungen vollziehen werde wie ehedem die der Bourgeoisie. Noch weniger war er gegen die Reformen. Züe ihm nicht nur Linderung des Gegenwartselends bedeuteten, sondern auch Stufen zum Zukunstsbau aus dem Fels brachen. Bor allem aber hieß sein Mittel Demokratie. Ob Revolution, ob Reform— die Mehrheit, die Mehrheit mußte hinter sich haben. wer die Fahne de« Sozialismus auf eroberter Zinne auspflanzen izx-ckste. So war dieser manchmal verzückt« Schwärmer doch nie
ein Utopist, der mit der Stange im Nebel herumfuhr, sondern ein Realist, der sich nicht scheute, dem Kabinett Com des die Stich- warte zn geben, kein Wundergläubiger, der sich und anderen eins siaia Morgnna vorzouberte, sondern em Baumeister, der besonnen Stein an Stein fügte. Immer aber trug er, dem die Teilnahm« an der Politik ein sittliches Gebot war, die Stirn hoch erhoben, und die beste Taktik dünkt« ihm jene, die sich nach den ewigen Sternen ihm zu Häupten richtete. Weil die Gerechtigkeitsliebe als helle Flamme in ihm brannte, nahm er sich schon des unschuldig verurteillen D r e y f u s tatkräftig an. als auch auf der Linken die meisten noch zaghaft zauderten. Den Begriff der Menschheit mit Blutwärme und Blut- frische zu erfüllen und dadurch dem Individuum die höchste Steige- rung seiner Fähigkeiten zu verbürgen, war das Ziel seines un- versiegbaren, well ans einer mächtigen Lebenskraft hervorschießenden Optimtsmus. Aber zwischen Menschheit und Jndioiduun, stand die Nation, und für Jaures war Nation kein nebensächlicher Be- griff. Da ihm das Dalerland eine Vorbedingung für den Sozialismus zu sein schien, mußte dem Proletariat wie nur einer Klasse die nationale Unabhängigkeit am Herzen liegen. Darum befaßte er sich in seinem Werk„D i e n e u e A r m e e" mit der zweckdienlichsten Form der nationalen Verteidigung und brandmarkte zugleich den Wahnwitz, daß sich die Völker für die Profitinteresien der Groß- v-rdiener die Hälse abschneiden sollten. Ein Redner ohnegleichen, der jede Versammlung im Sturm nahm, hämmerte er immer wieder
mit der dichterischen Kraft seiner Sprache und der leidenschaftlichen Wucht seiner Ueberzeugung den Massen in die Köpfe, daß sie alles. schlechthin alles tun müßten, um den Friede en zu erhalten, und rief den Regierenden warnend zu, daß hinter dem Weltkrieg die Weltrevolution stehe Als Vorausfetzmtg für den wahren Frieden Europas aber erkannte er den„gesicherten Frieden, den dauerhaften Frieden, den vertrauensvollen Frieden zwischen Deutschland und Frankreich " Ihn herbeizuführen, war sein Höchstes und Letztes. Im Dienst dieser erhabenen Idee be> kämpfte er unermüdlich die dunklen Umtriebe eines D e l c a s s ö die Gefahren des Bündnisses mit Ruhland und das Unheil der dreijährigen Dien st zeit, unbekümmert darum, daß die chauvinistische Hetzpresse chn„eine von der deutschen Regierung aus- gehaltene Dirne" schmähte, und gegen ihn Stöcke sich hoben und Steine flogen. Schlimme Ahnungen bedrängten ihn. aber als 1914 einhundertundein Sozialisten in die Pariser Kammer einzogen und einhundertundzwöls Sozialdemokraten im Berliner Reichstag saßen, erblickte er darin doch ein Unterpfand siir die Erhaltung des Friedens. Dasselbe Jahr entfesselte die Katastrophe. An ihrer Schwelle streckte, am 31. Juli, ein verkommener Trottel Jaures nieder. Daß eine Reooloerkugel, abgefeuert von der schmutzigsten Hand, das klarste Gehirn auszulöschen vermochte, war wie ein Sinn- blld für die Zeit des Grauens und der Greuel, die jetzt anbrach. Grauen und Greuel dieser Zelt lasten die Frage zu, ob nicht Nietzsches Wort: Stirb zur rechten Zeit! auch für diesen frühen und sinnlosen Tod gilt, denn hätten die vier Jahre, da schrankenlos die Bestie triumphierte, Jaures ' Glauben an die Menschheit nicht auf allzu schwere Probe gestellt? Schloß ihm nicht doch ein barmherziges Geschick die Augen, ehe sie statt der von ihm inbrünstig ersehnten„Harmonie der Vaterländer" die entkettet« Barbarei zu schauen bekamen? Wie dem auch sei, uns, die wir noch die Magie seines Wesens persönlich erfahren haben und um ihn trauern wie am ersten Tage/steht so kühle Klügelei nicht zu. Wir wissen nur eins: Eine Lücke klafft, wo dieser Kämpfer und Kllnder stand. Die Welt ist ärmer und kälter geworden, seit dieses große Herz nicht mehr schlägt.
