Nr. 43 49. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
22.30
Mittwoch, Januar 1932
Der Junge aus dem Sandkasten. Berlins Ortsgefek fertig.
Wie aus dem Fürsorgejungen ein Glaser wird. Das Leben spricht.
Meldung des... Polizeireviers: Hans X. ist aus einem Sandkasten des Stadtfuhrparks aufgegriffen worden. Es wird gebeten, ihn abzuholen. Hans wird seit zwei Jahren gesucht. Als kaum Fünfzehnjähriger hat er sich aus einem Erziehungsheim heimlich empfohlen. Schon als Kind verschwand er oftmals aus der elterlichen Wohnung. Er leidet an Wandertrieb. Wo mag er in der ganzen Zeit gesteckt haben?
Leider berichtet er bei seiner Vorführung im Jugendamt darüber nicht viel, nur so ganz oben hin, daß er in der Schweiz , in Desterreich und in Schlesien war. Er ist ganz voll von dem Erlebnis der letzten Stunden. Er würde sich nie wieder haben kriegen lassen. Der Mage, der„ duſſelige Anfänger", hat schuld an seinem Pech.„ Vier Wochen lang hab ick gemütlich in meinem Sandfasten gewohnt. Vorgestern seh' ick da eenen rumstehn auf der
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Straße sieht aus wie'n Ausgerückter ich bin doch Kenner. Aus pures Mitleid nehm ich'n mit. Heut morgen sag ich zu ihm: ,, Mensch, kiek mal raus, ob mir aufstehen können, aber ganz vorsichtig, bloß ne kleene Rizze machen." Läßt der Mensch den Deckel fallen mit'n jroßen Krach. Schon steht' nen Schutzmann da. Aus mußten mit uf die Wache."
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" Frau," fährt er fort,„ bringen Sie mir nich wieder in' ne Anstalt. Dat hat ja keenen Zweck nich. Ich weeß jetzt, wat ick merden kann. Bringen Sie mir bei' nen Glasermeister. Wissen Sie, den Sandkasten, den hab ick fein vertittet. Da fann feen Wind nich mehr durch. Und an die Wand da hab ick mir' nen fleenes Brett angemacht für meinen Becher und fürt Brot. Muß ick och so dusselig sind und eenen aus Mitleid mitnehmen." schließt er seinen Bericht über das gemütliche Heim im Sandkasten des Berliner Magistrats.
So
Wir einigen uns. Er geht zunächst in ein Heim, das ihn baldigst in eine Glaserlehre vermitteln soll.
Die„ Gnädige" droht...
Am Telephon, das zwischendurch läutet, meldet sich eine zaghafte Stimme:
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Ich mout' mich mal erkundigen." Es entjpinnt sich folgendes Gespräch:: Ja, bitte, wer ist denn dort?" Ich heiße Fräulein Krause."„ Ich heiße T., was möchten Sie missen?"„ Ich bin nämlich von auswärts. Aber jetzt wohnen auch meine Eltern hier. is vor kurzem bin ich immer zu ihnen gegangen. Aber wie das nun so Mode ist, ich hab mir auch einen Bräutigam angeschafft. Mit dem bin ich dreimal ausgegangen und da ist es ein bißchen spät geworden. Nun sagt meine Gnädige, sie will mich in eine Fürsorgeanft alt bringen. Kann man deswegen dahin gebracht werden?"
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" Ja, Fräulein. Krause, das läßt sich nicht so leicht beantworten. Wie alt sind Sie denn?" ,, 19 Jahre."„ Nun, da ist ja die Gefahr nicht mehr so groß. Aber menn ich Ihnen raten darf, bleiben Sie nicht so lange fort. Benn man am Tage arbeiten soll, dann muß man nachts schlafen."„ Ja, aber dann muß mich die„ Gnädige" auch an meinem freien Nachmittag zur rechten Zeit fortgehen lassen. Ich komme immer erst um 9 Uhr abends fort." " Da haben Sie ganz recht. Verlangen Sie, daß man Sie zur rechten Zeit fortgehen läßt und dann stellen Sie Ihren Schatz Ihren Eltern vor und gehen Sie mit ihm auch einmal zu ihnen, wenn Sie frei sind. Dann sind Sie aus aller Not heraus."„ Na, ich danke Ihnen auch schön." Fräulein Krause hat abgehängt. Der nächste Besucher fommt herein.
Er geht an die Presse.
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"
gehe ich nicht zurück. Wenn Sie mich dazu zwingen wollen, dann gehe ich an die Presse," sagt er wütend. Aber nein," begütige ich, wir werden einen kranten Jungen doch nicht gehen lassen. Das machen wir telephonisch ab. Mit welcher Redaktion wünschen Sie verbunden zu werden?"" Lassen Sie schon," wehrt er ab, ich gehe schon" und folgt dem Begleiter.
