WeiknacMen in QoethesJßeben
„Weihnachten,'Weihnachten, du warst der Ainder Freud«, die noch im Traume lächelten:" Diese schönen Worte Goethes, die uns Wilhelm Grimm aufbewahrt hat, zeigen, wie von früher Kindheit an in dem Dichter das Weihnachtserlebnis Wurzeln geschlagen hatte. Wenn wir uns am Eingang des Goethe-Iahres, das uns di« Gestalt des Olympiers besonders nahe bringen wird, an die Bedeutung erinnern, die das Christfest in seinem Leben gehabt hat, so muß zu- nächst betont werden, daß der 2 5. Dezember in seinem Dasein eine wichtige Rolle gespielt hat. Am 25. Dezember war der Ge- burtstag der Frau von Stein, und so war in dem ersten Weimarer Jahrzehnt das Weihnachtsfest für ihn eine Doppelfeier. Die schönste Weihnachtszabe wurde ihm 1789 beschert, denn am 25. Dezember erblickte sein Sohn August das Licht der Welt, das einzige seiner Kinder, das am Leben blieb. So war also die Weihnacht wieder zum Dappelsest für ihn geworden. Aber bereits vor dieser sozusagen persönlichen Beziehung zlim Ehristfest hatte er die Wunder dieser deutschen Feier kennengelernt und tief in sich aufgenommen. Im chaus am Hirschgraben prangte zwar noch kein Lichterbmuti, denn diese Sitte war in Frankfurt am Main in Goethes Jugend noch un- bekannt, aber dafiir leuchteten viele„Wachsstöckchen" die Frau Aja, Goethes Mutter, als Lichtnatur zahlreich anzuzünden liebte, miid der Gabentisch war reich gedeckt. Am Wechnachtsabend erhielt Goeth« jenes berühmt« Puppentheater, das zuerst seinen Sinn für die dramatische Dichtung entzündete und das er in„Wilhelm Meisters lheatralischer Sendung" und später in„Dichtung und Wahrheit " so anschaulich schilderte. Ob Goethe als Leipziger Student Weihnachten bereits mit dem Ehristbaum seierte, ist fraglich. Die oft erzählte Schilderung von dem Weihnachtssest beim Kupferstecher Stock ist ganz unverbürgt. Zweifellos aber Hot er den Lichterbaum und die eigentliche deutsche Weihnacht m Straßburg lcnuengelernt, denn das Elsaß ist ja bekanntlich die Heimat des Ehristbaumes, und als der junge Dichter 1779 im Pfarrhaus zu Sefenheim mst seiner Friederike Weihnachten feierte, da wird des Lebens goldener Baum nicht ge- fehlt haben. Die frohe Erwartung des künftigen Glanzes spricht aus dem Gedicht, in dem Goethe sich bei Friederike für die Weih- nachtstage ankündigte. Seitdem lebt die Poesie der Weihnacht in semer Phantasie, so daß er sogar im„Werther" eine stimrnungsvolle Weihnachtsfeier schildert, obwohl er im.Deutschen Hause" des Amt- mannes Busf zu Wetzlar niemals mit seiner Lotte ein Christfest be- gangen hat, da er sich dort nur wahrend eines Sommers aufhielt. Dafür spricht denn die schönste Weihnachtsstimmung aus den Briefen, die er in den nächsten Iahren ans Frankfurt an Lotte und ihren Gatten Keftner richtete. Da schildert er den Weihnachtsmarkt mit den„vielen Lichtern und Spielsachen, erzählt vom Türmer, der sein Festlied bläst, und schreibt:„Ich habe diese Zeit des Jahres gar
i lieb, die Lieder, die man fingt." In Weimar fand Goeche den Christbaum bereits vor. Wird doch gerade im Jahr vor feiner Ankunft von der Weimarischen Forstverwaltung die Benutzung der Tannen „zu den auf Weihnachten gewöhnlichen sogenannten Christbäumchen" verboten, ein Beweis dafür, daß die Wälder dafür bereits damals stark geplündert wurden. Aber es fcheint, als ob zwar der Tannen- bäum, doch nicht der Lichterbaum üblich war, und ihm hat Goethe, der ihn im Elsaß lieben gelernt hotte, die Bahn bereitet. Er selbst entfloh zur Weihnachtszeit gern den geräuschvollen Festen bei Hose und suchte häufig die schneeerfüllte Einsamkeit des nahe gelegenen Gebirges