Ü)as ffietch und Sine hiftorifche Studie asur Steichsreform
Die Frage der Reichsreform, die heute so aktuell ist, wird in einem neuerschienenen Geschichtswert behandelt. Es ist dos Buch von Hans G a l d s ch m i d t:„Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Bon Bismarck bis 1918."(Carl Heymanns Verlag , Berlin 1931.) Der Haupttell des Buches ist der Zeit Bis- m a r ck s gewidmet. Es gibt ja eine überreiche Bismarck -Literatur, die sich darin gefällt, die altbekannten Tatsachen immer wieder durcheinander zu schütteln. Goldschmidt dagegen hat unsere Kennt- nis des Deutschen Kaiserreichs außerordentlich bereichert. Er hat aus den Archiven eine Fülle neuer Urkunden heraus- geholt und druckt sie in seinem Buche ab. Darunter sind Stücke von außerordentlicher Bedeutung. GoldschwM Zerstört endgültig die Legende, als ob Bismarck ein Föderalist gewesen sei. Bismarck hat es zwar für gut gefunden, in der Oeffenllichbeit Immer wieder für die Eigenart der deutschen Clnzelstaaten und die Wahrung ihrer Sonderrechte einzutreten. Aber der kritische Betrachter des Bismarckschen Reiches wußte schon längst, daß der Kanzler mit solchen Aeuherungen Komödie spielte: Der ganze föderalistische Apparat nebst dem Bundes- rat war nur die Kulisse, hinter der Bismarck seine persönliche Diktatur versteckte. Nun bringt ober Goldschmidt die internen, für die Oeffentlichkeit nicht bestimmten Schriftstücke Bismarcks, in denen er den schärfsten Zentralismus vertritt. Ja, er schreckt nicht davor zurück, das Aufgehen Preußens im Reich als sein politisches Ziel zu bezeichnen. Goldfchmidt verfolgt die«inzelnen Abschnitte der Bismarckschen Reichspoiitik, von der Gründung des Norddeutschen Bundes zur Schaffung des Deutschen Reiches , und dann die weiteren Etappen bis zu Bismarcks Eni- laflung. In dieser ganzen Zeit von 1867— 1890 hat die Taktik Bismarcks vielfach gewechselt, ober sein Ziel war stets dasselbe, die starke zentraliftische Reichsregierung, neben der vor allem auch preußische Sonderinteresten nicht auskommen sollten. Bismarck war stets bestrebt, eine Sonderpolitik der preußischen Regierung neben dem Reich und gegen das Reich zu verhindern. Er bedient« sich dabei gern der Personalunion zwischen den Spitzen der preußischen und der Reichsregierung. Er setzte die Staatssekretäre des Reichs in das preußische Ministerium und die preußischen Mi- nister in den Bundesrat, und sorgte mit rücksichtsloser Energie dafür, daß der Kurs im Reich und in Preußen derselbe blieb. Ist das alles nicht sehr seltsam? Bismarck war der Mann der Hohenzollern und des preußischen Militär st aates. Wie konnte er sich mit dem Gedanken tragen, Preußen bei guter Gelegenheit aufzulösen, vom Reich aufsaugen zu lassen? Außerdem scheinen einige der neuen Dokumente, die Goldschmidt veröffentlicht, seiner These z» widersprechen, so vor allem der Brief Bismarcks an den preußischen Gesandten in Oldenburg vom 9. Mai 1889. Es bestand damals ein Streit zwischen Bismarck und einem TeU des Bundesrats über die Frage des Hamburger Frei- Hafens. Eine gewisse Strömung im Bundesrat ging dahin, den preußischen Antrag in der Freihasenangclegenhcit als verfastungs- widrig anzusehen und dazu lieber gar keine Stellung zu nehmen. Da hielt es Bismarck für gut, der Oldenburger Regierung folgende Staats st reichdrohung zu übermitteln:„Die Forderung, die wir an unsere Bundesgenossen stellen, ist die Ausübung eines verfassungsmäßigen Rechts und einer verfassungsmäßigen Pflicht des Bundesrats. Verweigert er dieselbe oder macht er den Versuch, sie auf andere zu übertragen, so versagt er sich der Verfassung und den ihr zugrundeliegenden Verträgen, und Preußen wird in die Lage gesetzt, seine Zollhoheit wieder selbst und ohne Konkurrenz seiner Nachbarn zu handhaben." Das heißt mit dürren Worten: wenn der Bundesrat es wagen sollte, in dieser doch wirklich nicht lebenswichtigen Frage gegen Preußen zu entscheiden, dann wird Preußen aus dem Deutschen Reich austreten. Dann wird an Stelle der deutschen Reichszölle wieder der königlich-preuhische Landeszoll treten. Hat der Staats- mann, der diesen Brief diktierte, wirklich sein Preußen, die Wurzel seiner Macht auflösen wollen? Goldschmidt hat diesen Widerspruch nicht befriedigend klären können, denn er beschränkt sich im allge- meinen auf die staatsrechtlichen Formeln und berücksichtigt nicht genug die gesellschaftlichen und sozialen Kräfte, die hinter diesen Formeln verborgen sind. Das„Preußen" Bis- morcks ist nicht die Summe der Berliner und Königsberger Bürger
