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Rr. 603 48. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts Freitag, 25. Desember 1931

Flucht ins Weihnachtsland

Wir leben in der schwersten Krise seit Kriegsende und haben dennoch den stärksten Reiseverkehr, den je die Weihnachtstage in den letzten dreizehn Jahren gesehen haben. Wie die Mauern standen die Reiselustigen vor den Fahrkarten schaltern und warteten, ohne zu murren, zwei und drei Stunden lang, bis sie ihre Fahr­karten hatten. Es war, als wären plötzlich die ersten Tage der Sommerferien wieder auferstanden, so groß und noch größer war die Abkehr von der Großstadt und die Flucht ins Weihnachtsland. Den äußeren Anlaß zu dieser winterlichen Reise- Hausse hat zweifellos der Beschluß der Reichsbahn- Gesellschaft gegeben, verbilligte Sonntagsrückfahrkarten nach zahllosen, auch den weitest entfernten Orten auszugeben. An Zehntausenden von lebendigen Beispielen ist hier die alte Weisheit aufs neue erhärtet worden: nämlich die Sache vom großen Umsatz mit dem kleinen Nutzen. Da sind noch vor vierzehn Tagen Züge durch Deutschlands Gaue gelaufen, in denen vielleicht dreißig, ach, nicht einmal, sondern nur 20 Fahrgäste saßen. Plötzlich war mit einem Schlag dieser chronische Schround an Reisenden überwunden; eine kurze Bekanntgabe über die weihnachtliche Verkehrsverbilligung hatte bewirkt, daß der alte Fahrplan gar nicht mehr für die Beförderung all der Massen ausreichte. Gestern und vorgestern lief fast zu jedem Berlin verlassenden Fernzug noch ein Vorzug und beide der Vor- wie der Hauptzug maren voll besetzt. Da müssen noch andere Dinge mitspielen als die einfache Fahrpreisermäßigung. Denn diesmal sind Leute verreist, die schon jahrelang in keinem Zuge mehr gesessen haben, die immer in Berlin geblieben waren und höchstens einmal nach Erkner oder Werder fuhren. Es bot sich diesmal Gelegenheit, auf zehn lange Tage der Großstadt ade zu sagen und zehn Tage lang dem zermürbenden Tempo dieses Asphalt- Labyrinths zu entfliehen. Bums, fiel die Tür ins Schloß und rums drehte sich der Schlüssel. Dann ging es mit Sack und Pack zum Bahnhof.

Fahrkarten ausverkauft.

Knapp zehn Meter von der Lokomotive entfernt stand auf jedem Berliner Fernbahnhof diesmal ein riesengroßer Weih nachtsbaum, von Dutzenden von Kerzen erhellt. Die Reichs bahn münschte ihren Kunden ein frohes Fest. Dabei mußte man

annehmen, irgendein hoher Herr wäre im Anrollen, so zahlreich maren die Doppelpatrouillen der Bahnpolizei, die den Verkehr

Abschied aus Berlin .