auf. Als er nach der italienischen Reise mit Christiane sein eigenes Heim begründete, da übernahm diese die Ausgestaltung des Festes, und sie wurde darin eifrig von Frau Rat unters lügt, die sich alljährlich mit ihren„Weihnachtskisten" einstellte. Da schickte sie gute Stoffe zu Kleidern, Konfekt und Pomeranzenschalen, alles mögliche, das sie einmal in einen: ihrer lustigen Weihnachtsgedichte ausführt:„Torten, Rosinen, Gärten mit Lichtern/ Herren und Damen mit hölzern Gesichtern/ Aepfel und Birnen, Geigen und Flöten,/ Zuckerwerk, Ruten, Mandeln, Pasteten/ Reiter mit Pferden, gut ausstassiert,/ nachdem ein jedes sich ausgeführt." Als es dann galt, dem Enkelchen allerlei zu bescheren, da schickt sie Spielzeug in Menge für den„lieben August": nur gegen ein�„Mordwerkzeug", wie eine Kanone oder gar eine Guillotine, legte sie entrüsteten Protest ein. Goethe mußte die Kiste stets selbst auspacken,„damit der Spaß am Christtag nicht entzogen wird.„Später hat Goethe sich mehr und mehr von den Weihnachtsfesten zurückgezogen. Er oerbrachte sie manchmal in Jena , so hei dein Buchhändler Fromniann, dessen Pflegetochter Mnchen Herzlieb sein Herz gewannen hatte: ihr hat er als„Christgeschenk" ein Weihnachtssonett gewidmet und einige Jahre danach für den Prinzen Karl'Alexander ein Gedicht aus den Christbaum geschaffen, das dieser dem Großherzog aussagen mußte. Immer leiser klingt das Weihnachsglück in das Leben und Denken des Greises hinein, aber bis zuletzt haben ihm die Glocken der Christ- nacht geläutet. Das geht aus den Tagebuchaufzeichmmgen der letzten Jahre hervor. So schlecht er 1828 am 24. Dezember:„Die Christboicherung angesehen." Und am 25.:„Die Enkel brachten einige Geschenke." 1829:„Den Kindern ward beschert. Sie kamen, um zu danken, sehr fröhlich." 1839 heißt es:„Alles war beschäftigt mit Herligen-Christ-Arbeiten, Hoffen und Empfangen. Ich blieb für mich und rekapituliert«, was nächstens zu expedieren fei" Von der letzten Weihnacht Goethes heißt es im Tagebuch:„Ottilie wegen der Christgeschenke... Die Familie war zu Frau von Pag - wisch, wo der heilig« Christ aufgestellt war." Das Fest wurde- also bei der Mutter der Schwiegertochter begangen, und am 25. Dezember 1831 heißt es:„Früh di« Kinder: zufrieden mit ihren Weihnachts - gefchenken..
Jliii äüubrowfki: Jim 22. 3>esEember 18*19 morgens...
Ein« sternenklar«, frostige Dezembernacht lag über der Stadt. St. Petersburg schlief, eingehüllt in eine dicke, weiße Schneedecke Von einer nahen Turmuhr klangen langsam und getragen fünf zitternd« Glockenschläge, und gleich darauf erwiderten fünfmal In verschiedenen Teilen der Stadt andere Uhren. Und dazwischen, in den langsamen, gleichmäßigen, tiefen kupfernen Klang, fiel ein Helles, fein abgetöntes Glockenspiel. Dann wurde es wieder still: nur ab und zu klopften die Nachtwächter in ihre hölzernen Bretter. und hier und da bellte«in gestörter Hofhund. Weit am Newastrom, gegenüber den am Ufer schlafenden Pa» lasten, lag stumm, wie ein großes, graues Ungeheuer, die Peter- Pauls-Festung , mit ihrer gegen den Himmel herausfordernd ge- richteten nadelartigen Spitze. Heute begann in der Festung das Anzeichen des Lebens aus- nahmsweise etwas früher als gewöhnlich. In dem auf einem der vielen Höfe liegenden Wachthäuschen brannte bereits das Licht. Bald verließ eine Gruppe verschlafener Soldaten mit lautem Eisen- gepolter der schweren Gewehre das Haus, ging über den schmalen Weg des verschneiten Hofes und verschwand, nachdem sich die Leute ihre Stiefel an der Türschwelle vom Schnee abgeklopft haben, im Eingang des Hauptgebäudes. Die dunklen, schmalen