Wir berichteten vor kurzem über ein aufsehenerregendes Urteil, das der Eingelrichter beim Amtsgericht Rotenburg an der Fulda , Amtsgerichtsrot Sunkel. in einer Beleidigungsklage ge- fällt hat, die von dem Geschäftsführer der„Vorwärts"-Verlag- G. m. b. H., Genossen Theodor Glocke, und dem Chefredak- teur des„Vorwärts", Genossen Stampfer, gegen einen bäuer- lichen chltlerwcmn, den Landwirt Claus aus Asmushausen , ange- strengt war. Besagter Claus hatte in einer sozialdemokratischen Versammlung als Diskussionsredner gesprochen und dabei die alt« Lüge wieder ausgewärmt, der„Vorwärts" fei oon der Danatbank und ihrem Direktor Jakob Goldschmidt mit Geld„unterstützt" worden und habe sich dafür verpflichtet, nichts gegen die Juden zu schreiben. In einer Reihe von Prozessen sind nationalsozialistische Re- dakteure und Versammlungsredner, die den gleichen Unsinn verzapft hatten, bereits mit mehr oder weniger hohen Geld st rasen be- legt worden. Ueberall wurde, zum Teil nach eingehender Beweis- aufnähme, festgestellt, daß an der Mär von dieser angeblichen Geld- gewährung— sei es in Form eines Darlehens oder einer, wie wohl auch behauptet wird.„Unterstützung"— keine Silbe wahr ist. Ueberall wurde auch festgestellt, daß die Behauptung, der„Vor- wärts" habe sich für diese angebliche Geldunterstützung zu einer bestimmten politischen Haltung verpflichtet, eine schwere Ehren- k r ä n k u n g sowohl der Redaktion wie der Seschäftsleitung unseres Blattes darstelle. Anders in Rotenburg an der Fulda. Dort hat der Einzelrichter Sunkel den Naziredner glatt freigesprochen mit der Begründung, es könne für den Geschäftsführer des„Vor- wärts" keine Beleidigung sein, wenn man ihm nachweise, daß er für sein Blatt oon irgendeiner Seit« ein« Unterstützung an-
Die Zuspätgekommenen
„Dummer Kerl, geh doch nicht schon entzwei! Wir wollten das doch erst nach unserer Machtergreifung besorgen."
nehme. Aber auch die Redaktion und besonder, der klagende Chefredakteur könnten nicht beleidigt sein, denn die Redak- teure befänden sich gegenüber dem Verlagsleiter in der Rolle des Angestellten, der auf Befehl die von dem Verlags- leite r bestimmte Linie innezuhalten hätten, selbst wenn das wider ihre Ueberzeugung ginge! Schon diese Art der Urteilsbegründung hat in den interessierten Pressekreisen lebhaftestes Befremden ausgelöst, um so mehr, als selbst der zwischen dem Arbeitgeberverband für das deutsche Zei- tungsgewerbe und dem Reichsoerband der Press« vereinbarte und verbindlich erklärte Tarifvertrag ausdrücklich feststellt: Dem Redakteur wird im Rahmen der mit dem Verleger ver- cinbarten politischen oder wirtschaitlichen oder kulturellen Richt- linien für die Rcdoktionsführung die geistige BewegungsfreiheU auch bei der Gestaltung des Textteils im einzelnen gewährleistet. Ferner wird in dem erwähnten Vortrag ausdrücklich versichert, daß„die Zusammenarbest oon Verleger und Redakteur bedingt ist durch die Pflicht zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen durch die Zeltung. Es darf daher vom Verleger auf den Redakteur kein Gewissenszwang ausgeübt werden." Das ist, wie gesagt, geltendes Recht für alle Redaktio- nen, wie viel mehr erst für die sozialdemokratischen, deren Redakteur« Vertrauenspersonen der Partei und dieser für ihre Haltung ver- antworllich sind! Für den Richter von Rotenburg aber sind diese Dinge voll- kommen neu und unerfindlich. Nach seiner Ueberzeugung leben die heutigen Redakteure noch in der gleichen Geistesverfassung, wie jener„Schmock". den Gustav Freytag im Jahre 1854 auf die Bühne stellte. Daß das freisprechende Urteil aber nicht nur in der Unkenntnis de» Herrn Sunkel begründet liegt, erhellt aus einem Nebensatz des Urteil», in dem es nämlich heißt: So aber war der Angeklagte wegen der angeblichen Be» hauptung dem Kläger Stampfer gegenüber ohne weiteres frei- zusprechen, wobei noch dahingestellt bleiben kann, ob Stampfer gegenüber nicht auch schon deshalch auf Freisprechung zu erkennen gewesen wäre, weil Stampfer jüdischer Abstammung ist. und es vielleicht für ihn schon deshalb etwas Selbstverstönd- liches bedeutet, in seinen Zeitungsartikeln nicht in einem gegen seine Volksgenossen gegnerischen Sinn zu schreiben, zumal noch hinzukommt, daß seine Zeitung das Leitorgan gerade der Partei ist, in deren Reihen die Juden von ihrem geistigen Begründer Marx an eine besonders hervorragende Rolle gespielt haben. Diese Weishest hat Herr Sunkel in das Urteil geschrieben, ohne auch nur im geringsten über den Inhalt dieser Behauptungen B e- weis erhoben zu haben. Er hat also sein Pseudowissen ein- fach als„gerichtsnotorisch" hingestellt und daraus Schlußfolgerungen gezogen. Aber auch das ist nicht nur eine gelegentliche Entgleisung, son- dern Herr Sunkel hat sich Mühe gegeben, vorher einiges von der Abstammung der klagenden Genossen Glocke und Stampfer so-