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regelten. Es war aber auch ein seltener Andrang: zwei Stunden vor Abgang jedes Zuges wurden die Bahnsteigsperren belagert, um einen guten Platz zu ergattern. Seit Tagen war das letzte Bett in den Schlafwagen verkauft, die Plazkarten für die Schnell­züge waren im Handumdrehen vergriffen. An Vorbestellungen waren allein auf dem Anhalter Bahnhof eingelaufen: 3800 Fahr­farten nach Frankfurt a. M., 3000 nach München , 3000 nach Leipzig , 2500 nach Halle und 2000 nach Dresden . Die Bestellannahme für die denn es gab jeweils mehrere Ostpreußen oder für die Riefengebirgs- Sonderzüge waren kaum geöffnet, da mußte sie schon wieder geschlossen werden. Man hatte aber auch die Fahrpreise radikal heruntergesetzt: hin und zurück( Rückfahrt bis 4. Ja­nuar 1932) nach Marienburg 22,50 Mart, nach Elbing 23,70, Königsberg 29,30 und bis nach Insterburg 33,50 Mark. Soviel foftet sonst beinahe die einfache Fahrt. Mit den Iser- und Riesen­gebirgszügen fonnte man hin und zurück für 14 Mark nach Hirsch­berg, für 15,40 Mart nach Schreiberhau und für 16,20 Mart nach Krummhübel fahren. Und mit den Harzzügen nach Wernigerode für 10,80 Mart, nach Blankenburg für 11,30 und nach Goslar für 12,40 Mart hin und zurüd. Dabei war einbegriffen die Gebühr für die Beförderung von Schneeschuhen und Rodelschlitten. Also. alles was recht ist. Das Ende war, daß die Abfahrtshallen der Berliner Bahnhöfe gestern und vorgestern aussahen wie Startplätze zu Sti- Wettkämpfen, so tam jung und alt mit Stiern und Schlitten angerannt. Dazu Koffer, Risten, Kiepen, fleine Kinder, Rucksäcke, Tornister, es war, als befände sich halb Berlin auf der Flucht. Die Fahrpläne waren einfach auf den Kopf gestellt, überall hingen große Blafate, ja Obacht zu geben, denn ,, wegen der veränderten Betriebslage fahren die Züge von anderen Gleisen ab" als sonst auf den Zugtafeln steht. Man stand da und staunte: für den Schnellzug nach Wien - Budapest - Belgrad mußte ein Vorzug ge­fahren werden, ganze Kompagnien von Dienstmännern waren an­getreten, eisbetruſtet, wie die Züge von der Fahrt kamen, hatten manche Magen gerade eine Stunde Wendezeit, dann ging es aber­

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I mals hinaus in den schweigenden Winter. Wir anderen durften| lichen Mansfelder Landes immer noch die Schweine in den Ställen, nur den roten Schlußlichtern nachsehen. es würden die Kartoffeln in den Mieten liegen und im Keller ein paar Kohlköpfe.

Der einfache Tag.

Wenn die Hunderttausende von Männern und Frauen, die über die Festtage in die Heimat gefahren sind, den unwirtlich­naßfalten, nur spärlich beleuchteten Bahnhof ihrer Heimatsstadt verlassen, über das holprige Kopfpflaster des Vorplates stampfen und dann in die Gasse einbiegen, durch die es zu Großmutters Wohnung geht, dann soll damit nicht gesagt sein, daß dies alles nun dem Einzug ins Paradies gleich käme. Es gibt wohl heute feinen Landstrich mehr, der nicht auch seine Sorgen hätte und wenn die Angekommenen fragen, was denn der Erich von Tante Anna macht, der hat ja gar nichts mehr von sich hören lassen, dann wird die Großmutter antworten: Der Erich, der muß jetzt auch feiern, seitdem die Ziegelei stillgelegt worden ist. Gestern war er bei uns und hat den Weihnachtsbaum gebracht. Er hat ein paar Tage geholfen beim Förster, da hat er sich ein Paar Stiefel ver. dient. In der Schneidemühle arbeiten sie auch nur noch verkürzt. Die Männer sagen, es wird ja nicht gebaut, da braucht man keine Ziegel und feine Bretter. Ich verstehe das nicht, wo es doch bei euch keine Wohnungen gibt." Dann haben die Emailletöpfe wieder ihren Ruhetag, vor jedem Gast baut sich in der guten Stube eine Taffe aus Porzellan auf, ein halbes Brot wird aufgeschnitten, ,, Oma, schneide doch nicht so viel ab, das schaffen wir ja gar nicht", aber Großmütter schneiden immer halbe Brote auf und dann muß gegeffen werden, als hätte man seit dem ersten Adventssonntag nichts mehr im Leibe. Und wenn die Menschen noch vor knappen zwölf Stunden unschlüssig vor den vielen Wurstsorten der Fleischer­meister gestanden haben und überlegten: gestern hatten wir Land| leberwurst, vorgestern Fleischwurst, ob man mal Braunschweiger nimmt, dann denkt tein Mensch an Großmutters gedeckten Tisch mit dem dampfenden Malzkaffee, dem Schweineschmalz und dem