Kasematten der Festung, in denen politische Gefangene oft Jahrzehnte schmachteten, glichen alten ver- nachlässigten Grüften. In einer der Kasematten schlummerte am Fußende der Schlafbant, angelehnt an die feuchte Wand, ein junger Mann Er war schlank und hager, sein knochiges, blasses Gesicht umrahmte ein dunkler Bart, und die hohe, breite, muskulöse Stirn verlieh ihm den Ausdruck der Erhabenheit und Intelligenz. Er war m>t Mühe erst um zwei Uhr eingeschlafen: inzwischen wachte er jede Stunde auf. Die stickige Luft der Kasematte störte ihn, und scule ichmale Hand zuckte nervös an der Deck« oder griff immer an die gleiche Stelle seiner Brust, die ihm scheinbar schmerzte. Schräg gegenüber der Schlafstelle stand ein großer Tisch. Dar- auf lag ein ganzer Berg von teilweise beschriebenem Papier, eine dicke Bibel in französischer Sprache, ein paar andere Bücher, einige Hefte der Zeitschrift„Vaterländische Aufzeichnungen" und eine selbst- gemachte Kalendertafel, worauf alle Tage, von April bis 22. De- zember, durchstrichen waren: daneben stand ein Wasserkrug und eine halb abgebrannte Kerze, die dem Gefangenen als besondere Be- günstigung gewährt wurde. Der junge Mann schlief sehr unruhig und atmete laut und un- gleichmäßig: ab und zu murmelte er auch etwas im Traume vor sich hin. An der Tür wurde leife gerüttelt, und im selben Augenblick machte der Gefangene die Augen auf. Durch die aufgemachte Tür- klappe fiel ein schmaler Lichtstreifen in die Kasematte, und das be- kannte Gesicht des alten Korporals schaute hinein. „Dostojewski!" Der Gefangene rührte sich nicht: dann sagte er letse:„Ja!" „Aufstehen... Fertigmachen!" Und wieder wurde es dunkel. Nach eine Weile blieb der junge Mann unbeweglich sitzen— er überlegte: hat er denn wirklich so lange geschlafen?, Aber es'st noch so dunkel.. Das Fsnsterchen da oben ist noch kaum zu er- kennen. Wie spät mag es jetzt sein?— Er stand auf, zündete die Kerze an und begann sich langsam in Ordnung zu bringen. In einer halben Stunde knarrte das Schloß und die schwere, eiserne Tür ging auf. Der alte Korporal brachte heißes Wasser zum Tee und ging wortlos hinaus. Wie sonderbar schweigsam ist er heute— dachte der Gefangene: und instinktiv überkam chn selbst das Gefühl einer seltsamen Unruhe. Oben, durch das Quadrat des Fenstergitters, kroch ein grauer Schimmer des aufkommenden Tages in die Kammer hinein... Etwas später kam der Korporal in Begleitung eines Offiziers wieder. Der Gefangene— Fjodor Michailowitsch Dostojewski — mußte sich anziehen und mitkommen. Im langen, hohen Korridor war es bereits hell. Am Ende dos Ganges standen die anderen
Kameraden. Man zählte: 21 Mann!— Keiner von ihnen redete, doch jeder einzeln« fühlte, daß heute irgendwas geschehen, irgend- eine wichtige Entscheidung kommen würde. Vielleicht führte man sie noch einmal zum Verhör!— In Begleitung bewaffneter Soldaten gingen sie die Treppe hinunter� dann, durchquerten olle einen breiten Hof. Doftojewski blickte sich um: hier durfte er im Sommer manchmal eine Stunde spazierengehen: siebzehn Bäume zählte er darin, das war für ihn damals ein großer, wunderschöner Park.. Die schwere Tür des Hofes ging auf und die Gefangenen traten in einen zweiten, etwas größeren Hof. Aber was sollte das be- deuten...? Wozu standen hier diese großen, ungemütlichen Mili- tärwagen? Und das berittene Militär?— Bis jetzt verhielten sich alle ruhig, aber beim Anblick dieser Wagen begannen die Gefan- genen nervös und laut zu sprechen.