Beilage
Sonnabend, 20. Februar 1932
Der Abend
Spätausgabe des Vorwärts
Die Geschichte der Woche:
Die Beeke/ von Gerhart Hermann Mostar
Das Geschehnis, das dieser Erzählung zugrunde liegt, hat in so unmittelbarer Nähe meines Hauses sich abgespielt, daß ich es gewissermaßen miterlebte. Es ist ein sehr einfaches Geschehnis; man muß versuchen, es ebenso einfach zu erzählen. Die Beeke ist prunklos wie ihr Name. ,, Beeke", das ist plattdeutsch und heißt einfach ,, Bach"; bäuerische Sachlichkeit gibt ihr seit Jahrhunderten diese Bezeichnung. Sie ist denn auch nichts als ein Bach, ohne irgendwelche besonderen Merkmale; sie bildet sich aus vielen kleinen Rinnsalen eines Sumpfgebietes, fließt in Zweimeterbreite ohne eigenmächtige Umwege, aber auch ohne Bemühen um die fürzeste Route zu Tale, unterquert eine Landstraße und eine Kleinbahnstrecke, staut sich schließlich zu einem Teich, dessen Druck das Wasserrad der Kramnizmühle treibt, und findet schon nach fnapp fünf Kilometern ihr Ziel: den Gudelacksee. Sie vermag nur einen schmalen Wiesenstreifen zu bewässern und muß den größten Teil ihres Tales dem Heidekraut und dem Wacholder überlassen: einmal und, wenn es hoch kommt, zweimal im Jahre leistet sie sich eine kleine, wohlanständige Ueberschwemmung, die niemanden schädigt. Das Wild trinkt aus ihr; an Menschen sieht sie, da sie fein Dorf berührt, außer mähenden Knechten und dem Jäger nur die spielende und planschende Jugend; die allerdings ausgiebig. Das ist wirklich alles, was über die Beeke zu sagen ist. Dennoch gab es einen Menschen, der ihr auf eine seltsame und tiefe Weise und, wie sich gestern herausstellte, geradezu schicksalhaft verbun= den war.
Diesen Menschen hat bis gestern niemand gekannt. Es war nämlich nicht, wie man meinen sollte, der Müller von Kramnik; der ist längst nicht mehr auf die Beefe angewiesen, sondern mahlt meist mit elektrischer Kraft. Seine Frau ist die einzige, die zuweilen dem Bach einen mehr als nüchternen Blick schenkt; sie ist gelähmt seit acht Jahren, es ist wie ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt, und sie hat manchmal den dummen Gedanken, daß sie das Wunder dem Wasser verdankt, das immerzu an ihr vorbeifließt und ihr das reine und flare Leben bringt sozusagen eben, nur als dummer Gedanke; der Arzt nämlich hat, als sie herzog, sie gewarnt: Wasser bringe Nebel und Feuchte, und das müsse ihr Leiden verschlimmern.
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Der Mensch aber, der wirklich mit der Beeke in einer Schickfalsverbundenheit stand, wohnte gar nicht in der Nähe der Beefe, sondern etwa fünfzehn Kilometer von ihr entfernt, in Groß- Woltersdorf, das an der Straße zwischen Gransee und Menz gelegen ist. Er war schon sehr, sehr lange in Groß- Woltersdorf, er galt als Groß- Woltersdorfer und hielt sich selbst dafür. Er war zweiundachtzig Jahre alt und saß auf dem Altenteil eines Achtzigmorgenhofes, den sein Sohn leitete. Jeder kannte ihn im Dorf, jeden fante er; und nur, wenn ein Fremder ihn fragte:„ Na, Großvater, schon immer hier in Groß- Woltersdorf, wie?" dann sagte er gewissenhaft: Jawoll; dat heit, geborn bün id jo man eigent= lich in Banzendorf; wi sünd aber all schon wedmatt, as id dörtein Johr west bün."
Und Banzendorf, das ist hier zu sagen, liegt ziemlich nahe an der Beeke..., so nahe, daß die Banzendorfer Kinder ihre halbe Kindheit an ihr und in ihr verspielen. Dennoch hatte der alte Mann in Groß- Woltersdorf die Beeke vollkommen vergessen. Mein Gott, neunundsechzig Jahre waren hingegangen, seit er sie das letztemal gesehen hatte, das waren neunundsechzig Saaten und neunundsechzig Ernten, und alles, was zu säen war, Roggen und Gerste und Rüben und Geradella und Kartoffeln, hatte er in GroßWoltersdorfer Boden gesät, und alles aus Groß- Woltersdorfer Boden geerntet; vom Holzschlag, von der Gartenpflege, von der Immenhaltung zu schweigen. Da vergißt sich son kleiner Bach und fon bißchen Spielen daran. Vergißt sich eben..., vergißt sich.
Nun, und diesen selben alten Mann fand man gestern vormittag tot auf. Sein Leichnam lag in der Beefe....