lichkeiten dieser„Vernichtung" werden von den nationalsozialistischen Rednern in den Volksversammlungen mit breitem Behagen ausgemalt. Nie fehlt die Versicherung, daß Köpfe rollen werden. Man will unzählige Galgen errichten oder Zehntausende von marxistischen Funktionären in der Nacht „der deutschen Revolution", den langen Messern der S A.- L e u t e überliefern. Durch diese Art der Agitation wird in leicht empfäng- lichen Menschen ein förmlicher Blutrausch erzeugt, der in erregten Zeiten ungemein ansteckend wirkt. Wir haben das in Bayern erlebt. Am 1. Mai 1923 konnten Hitler und seine Verbündeten nur durch das Eingreifen der be- waffneten Macht daran gehindert werden, die Arbeiter M ü n ch e n s, die in einem behördlich genehmigten Zug ihre Maifeier begingen, nach einem genau vorbereiteten militäri- schen Plane durch seine bewaffneten Scharen in den Straßen Münchens einzukreisen und, wie es im amtlichen Bericht des Münchener Polizeipräsidenten heißt,„w i e t o l l e Hunde niederzuschießen". Die Nationalsozialisten schreckten also vor einem Blutbad unter der friedlichen Be- völkerung keineswegs zurück. Hitlers jetziger diplomatischer Vertreter, Hauptmann Döring, verlangte damals,„daß am 1. Mai unter allen Umständen geschossen werde". Der gleiche Mann forderte nach dem Polizei- bcricht in einer Führersitzung der Nationalsozialisten vom 23. Oktober 1923, daß nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten überall„m i n d e st e n s einer zur Ab- schreckung sofort erschossen werden müsse". Am 9. November 1923 drohte er gegenüber Offizieren der Landespolizei,„daß beim ersten Schuß von ihrer Seite alle Geiseln erschossen würden, die sich in den Händen der Nationalsozialisten befänden". In der Tat sind damals die verhafteten Münchener Stadträt«, die gefangenen bayerischen Minister nur durch Zu- fall vor diesem Schicksal bewahrt geblieben. Den Ernst der nationalsozialistischen Absichten beweist das hessische Berschwärerdokument ebenso, wie der national- sozialistische Verfassungsentwurf vom 9. November 1923, in dem in Dutzenden von Fällen als einzige Strafe die Todes- strafe vorgesehen ist. So darf man sich über die möglichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Haßpropaganda keiner Täuschung hin- geben. Die Versammlungssprache der Nationalsozialisten hat breite Volksschichten, namentlich die Jugend, un° s ä g l i ch o e r r o h t. Die politischen Leidenschaften sind bis zur Siedehitze aufgepeitscht. Einem vielfach ganz unpoli- tischen und unwissenden Bürgertum ist unaufhörlich ein- gehämmert worden, an allem Elend der Gegenwart sei einzig und allein der Marxismus schuld. Die im Kaiserreich privilegierten Schichten sehen mit Neid und Ingrimm ein- fache Männer aus dem Volke an Stellen des Staates, die seit Jahrhunderten den Angehörigen ihrer Herrenkaste vor- behalten waren. Kleinbürger und Bauern glauben den ge- hobenen Arbeiter wegen seines Einkommens und seiner sozialen Rechte immer noch beneiden zu müssen. Durch Not und Elend sind weiteste Volkskreise nicht nur irre an der Weltordnung, sondern im Herzen böse geworden. In ihrer Verzweiflung klammern sich die Menschen, die nicht mehr aus noch ein wissen, gierig an die Worte national- sozialistischer Redner, die jedes bedauerliche Vorkommnis in Staat und Wirtschaft mit Inbrunst breittreten und als Cr- gebnis des heutigen Systems hinstellen, die das ganze Leben der Nation mit persönlicher Hetze vergiften und das Deutschland von heute als einen Tummelplatz von Lumpen und Verbrechern zeichnen. Der Nationalsozialismus hat alle verderblichen Triebe
und Leidenschaften der Menschen aus den Tiefen hervor- geholt und zu Mitteln des politischen Kampfes gemacht. Wir Sozialdemokraten wissen aber, daß die deutsch « Republik , wie jede menschliche Gemeinschaft, auf dem sitt« lichen Bewußtsein, dem Rechtsgefühl der meisten ihrer Mitglieder begründet fein muß, weil anders mensch- liche Gemeinschaft überhaupt nicht bestehen kann. Wir glauben, daß auch heute noch die große Mehrheit des deut- schen Volkes sich nicht aus«Untermenschen" zusammensetzt.