— Man stieg ein, die Wagen- türen wurden zugeklappt, die Kavallerie flankierte di« Seiten, und der ganze Zug verließ im schnellen Trab die Festung Dostojewski faß zum Glück am Wagenfester. Er schaute aus den klaren, bläulichen Himmel, aus die ersten Strahlen der aus- gehenden Sonne, auf den die Augen blendenden weißen Schnee, auf die Straßen— alles ihm bekonnte Straßen— und die Menschen. di« sich frei und friedlich bewegen, Menschen, die er seit acht Monaten so nicht gesehen hat— und er dachte:„Wie schön ist dos Leben— das freie Leben!" Der Gedanke wurde wieder wach in ihm: weshalb fährt er jetzt eigentlich mit? Worin bestand sein Werbr«ch«n?— Daß er, wie auch viele andere Intellektuelle, sich von Charles Fouriers sozial- politischen Utopien hinreißen ließ? Aber es war doch nur eine rein theoretische Auseinandersetzung mit jenen Problemen, die ge- rade Rußland so furchtbar quälten. Wie konnte man da auch stillschweigend vorbeigehen, wenn man nur einen einzigen Funken des Mitgefühls und der Verantwortung befaß. Zweifellos fürch- tcte der Kaiser einen gewaltigen Umsturz... O, wie töricht! Der Zug bog in eine schmale Straße hinein. Ein bärtiger Pförtner schippte ruhig Schnee vom Bürgersteig. Und Dostojewski schien, als ob sich chre Augen trafen. Wie beneidete er jetzt diesen Pförtner!... Ein kleiner Hund warf sich mit schrecklichem Gebell dem Wagen entgegen. Zwei in schwere Pelze eingehüllte Studenten blieben neugierig stehen.„Was macht wohl jetzt der Bruder?". dachte Dostojewski weiter.„Gott fei Dank, daß er wenigstens frei- kam... Und die Eltern in Moskau werden wohl von all dem noch gar nichts gehört haben--" Auf einmal fuhr der Zug auf ein freies Gelände und hielt. Dostojewski und die anderen stiegen aus. Ach.— das war ja der Semfonowsche Platz! Wie oft exerzierte er hier, noch während seiner Studienzeit... Ein Hustenanfall befiel ihn. Mitten auf dem verschneiten, von der aufgegangenen Sonne wie mit glitzerndem Goldpulver überstreuten Platz war eine Kom- pagnie Soldaten aufgestellt. Daneben stand eine Gruppe von Offi- zieren und Justizbeamten. Dorthin wurden die Gefangenen diri- giert, und je näher sie kamen, desto stärker wurde ihr Angstgefühl vor dem Ungewissen. Jetzt sahen sie plötzlich gegenüber der Kom- pagnie drei eingebaute, dicke Holzpfeiler stehen. Hier machten sie balt. Man zählte sie wieder.— Verständnislos schauten sich die Ge- fangenen gegenseitig an und scheu, wie eine schutzlose Herde vor herannahendem Gewitter, rückten sie näher aneinander. Eine schreck- liche Vermutung stieg in jedem einzelnen von ihnen auf,, doch traute sich keiner, diese Vermutung laut auszusprechen. So standen sie alle da. blaß, übernächtig� mit fiebrigen Augen und warteten auf das weitere Geschehen. Nach einer Weile hörte man Kommandoruf«, und die Kom- pagnie nahm da, Gewehr über. Ein junger Hauptmann trat her- vor und mit heller Stimme begann er laut das Urteil zu lesen. Wenn er in hen kleinen Atempausen, die er nach jedem Satz machte, aufblicken könnt«, sah er hie graue Gruppe lauschender Menschen sich gegenüber, deren Augen unbeweglich ans ihn gerichtet waren. Er fühlte, wie diese entfetzten Blicke ihn festzunageln schienen, und
dieser Umstand störte ihn sehr beim Vorlese». Eine leichte Blässe trat auf sein Gesicht, und je weiter er las. desto unsicherer llang seine Stimme, als weim er sein eigenes Urteil spräche. Als er endete, herrschte ein paar Sekunden fast absolute Stille. Nur in den Ohren der Gefangenen tlangen noch ganz deutlich die letzten Worte des Hauptmanns:...... Todesstrafe durch Erschießen."