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So tröstet der Humor einer augenblicklichen Situation manch mal hinweg über die Not der Schicksale, die unsere Berufsnot ist. Minna Todenhagen .
Genosse Karl Höhne vollendete am Montag das 70. Lebensjahr. Genosse Höhne steht seit 47 Jahren ununterbrochen in der so zialdemokratischen Parteibewegung. Er versieht heute das Amt des ersten Kassierers der 17. Abteilung.
Einigung im Rathaus. Endabstimmung im Magiftrat. Der Schaffung des neuen Ortsgesehes für Berlin standen die wichtige Frage der Arbeitsabgrenzung zwischen der Zentralverwaltung und den Bezirksämtern gingen die Meinungen der verantwortlichen Kommunalpolitiker weitgehend auseinander. Troß mehrerer gemeinsamer Sigungen des Magistrats mit den Bezirksbürgermeistern war eine Einigung nicht zu erzielen. Man jetzte deshalb einen Redaktionsausschuß ein, dem Männer der Zentralverwaltung wie Vertreter der Bezirksämter angehörten. Dieser Unterausschuß hat jetzt seine Arbeiten beendet und einen Entwurf geschaffen, der Aussicht auf allgemeine Annahme hat. Der Entwurf liegt heute dem Magistrat zur endgültigen Beschlußfassung vor. Nach der Annahme wird die Borlage sofort den Stadtverordneten zugehen, so daß der Gesetzentwurf in der nächsten Woche bereits im Stadtparlament behandelt werden kann. Im Haushaltsausschuß der Stadtverordnetenversammlung wird die Borlage dann noch einmal auf alle ihre Konsequenzen hin eingehend durchgeprüft werden.
anfangs nicht zu unterschäßende Schwierigkeiten entgegen. Ueber
Häuser sterben und entstehen
Das neue Gebäude der Universitäts
Frauenklinik in der Ziegelstraße zeigt das Gesicht einer neuen Zeit.
Die Vergänglichkeit aller Dinge wird am deut-| gangener Tage, da Not und Sorgen genug unter lichsten in der Wandlung des Stadtbildes sichtbar. seinem Dach und in den engen Mansardenstuben Das alte vornehme Patrizierhaus, das heute noch am gehaust haben. Rande des neugestalteten Alexanderplatzes mie aus Versehen stehengeblieben ist, trägt den Todeskeim schon in sich. In einigen Wochen oder Monaten wird es vom Erdboden verscuounden sein. Die Geschichte seines Lebens durch mehrere Jahrhunderte würde gewiß eine der interessantesten sein, die geschrieben wurden, begonnen von der höfischen Zopfzeit eines Friedrich II. bis zu den dunklen Kapiteln letztver
,, Nun, lieber Freund, Sie können doch wohl nicht geglaubt haben, daß ich Sie beurlaube, wenn Sie mit einer ansteckenden Krankheit aus dem Krankenhaus ausreißen?" Mit diesen Worten Das neue Gebäude der Universitäts- Frauenklinik empfange ich ihn. Da fomme ich schön an: Ins Krankenhaus
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Nach einem Tagebuchroman von Karl Hans Schober
In der Mitte des Achterdecks steht der Kommandant mit feinen Offizieren.
Aue halten die Pistolen schußbereit in der Hand. Die Angreifer stehen fünf Meter vor ihnen und halten den Atem an. Eine verfluchte Situation! Da tritt Tolstoi vor. Er reißt seine Bluse auf, beide Fäuste links und rechts an den Kleidersetzen, und in der Mitte die nackte Brust.
Schießt mich zusammen, ihr Hunde! Wie ihr es mit Kraus und Koudy gemacht habt!" Die Offiziere stehen und starren ihn an. Er tritt ihnen näher: Jch zähle bis drei! Aber mehe, wenn ihr mich nicht trefft!"
Die Besatzung drängt nach. Schritt für Schritt.
Einige reißen ihre Blusen herunter: ,, Holla!" und spuden in ihre Fäuste. Saures!" Jetzt zählt Tolstoi . ,, Cins!"
in der Ziegelstraße.
Ein altes Patrizierhaus am Alex, das der Spitzhacke geweiht ist.
dem Kommandanten. Eine Woge wälzt sich über die Offi-| schaftszenfur. Alle Zeitungen, Briefe und Pakete, die an ziere. Pistolen fliegen im großen Bogen aus dem Gewühl heraus. Wartet! Ihr Bande! Scheißlerle! Alla!"
Ich kaufe mir den Profoß. Dunkelarrest, Bordarrest, Spangen, Strafanzeige, Dienstbuch vermasselt, na warte! Ich erwische ihn beim Leibriemen. Ist der Kerl so leicht? Zwei Sekunden lang lasse ich ihn über mir schweben, und dann werfe ich ihn wie ein Lumpenpaket an die Wand.