Nur Diktatoren können die Menschen für so dumm oder schlecht halten, wie sie selber sind. Unsere Ueberzeugung von der naturhaften Güte des Menschen verpflichtet uns aber, das Sammelbecken des Bösen, das der National- sozialismus heute darstellt, mit allen Mitteln zum Ablauf zu bringen. Wir dürfen nicht warten, bis Land und Volk von den Ausdünstungen dieses schmutzigen Tümpels verpestet sind, bis das ganze deutsche Volk in der kochenden faschistischen Schlammflut erstickt!
„Und in dieser letzten Stunde, in der wir das Ver- gnügen haben, mit unserem Gast zusammen zu sein, werden wir auch deutsch sprechen", sagte Herr Mactavish und wandte sich Germaine zu.„Allerdings dürfen Sie es nicht machen wie wir. und unsere Aussprache so streng kritisieren wie wir Ihr Englisci), denn sonst können wir überhaupt nichts mehr sagen."— „Ich habe auch keinen Grund dazu", erwiderte Ger- maine.„Sie haben eine ausgezeichnete Aussprache! Sie könnten Ihre Vorlesungen über deutsche Literatur, die Sie hier englisch geben, sehr gut auch an einer deutschen Uni- versität in deutscher Sprache halten! Aber ich möchte Sie .gern noch etwas fragen, was mich sehr interessiert! „Please, bitte!" Er legte die Gabel auf den Teller und sah sie erwartungsvoll an. „Ihr Kollege, Herr Professor Quenser in Oxford hat mir gestern erzählt, daß vor kurzem wieder einige Studenten des Ruskin College an der Oxford Univerfity eine Prüfung in Wirtschaft und Politik abgelegt hätten. Wie ist denn das möglich? Das Rüskin College ist doch nur eine Arbeiter- Hochschule?" Herr Mactavish lächelte, und mit ihm lächelten seine Frau und die beiden Töchter.„Eine echt deutsche Frage". erwiderte Herr Mactavish,„die von den deutschen Verhält- nissen ausgeht. Aber bei uns ist das anders, hier sind die Gegensätze zwar auch da— oh, man streitet sehr, ich meine, man kämpft für die Weltanschauung, für die Politik— aber es gibt auch Brücken, sehen Sie. Warum soll man nicht diese jungen Leute, die zwei Jahre sehr tüchtig gearbeitet haben am Ruskin College , zu einer Prüfung zulassen an der Universität? Auch die Arbeiter sind doch englische Bürger, sehen Sie!"— „Unsere Labour Party , das, was Sie in Deutschland Ar- beiterpartei nennen, sieht überhaupt etwas anders aus, als Sie vielleicht denken!" fiel nun die eine Tochter ein. die einige Jahre vor dem Krieg in Deutschland studiert hatte. „In der Labour Party ist man zum Beispiel nicht so seind- lieh gegen die Kirche gesonnen im allgemeinen, als es wohl
in Deutschland bei den Arbeitern der Fall ist. Wenigstens schien es mir damals so. Aber vielleicht hatte ich auch nicht den richtigen Einblick— als Ausländerin sieht man das ja nie so aus nächster Nähe."— „Ich kann darüber leider auch keine Auskunst geben, ich habe mich nie mit diesen Fragen beschäftigt", erwiderte Germaine bedauernd. „Aber Sie nehmen hoffentlich einen freundlicheren Einv druck von unserem Lande mit. Miß Loriot ", griff nun Frau Mactavish ein,„und sagen Sie bitte auch in Deutschland , daß wir die Deutschen nicht hassen, und daß unsere Freunde, die wir vor dem Krieg ,in Deutschland aufsuchten, auch heute noch unsere Freunde sind."— „Ja, darum bitte ich auch", sagte Herr Mactavish,„es gibt zwar auch bei uns Familien, die keine Deutschen mehr bei sich aufnehmen. Man muß das verstehen, sie haben Söhne verloren im Kriege... Aber es gibt solche Familien auch in Deutschland , die nicht Frieden schließen können. Sie fühlen Haß zu tief im Herzen —" Germaine sah aus die Uhr.„Ich bedaure, daß ich gehen muß", aber es ist Zeit. In zwei Stunden fährt mein Zug. und ich muß noch einige Besorgungen machen." Herr Mactavish stand auf und holte einige Briefe aus dem Nebenzimmer.