Der Mühlbach unter Schnee und Eis. duftenden Leinöl, an die. Wurst, sondern alle hauen ein, daß die Rinnladen frachen. Die Menschen dort leben einfacher. Das, um nur ein Beispiel zu nennen, kann man sich gar nicht vorstellen, eine biedere Aderbürgersfrau, die eine Apfelfine abpellt oder eine Banane ißt. Die Kleinstadt mildert die Krise. Die dreitausend Männer von Borsig, die fizen jetzt mit der barbarischen vierwöchigen Karenzzeit da, ehe sie bezugsberechtigt für die Unterstützung wer­den. Wir möchten in dieser Stunde feinem in den Kochtopf sehen. Wenn dagegen morgen endgültig der Mansfelder Kupferbergbau zum Erliegen fäme, dann ständen in den Grunddörfern des lieb=

Weihnachtsreiseverkehr ,, sehr lebhaft"

Das Urteil der Reichsbahn

tungen verkehrten. In den Vormittagsstunden bereits waren die 3üge zu 100 Prozent besetzt.

Am Vorweihnachtstage, dem 23. Dezember, wurde in den Nach-| 56 Vor- und Nachzüge bereit, die nach allen Himmelsrich­mittagsstunden der Reiseverkehr von Berlin aus auf einzelnen Strecken so lebhaft, daß neben den vorgesehenen Vor- und Nach­zügen weitere Vorzüge eingelegt werden mußten.

Auf dem Görlizer Bahnhof mußte ein weiterer Zug nach Hirschberg gefahren werden. Vom Anhalter Bahnhof fuhren z. B. anstatt der 3 nach Frankfurt und 4 nach München vorgesehenen Vor- bzw. Rachzüge 4 nach Frankfurt und 3 nach München , da der Verkehr nach Frankfurt lebhafter war. Insgesamt kam die Reichsbahn am 23. Dezember mit 46 Bor­und Nachzügen und einem Sonderzug aus, um alle Reise lustigen zu befördern. Die Züge, auch die Hauptzüge, waren durch schnittlich zu 80 bis 90 Prozent besetzt.

Für den 24. Dezember rechnete die Reichsbahn mit einem leb­hafterem Berkehr als am Vortage, der allerdings am Nachmittag, gegen 5 Uhr, abflaute. Insgesamt standen für den Heiligabend

Soweit jetzt schon ein Ueberblick möglich ist, fann trotz alledem der diesjährige Weihnachtsreiseverkehr zwar als sehr lebhaft. aber nicht gerade besonders start bezeichnet werden.

Schneeschuhe auch in Schnellzügen.

Nachdem die Reichsbahndirektion Karlsruhe und Breslau fürzlich versuchsweise die Mitnahme von Schneeschuhen in die neuen 3. Klassewagen der Eilzüge gestattet haben, ist jetzt diese Erlaubnis noch erweitert worden: Die Reichsbahndirektionen München, Augs­ burg , Nürnberg , Regensburg , Stuttgart und Karlsruhe haben nun­mehr versuchsweise auch die Mitnahme von Schneeschuhen in die Personenwagen 3. Klasse der Schnellzüge ge­stattet.

Spatzen baden im Schnee.