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Niemand kannte ihn. Der Gendarm wurde geholt. Es wurde photographiert. Vorsichtshalber. Der alte Mann mußte bei dem Versuch, die Beefe zu überschreiten, durch das ziemlich dünne Eis durchgebrochen sein. Nun ist die Beeke zwar nur einen knappen Meter tief, oder noch weniger. Aber unter dem Eis strömt das Wasser, und sein sanfter Druck war vielleicht stark genug, die schwachen Greifenfüße seitlich wegzudrücken, so daß der Oberförper es nicht vermochte, sie herauszuziehen. So lag der Mann denn mit dem Unterförper im Wasser. um seine Hüfte war das Eis feft angefroren, und der Oberkörper lag an die Böschung des Strandes gepreßt; nur das Gesicht ragte über die Böschung empor und fah durch eine Waldschneise genau auf den Kirchturm von Banzendorf. Die Temperatur war in der Nacht nur wenige Grade unter Null gesunken; aber der Zweiundachtzigjährige war erfroren.
Ich stand mit anderen Dorfbewohnern dabei, als der Gendarm seine Feststellungen machte und den Toten, weil er feine Papiere bei ihm fand, zunächst nach Banzendorf transportieren ließ. Neben mir stand der alte Wilhelms, der auch seine achtzig Jahre auf dem frummen Rücken hat.
Je", sagte der alte Wilhelms zu mir ,,, wat de Möllerin is, de ward denn woll nu oot to't Starwen tamen."
,, Aber wieso denn?" fragte ich erstaunt.
,, Je, dat is so. Dat Water bringt den Dod to Dal..." Der alte Wilhelms nämlich ist ein Museum heimischen Aberglaubens: das Wasser bringe den Tod zu Tal, meinte er...
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Es war bald heraus, daß der Tote der alte Mann aus Groß Woltersdorf war. Sein Sohn hatte der Polizei gemeldet, daß sein Bater plötzlich verschwunden war. Das heißt: eigentlich nicht so plöglich.
Seit zwei Wochen nämlich hatte der Alte davon zu reden begonnen, daß es mit ihm zu Ende gehe. Niemand hatte recht hingehört, niemand es geglaubt: er war immer noch, recht rüstig gewesen, und auch jetzt zeigten sich keine Zeichen des Verfalls. Er hatte es denn auch bald wieder aufgesteckt, vom Tode zu sprechen; dafür aber hatte er sich ein anderes Lieblingsthema erwählt; und dies Thema hieß: Banzendorf und die Beeke.
Zu den Kindern, die am Dorfteich spielten, war er hingegangen und hatte gesagt: Je. wie id all so fleen west bün as jetzt ji, do heff id oof an een water speelt; aber dat wir teen Diet, dat wir dat wir eben die Beeke..." Neä, Schlittschauh cene Beete hebben wi dor nich op loopen fönnt."- ,, Je, aberst scheun is et pot all weft."
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Und zu Hause, zum kleinen Enkel: Jehann heit hei, hehe, Je= han. As id tein Johr west bün, heff ick oof mit een'n speelt, dei het Jehann heten wie hei hür. Ob de woll noch lewen dheit?" Und zu Nachbarn war er hinüber gegangen: Hebbt ji nich Verwandtschaft in Banzendorf? Föhrt ji nich mol hen in dese Tid? Mit Pird un Wagen?" Nein, man fuhr nicht hin. ,, Denn werd ic woll lopen möten.... Is ja man een biscen veel för mine ollen Knafen, aberst de Straten fün ja gaud un drög..."
,, Aber Großvader, wat wollt ji denn in Banzendorf?" ,, Ach, blot so, man möt doch woll noch eenmol hen, allens noch eenmol wedderseihn..."
Alte geschwiegen
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So war das gegangen, Tag um Tag. Niemanden war es sonderlich aufgefallen, und dem eigenen Sohn gegenüber hatte der Furcht, nicht verstanden zu werden? Scham? Nichts ist schwerer gerade und nur ihm gegenüber. Warum? zu deuten als der Eingriff des Unerwarteten in einfache Menschen.. Nun, und ehe vorgestern in der Frühe war er losgegangen ohne irgendwem zu sagen, wohin. Für die fünfzehn Kilometer hatte er wohl so ziemlich den ganzen Tag gebraucht; es lag Schnee, drüber hin war Frost gegangen, man glitt leicht aus. Schließlich, in den Abendstunden, hatte man ihn durch Banzendorf gehen sehen. Aber er war seltsamerweise nirgends eingekehrt, hatte nicht versucht, sich irgendwem zu erfenen zu geben. Er hatte den alten Wiesenweg gesucht, der früher zur Beeke führte. Der war jetzt nur mehr ein halb verwachsener Pfad. Die Banzendorfer Kinder von heute gingen andere, neue Wege. Aber der Alte war seinen alten ge= gangen. Er hatte auch auf ihm die Beeke gefunden. Hatte wohl probieren wollen, wie ein 3wölfjähriger, wie damals vor sechzig Jahren, ob das Eis noch trug. Aber es trug nicht, und er war eben doch kein Zwölfjähriger, er war ein findischer alter Mann, der Kinderspiele spielte, und es war Nacht und Frost- und
so mußten sie ihn am andern Morgen finden, die müden Füße im Beekewasser, die Hüfte vom Beekeeis umgürtet, das Gesicht nach Banzendorf gewendet.