„Wollen Sie diese Grüße übermitteln, bitte?" fragte er.„In Ihrer Heimatstadt ist es zwar nur Mr. Eifert, Ihr Direktor. Die anderen Freunde wohnen an anderen Orten. Aber wenn Sie einige Worte hinzuschreiben wollen, daß Sie uns besucht haben und daß wir Freunde geworden sind, dann würde ich sehr dankbar sein. Ich möchte gern wieder Beziehungen aufnehmen in Deutsch- land— sie fehlen mir für die Lorlesungen über deutsche Sprache und Literatur. Vor dem Krieg habe ich viele deutsche Bücher bekommen von meinen Freunden, und ich habe englische Bücher geschickt. Bielleicht könnte man das jetzt wieder tun."— „Ich begleite Sie zum Bahnhof." Die älteste Tochter stand auf und trat zu Germaine. „Sie sind sehr liebenswürdig", sagte Germaine etwas verlegen.„Aber machen Sie sich bitte nicht diese Mühe. Ich muß noch einmal nach Trosby Hall zurückfahren— ich habe noch nicht alles geregelt." „Wenn Sie wieder hierher kommen, dann laden wir Sie herzlich ein. in unserem Hause zu wohnen", sagte Frau Mactavish herzlich. „Darf ich diese Einladung auch für mich aussprechen?" erwiderte Germaine.„Vergessen Sie unser Süddeutschland nicht, wenn Sie selbst einmal über den Kanal fahren. Auch
meine Mutter und mein Bruder werden sich herzlich freuen. Sie bei uns zu begrüßen!"— „Nur noch anderthalb Stunde!" Eilig schritt Germaine die Straße entlang. Dann betrat sie das Postamt an der Ecke und öffnete die freie Fernsvrechzelle. „Hallo, ist dort Crosby Hall? Bitte schicken Sie mir doch sofort meinen Koffer zum Bahnhof! Ich kann leider nicht mehr zurückkommen- Ja, sonst ist alles geregelt. Danke sehr." Draußen rief sie eine vorüberfahrende Autodroschke an. „Victoria Station , bitte!"— Ob Reiner schon hier war? Sein Zug war bereits gegen 19 Uhr eingetroffen. Vielleicht war er einfach im Bahnhof geblieben? Suchend blickte sie sich um. Dann ging sie durch die Wartesäle und das Restaurant. Er war nir- gends zu sehen. Vielleicht hatte sich seine Abreise verzögert, und er traf erst am Nachmittag«in. Dann würde sie ihn nicht mehr wiedersehen. Enttäuscht ging sie in die Bahnhofs- halle zurück. „Fräulein Loriot! Ich dachte mir, daß Sie schon stüher hier wären, darum bin ich einfach hier geblieben." Froh reichte er ihr die Hand. „Ich habe Sie auch schon gesucht", sagt« Germaine,„und Fräulein Mactavish habe ich sogar einen Korb gegeben, als sie mich zum Bahnhof begleiten wollte. Aber nun haben wir noch über eine Stunde Zeit." Langsam schritten sie nebeneinander her. Aber es wollte heute kein rechtes Gespräch mehr aufkommen. Germaine er- zählte von allem, was sie in diesen zehn Tagen in London gesehen hatte, und Reiner berichtete von den Fabriken Birminghams, von den Spinnereien in Manchester , von den Genossen, die er dort kennengelernt hatte. Aber zwischen diesen Erzählungen lagen plötzliche Pausen, die es sonst nicht gegeben hatte. „Sie sehen angegriffen aus, Herr Reiner", sagte Germaine endlich, als sie zum Bahnhof zurückgingen,„ich fürchte, diese Nachtfahrt hat Sie sehr mitgenommen, denn Sie hatten ja auch m diesen Tagen keine Zeit, an sich zu denken. Sie haben keine Erholungsreise hinter sich/" Er sah sie an und schwieg. Wieder stockte das Gespräch. „Sie sind nicht die Nacht durchgefahren, aber Sie sind auch bleicher als sonst, Fräulein Loriot". sagte er dann. Schweigsam betraten sie die Bahnhofshalle. Der Gepäck- träger aus Crosby Hall wartete bereits mit dem Koffer. „Bitte, belegen Sie mir einen Platz im Zug. ich komme sofort nach", sagte Germaine zu ihm. Sie schritten durch die Sperre und blieben vor dem Abteil stehen. (Fortsetzung folgt.)