— Es war schwer im Moment, die furchtbare Bedeutung dieser Worte zu erfassen. Dostojewski schien, als ständen sie, wie rote Buchstaben, vor ihm in der Lust erstarrt. Die grausame Vermutung wurde zur Gewißheit. Und gleichzeitig, wie ein eiliges Fliehen vor der gräßlichen Gegenwart, zog sein früheres Leben blitzschnell in seinem Gedächtnis vorüber: die Kindheit, in der Dienstwohnung eines Mo-kauer Krankenhauses, der nervöse, ständig gereizt« Vater in seinem weihen Arztkittel, die geliebten Brüder, St. Petersburg und die militärische Ingenieurschule mit ihren Strapazen und Entbeh- rungen, die ihm jetzt nur als etwas Angenehmes vorkam:'die halb- konspirativen Zusammenkünfte bei Petraschewski , und schließlich jene Nacht seiner Verhaftung, wo er als„Hochverräter" in die Festung übergeführt wurde. Das alles zog jetzt schnell und wehmutsvoll vorüber und erlosch, als wenn unter seiner Lebensbilanz ein Strich gezogen wurde... Plötzlich sah er ein anderes, unbekanntes Gesicht, und das kalte Metall de- Kruzifixes berührte seine Lippen. Der Geistliche segnete ihn und ging zu dem Nächsten Zwei Leutnants kamen heran und zerbrachen über dem Kopf eines jeden Verurteilten einen Säbel. Fassungslos ließ sich Dosto - jcwski wie die übrigen ein lange«, weißes Totenhemd anziehen. Man verteilte sie in Gruppen zu je drei Mann. Dostojewski war als sechster in der zweiten Gruppe. Bertzweifelt starrte er auf zwei starke Grenadiere, welche etwas hastig die drei leichenblassen Menschen vorne an die Pfeiler banden. „Ist das möglich", dachte er,„man wird einfach auf die friedlichen, wehrlosen Menschen schießen?... Aus widerspruchslosen Befehl? Weshalb?!—" Seine Gedanken irrten.„Leben.... leben.... leben...", hämmerte es ihm im Kopfe. Es begann ein tolles, hilfloses Klammern an ein ephemeres Etwas:— was wäre, wenn man nicht sterben sollte? Wenn man das Leben zurückrufen könnte— welch eine Unendlichkeit! Dann hätte er jede Minute in ein Jahrhundert verwandelt, jede Minute gezählt, um auch nichts unnütz zu verlieren? Er sah sich um: neben ihm standen seine Kameraden Plescht- schejew und Durow: wortlos sielen die drei zum Abschied einander in die Arme. Ein schriller, dreifacher Trommelwirbel zerriß in diesem Augen- blick die Spannung. Alles schaute verwundert nach vorne, wo ein großer, streng aussehender Oberst ein Papier in der Hand hielt, bereit, etwas vorzulesen. Und siehe— man band die drei Käme- raden von den Pfeilern wieder los. Was war geschehen?— In Ungewisser, freudiger Erwartung schlug das Blut heftig in den Adern: der goldglitzernde Schnee blendete die Augen, die Kirchen- tuppeln schienen im Feuer auszugehen, und die ganze Lust war wie ausgelöst im Sonnenlicht.-- Der Oberst sprach, und wie ein be» freiendes Aufatmen ging ein tiefer, erleichterter Seufzer durch die Gruppen der Gefangenen. Einige bekreuzigten sich.„Eine grau- stge Komödie...", flüsterte jemand; aber niemand hörte auf ihn. Auch die finsteren Gesichter der Soldaten schienen heller, und ein weicherer Ausdruck umspielte ihre Züge. Die Welle der Cntspan- nung rollte von den Leuten in weißen Totengewändern auch über die strammen Reihen der Soldaten hinweg... Zwei Tage später, in der Nacht vom 24. zum 25, Dezember, während die Glocken Rußlands zur Weihnachtsfeier schlugen, ver- ließ ein einsamer Schlitten St Petersburg in östlicher Richtung. In der Tiefe des niedrigen, gedeckten Schlittens, schlummerte ein an Händen und Füßen geketteter Mann. Vorne, neben dem Kut- scher, faß ein älter Landjäger: hinter deni»linken Aermelausschlag seines dicken MUUärmantels hatte er Papiere des im Schlitten- innern liegenden Mannes. Es stand daraus: Dostosewski, Fjodor Michailowitsch, begnadigt zu vier Jahren Zuchchaus in Sibirien und drei Jahren Militärdienst an der Front.