Am Morgen hat sich der Wind gelegt; die Erde atmet auf. Der Teich vor dem Stadttor ist gefroren, grau und voller Blasen Weißt du, als ich heute morgen beim Kaufmann Gatschte vorbei. ist die dünne Eisdecke. Die Weiden halten ihren Winterschlaf. ging, da hat der mich wohl erkannt, aber er hat immer Albert zu mir gesagt, dabei heiße ich doch Paul. Aber ich habe ihn bei dem Glauben gelassen, daß ich Albert heiße. Er hat sich ganz gut ge­halten, der Alte. Als ich ihn fragte, was das Geschäft macht, meint er, das hätte er vergrößert, er hat sich jetzt noch eine Sod

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brennerei zugelegt. Wir lachten, da ging draußen der Brauer Klose vorbei. Das muß doch immer noch gehen mit der Braunbier­verkauf. Er hatte seine große Klingel, bimmelte und rief: Der Brauer ist hier!' Acht Fässer hat er wohl auf dem Wagen gehabt und als feiner fam, zog er fünf Häuser weiter." Benn der ehren­merte Herr Klose nicht die Straße entlang flingeln würde, dann wäre die Ruhe himmlisch. Keine Straßenbahn, teine Autobusse, feine 5- Tonner- Lastwagen, teine... ja, was denn?... gar nichts! Gerade, daß ein Hund bellt, alle halbe Stunde ein Bauernwagen durch die Stadt rumpelt und da drüben die Spaßen schilpen. Sie haben ihre liebe Not, bei jedem Schritt versinken sie bis zum Baudy im Schnee. Aber Schritt" tann man nicht gut sagen, bei jedem Hupf müßte es heißen. Jeder Hupf ist für die Spaßen ein Bab im Schnee. Jetzt haben sie sich unter einen Strauch gesetzt und fizen da wie müde Greise, die mit den Augen blinkern. Es ist nichts zu fressen da, alles hat der Schnee verdeckt. Der Mann überlegt: gibt es bei uns in Berlin am Alexanderplatz eigentlich noch Spatzen? Dann hallt es zwölfmal über die Stadt, die Uhr am Kirchturm zeigt die Mittagsstunde an. Man braucht nicht die eigene Uhr aus der Weste zu ziehen, die alte Glocke sagt immer noch die Zeit an. Etwas dünn scheint der Klang geworden. Die Frau meint: heute essen wir bei Bernhard. Da kriegst du den Schmorkohl, wie du ihn gerne hast, Auguste macht immer viel Nelken an den Kohl. Bernhard berichtet über seinen Aeltesten: Was der Bengel alles anstellt. Er ist ganz wild auf radfahren. Neulich borgt er sich ein Rad von einem Freund, zieht sich so einen ge­streiften Sweater an, wie ihn die Rennfahrer haben und fegt mie der Deibel durchs Stettiner Tor. Auf dem Markt macht er halt und fragt den Apotheker: Herr Witte, sind die Rennfahrer schon durch? Der Witte weiß von gar nichts und sagt: nein, er hätte teinen Rennfahrer gesehen. Da meint der Bengel: Na, dann bin ich ja der erste, die anderen habe ich aber abgehangen, da werde ich erst mal zu meiner Tante Kaffee trinken gehen. Bielleicht fommen inzwischen die anderen. In Wirklichkeit war alles Kohl, da war gar fein Rennen. ,, Was macht denn Else?" ,, Die

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ist über die Feiertage nach Hamburg gefahren. Die hat jetzt einen Schatz, der ist bei der Schupo. Erst haben sie sich nur immer ge­schrieben, aber jetzt ist sie rüber gemacht. Er konnte nicht weg, sie hätten dauernd Alarm, schrieb er."

Vor der Abfahrt wurde es vorn noch ein wenig lebhaft. Das ist doch kein Zustand, Herr Schaffner, da machen Sie so einen langen Zug und dann nur drei Wagen für Raucher? Machen Sie

Fern vom Treiben der Riesenstadt. doch ein paar Wagen für Raucher!" Herrieses, denkt der Schaffner, sollen die Leute doch rauchen, flappt das fleine Emaille­schild um, jetzt ist es rot, vorher war es weiß. Dann ruft er: ,, Blah nehmen, bitte", das Signal wird gegeben, langsam rudt der Zug an und die Reisenden paden ihre Stullen aus und tauen auf beiden Backen. Seltsam, daß sich in Bewegung fetzende Züge für neunzig Prozent der Menschheit so ungemein appetitanregend

wirten.

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