Da ich gerade so schön im Schwunge bin, knöpfe ich mir auch den ,, Langen Docht" vor. Ich will ihn puzen! Komische Sache! Man haut auf eine straffe Uniform los und trifft auf Brei.
,, D, bitte sehr!"
Was will der Kerl? Mir geht die Besinnung durch, und ich prügle ihn, bis mir leichter ums Herz wird.
Bom Kommandanten abwärts sind alle degradiert. Ich natürlich auch, denn es gibt feine Unteroffiziere mehr. Was liegt schon an dem Mist! Und unser Chefarzt, ein feiner Kerl, den niemand angetastet hat, nimmt selber die Kappe vom Kopf, reißt das kaiserliche Abzeichen ab, tritt an die Reeling und läßt es aus zwei Fingern ins Wasser fallen wie eine Wanze. Einige Matrosen sehen das, springen hin, heben ihn auf die Schultern, daß der alte Mann wie besoffen hin und herschlägt, und brüllen Hurra!
sprengt und die eingesperrten Matrojen herausgeholt. Mit Die Schlösser von der Dunkelarrestzelle werden abgeMusit, aber was für Musit! werden sie an Bord gebracht.
Etliche Stunden später stehen wir wieder an Freided um Tolstoi versammelt. Der berichtet, daß im Lande die Revolution ausgebrochen ist und daß die Arbeiter und Soldaten die Regierung ergriffen haben.
Ein Totenstille ist über der Versammlung. Nur Tolstois laute Stimme schallt über das Ded:
Der Offizier, der rechts neben dem Kommandanten steht, Alle Befehle des Revolutionstommandos sind unverzüglich zu zuckt mit der Pistole hoch.
3wei!"
Die erhobene Hand mit der Waffe fällt herunter. ,, Drei!"
Und schneller als ein Gedanke ist die ganze Bejagung über den Offizieren. Zwanzig, dreißig Hände greifen nach
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,, Degradierung sämtlicher Offiziere. Absetzung des Kommandos, das von der Mannschaft übernommen wird. befolgen. Besetzung der Radiostation. Kein Offizier darf bei schwerster Strafe weder Waffen noch Munition bei sich tragen. Die Schlüssel der Schiffskasse und der Munitionskammern sind sofort der Mannschaft zu übergeben.- Ohne die Erlaubnis der Mannschaft darf kein Offizier das Schiff verlassen. Alles, was von Bord geht, untersteht der Mann
die Offiziere gehen, sind von der Mannschaft zu zensurieren und, wenn nötig, zu beschlagnahmen. Alle Offiziere fassen von heute an ihre Menage aus der Mannschaftsfüche..
Hurra!" schreit einer. Der neben ihm: ,, Halts Maul Tolstoi weiter:
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„ Die Offizierestüche ist sofort einzustellen. Die Proviantur übergeht sofort in die Hände der Mannschaft.- Kein Offizier darf in die Kessel- und Maschinenräume eindringen oder einen Befehl geben. Der Mannschaftsdienst wird verschärft. Alle Vorräte, alle Monturen, Schuhfohlen, Zigarren und Zigaretten und Tabak sind an die Mannschaft zu verteilen. Der Schiffsdienst bleibt aufs strengste aufrecht."
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Die Vorlesung ist beendet, und Tolstoi verläßt das Gangspill. Vom Krähennest, von der Kommandbrüde und vom Geschütturm erschallen kräftige Hochrufe auf die Revolutionsregierung.
Der Chefarzt nimmt den Platz von Tolstoi ein: ,, Rameraden! Kraus und Koudy wurden vor einigen
Monaten als Landesverräter hingerichtet. Landesverräter nannte sie die Anklageschrift. Tatsächlich aber starben sie als Märtyrer für unsere Sache."
Da ruft Tolstoi : Kameraden, zum Salut!" Und die Hände fliegen an die Kappen.
Ich erinnere euch", fährt der Chefarzt fort ,,, an die Leiden der PB.- Leute und der Kameraden hinter Gefängnismauern. Sie wurden ihrer Freiheit beraubt, der Mensch in ihnen wurde mit Füßen getreten, sie wurden in die Pfütze des Lasters geschleift und dann als Sexualverbrecher verurteilt. Dieses System, das hunderte solcher Greuel beging, ist zusammengebrochen. Das alte Desterreich geht in Trümmer, ein neues System wird erstehen! Ein menschenwürdi geres! Wir wollen eine Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die sich zu Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit bekennt!" Tausend Stimmen werden jetzt zu einem einzigen Schrei: ,, Nie wieder Krieg! Es lebe die Revolution! Es leben die Republiken!" Eine rote Fahne klettert am Achtermast hoch und weht dann knallend vom Top. ( Fortfehung folgt.)