Zturück aiini ßalleU Die Entwicklung des neuen Tanzstlls vollzog sich im ausgs- sprochenen Gegensatz zu dem bis dahin herrschenden Ballettstll. Der neue Tanz hat sich durchgesetzt. Es ist nicht leicht, ihn über die bereits erreichte Höhe hinauszuführen. Leichter ist es. zum Rückzug zu blasen. Zum Rückzug aus das Ballett, das lange tot ist und nur noch zu grob-materiellen Zwecken, etwa zur Kräftigung der Bein- technik, zu äußerlich dekorativen oder akrobatischen Wirkungen von Nutzen ist, das aber an den Geist des modernen Tanzes nicht rühren darf. Das Ballett Gfoosky, das im Wintergarten gastiert, scheint diesen Tatbestand richtig erfaßt zu haben..,3 rn Modesalon durch die Jahrhunderte" nennt es die neun kleinen Bilder, die in geschickter und geschmackvoller Aufmachung vom Mittelalter über Rokoko. Walzer und Eake-Walk zu Tango, Cbar- leston und Rumba führen. Die Kostüme sind fast die Hauptsache, der Tanz ist unoeimeidlich, aber nicht wesentlich lind das ist gut so, denn die Technik, namentlich die Spitzentänze, die hier gezeigt wer- den, sind längst überholt und werden von den Resten des alten rufst- scheu Balletts sehr viel virtuoser und wirtsamer produziert Trotz der Mitwirkung einer Pri-maballerina von der Königlich Vlämischen Oper in Antwerpen und eines Mitglieds der Moskauer Großen Oper trug das Ganze den Stempel der Schüleraufführung. Ballellgeist atmeten auch die Tänze, die ein— laut Programm — aus Paris kommendes Fräulein Bella Reine im Bachsaal zeigte. Auch hier waren die Kostüm« das Wichtigste. Das Tänze- rtsche kam nicht in Betracht. Solche pantomimischen, mit unsicherem rhythmischen Gefühl gestalteten und in nicht immer einwandfreier Technik gebrachten Szenen duldet man in Berlin kaum noch auf mittleren Varietes. Kunsttanz ist nach unseren Begriffen etwas anderes. In Paris scheint man anspruchsloser oder toleranter zu sein. _ j. S. Me viele die Großstadt verschlingt. Nach einem soeben veröfsent» lichten Bericht sind in P a r i s im letzten Jahr 27 999 Personen ver- schwunden, hauptsächlich wegen Schulden, Liebesgeschichten oder aus Abenteurerlust. Nach einer Zusammenstellung in New Park wurden dort im vergangenen Jahr 25 999 Personen vermißt, dar- unter 3599 Knaben und 2459 Mädchen. Die Londoner „Ver- luslliste" belauft sich auf durchschnittlich 12 Personen am Tage, wäh- rend in ganz England jährlich etwa 15 999 Frauen allein als ver- mißt gemeldet werden. Auch in London ist die Zahl derer, die die Großstadt verschlingt, zum größeren Teil weiblichen Geschlechtes. Als Gründe für das Verschwinden von Männern werden angegeben: Häusliche Zwistigkeiten, geschäftliche Sorgen: als Gründe der Frauen hauptfächlich: Liebesgeschichten und klein« Diebstähle, bei Mädchen Abenteuerlust oder Lebensmüdigkeit. In zunehmendem Maße ist auch Gedächtnisschwund Ursache des Verschwindens. Die Eintagsfliege lebt zwei bis drei Jahre lang«in Räuber- leben auf dem Grunde der Flüsse, als Infekt aber nur einige. Stunden, y* Serantwortlicki'Ut Politik: Btctor SchiN: Wirtschaft:®. BlinaelbM«; ©coctlfd-aftsberneaunn: Z. eUintt; ScjiDeton:®r. gabn S�ik-w-Ii: Üofales und ffouft'ae»; Ütib Karstädt: Anzeigen: Tb.©lock-! sämtlich in Berlin . Lerlaa: Varwärts-Verlaa® rn b. S., Berlin . Druck: Borwiirts.Buckdruckcret und Berlagsanstalt Paul Tinaer u. Co.. Berlin EW. öS, Lindensliabe i>. Hierzu 2 Beilagen,