nebst den pommerschen Bauern usw„ sondern eo ist der Herr» schaftsbereich einer militärischen Aristokratie. Das Wesentliche an Preußen war bis 1918 nicht das Staatsmini- sterium, sondern das Offizierkorps. Bismarck hat niemals auch nur an Traum daran gedacht, das militärische Preußen im Reich auf- gehen zu lassen. Das hätte in der Praxis bedeutet, z. B. die adeligen Gardeoffiziere aus Ostelbien durch bürgerliche Offiziers aus Süd- deutfchland zu ersetzen. Aber dieses entscheidende und unvaränderliche militärische Preußentum hätte sich vielleicht mit einer mehr bürgerlichen Behördenorganisation vertrogen. Bismarck konnte ein« Reichsbürokratie unter stärkerer Verwendung bürgerlicher Elemente aufbauen und drn alten.preußischen Verwaltnngskörper zum Teil mit Zhr verschmelzen.- Aber es. ist überaus bemerkenswert, daß Bismarck bei diesen seinen Projekten manche Mißerfolge erlitten hat. Darauf weißt Goldschmidt mit Recht hin: Bismarck hätte, um den Einheitsstaat zu fördern, mit dem Reichstag zusammen» arbeiten müssen. Das habe er nicht gewollt, und das sei die Hauptschwäche seiner Einheitsbestrcbungen ge- wesen. In der Tat, die Veremheillichung der preußischen und der Reichsverwaltung, wie Bismarck sie plante, hätte selbst unter der eisernen Diktatur dieses Kanzlers eine Machtverschiebung vom oft- elbischen Wel zum deutschen Bürgertum gebracht. Eine solche Kräfteverschiebung hätte das System des Hohenzollernkaisertums gefährdet und war deshalb nicht bis zum Ende durchführbar. Aus Goldschmidts Buch geht wiederum hervor, wie mit Bis- marcks Rücktritt jede ernst hafte Reichsregierung a u f h.ö r t e. Bon 1890 bis 1914 herrschte unter Wilhelm II. ver- fassungspolitisch das reine Chaos. Der Partikularismüs der preu- ßischen Adelsregierung legte das Reich lahm. Es ist eine Grundfrage der Reichsreform unserer Tage, wie künftig die Reichsregicrung sich zur preußischen Regierung ver- halten soll. Aus dem vorzüglichen Buch von Goldschmidt mag man vor allen: die eine Lehre ziehen:. das Verhältnis von Preußen zum Reich ist uichl nur eine Frage der Verfassungsparagraphen und der Vürovereinfachung, sondern es ist vor allem die Frage der ver- schiedenen Slasscnkräfte, die hier und dort vorhanden find. Was unter Bismarck die ungelöste Gleichung Adel:Bürgertum war, das ist heute— in eigenartiger Umkehrung der Positionen— die Gleichung Bürgertum:Proletariat. ■Arthur Rosenberg . Jiaus Mauer: Weiterer Jlntifafchismus Vielleicht läßt sich gegen den aus dem Französischen über- tragenen Roman Maurice Bebels„Herr Grenadier findet Italien begeisternd"(Paul Reff Verlag) ein- wenden, daß weniger mehr gewesen wäre und daß der Autor der demokratischen Sache einen noch größeren Dienst geleistet hätte, wenn er, um des Glaubens an seine Vorurteilslosigkeit willen, in die Ueberfülle des Schattens, den er am italienischen Faschismus zu entdecken weiß, wenigstens hin und wieder einmal das Ge- rechtigkeitsalibi der Andeutung eines bescheidenen Lichtsünkchens gestreut hätte: aber trotz gelegentlicher offensichtlicher Ueber- treibungcn bleibt das kleine, elegant geschriebene, auf amüsante Ironie abgestimmte und in seiner Grundtendenz freundliche Zustim- mung verdienende Buch durchaus billigenswert. Herr Grenadier, französischer Rechtsradikaler und Warenhaus- besitzer und Zeitschriftenherausgeber dazu, fährt mit seiner Tochter Philippine in das gelobte Land der Autorität hinunter- Indessen: wiewohl er seine prosaschistische Wohlgesinntheit ausdringlich zur Schau zu tragen bemüht ist und von Hochachtung und Bezeiste- rung für das Regime überfließt, wird er von der Gespenster sehen- den Spitzel- und Gendarmengarde des Faschismus dauernd miß- verstanden und verdächtigt und schließlich sogar zwangsweise nach Frankreich zurückbefördert. Herrn Grenadier sechten alle Ungelegen- heilen nicht an: er bleibt ein hingerissener Bewunderer Italiens . Daneben haben auch seine Tochter und seine ihm nachgereiste Frau ihre besonderen Erlebnisse, die dem Faschismus nicht gerade zur Empfehlung dienen. Ein antifaschistisches Buch durch und durch und eines, das, au> leichte französische Art, nicht durch frontalen Angriff, sondern dnrck, Lächerlichmachen töten will.