Man fann sagen, dies Sterben sei grauenhaft. Ich sage es nicht. Die Bauern hier meinen, so hielten es auch die Dorfhunde, wenn es mit ihnen zu Ende gehe: sie suchen sich einen Platz, der nahe ihrer Hütte ist und dennoch ganz einsam. Das stimmt, ich habe das selbst einmal erlebt. Aber es ist nichts Graufiges und beileibe nichts Herabseßendes in diesem Vergleich zwischen Mensch und Hund, er war auch nicht so gemeint. Er sollte wohl sagen, daß dieser Tod eine Heimkehr war; und das soll wohl jeder rechte Tod sein; das heim muß nicht immer Himmel heißen, und das seltsame Wort Heimat muß nicht immer leer sein. Und der größte und menschlichste Dichter Rußlands , man entfinnt sich wohl noch, suchte sich denselben Tod.
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Heute nachmittag nahm ich an der Beerdigung der Müllerin teil. Sie starb in derselben Nacht wie der alte Mann, wahrschein lich wenige Stunden nach ihm. Der alte Wilhelms sah mich nur an, er sagte nichts; sagte nicht noch einmal: ,, Das Wasser bringt den Tod zu Tal". Man muß seinen Aberglauben nicht mitglauben; es gibt der natürlichen Erklärungen die Fülle. Aber man muß ihm lassen, daß es ihm auf seine Art gelang, dem Zufall einen Sinn zu geben. Das ist viel für den alten Wilhelms.
Zur gleichen Zeit, in der man die Müllersfrau begrub, ließ der Sohn des alten Mannes aus Groß- Woltersdorf seinen Vater aus oder vielleicht: in die Fremde holen. Banzendorf heimholen
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Die Teilnehmer an der Beerdigung der Müllerin froren im fühlen Hauch; der von der Beeke aufwehte, waren mißgelaunt und trösteten sich ob ihrer Ungerührtheit:„ Sie hett all lang litten, fie is all erlöst". Die vielen weißen Tauben des Müllers flogen eine schwirrende Ehrenrunde über den dunklen Wagen und über die Beeke, deren Eis gebrochen ist.
Otto Mängen hat durch einen glüdlichen Bufall eine| geschah mehr als einmal, daß auf das Gerücht meiner Ankunft Studienreise ins asiatische Tuwa , der kleinen Hirtenrepublik fern in der sibirischen Steppe, die sonst Fremden ver chloffen ist, machen Lönnen. Von dem Leben und Treiben der Tuwiner, ihrem kaum bekannten Land und von dem Einfluß der Sowjets in Moskau auf diese autonome Republik der UdSSR . im innersten Asien erzählt sein Buch„ Reise ins asiatische Tuwa "( mit 28 ausgezeichneten Photobildern, Verlag Der Büchertreis). Die nachfolgende Stizze ist ein Beispiel, wie eigenartig die neue Zivili sation und die alten Lebensformen nebeneinander und gegenein
hin alle Pferde in die Taiga getrieben wurden, und ich konnte nun zusehen, wie ich sie einfing. Bis das mit Fluchen und dem Lasso gelang, verging manchmal ein ganzer Tag.
ander wirken.
wt.
Ich bin in Tuwa zumeist geritten, aber ich will Tuwa nicht verkleinern und schlecht machen: es gibt auch Automobile dort. Wenn inzwischen feines dazugekommen ist und die alten noch fahren( was allerdings zu bezweifeln ist), dann verfügt die Re publik über drei Autos. Gefahren bin ich auf ihnen das legte Stück des Weges nach Kysyl- choto, dann einmal von Kysyl- choto nach Dschadan a und noch einmal von Kysyl- choto nach Schiganar. An die letzte Fahrt werde ich denken, solange ich lebe. Das Auto, das uns mitnehmen sollte, wartete vor dem Regierungsgebäude. Auf einem amerikanischen Autofriedhof hätte es selbst noch die Selbstmörderecke ausgespien, so erbärmlich sah es aus. Auf allen Seiten zerschrammt, mit außen grob aufgeschraubten Eisenbändern, die es vor dem drohenden Auseinanderfallen bewahren sollten, mit Reifen, denen man es ansah, daß sie in den nächsten hundert Kilometern fünfmal platen würden( was sie auch taten), die Karikatur eines Wracks. Dazu mit Kisten, Ledersäcken, Benzinkannen so bepackt, daß man faum ins Innere flettern fonnte. Dieses Innere bot Platz für vier Menschen. Ich war der elfte, der einstieg. Es war eine Erlösung, wenn eine Banne tam. Bodanow, burjätischer Vertreter der Komintern in Tuwa , der zu einer Parteipersammlung in Schiganar fuhr, zu der auch ich wollte, stieg dann von meinen Füßen hinunter, mein foreanischer Nachbar stellte eine Zeitlang den Versuch, meine Rippen zu zerquetschen, ein und in die Zusammen ftöße meines Kopfes mit der Konferventiste kam eine Pause. Vor die Wahl gestellt, mit diesem Auto zu fahren oder im Holzfattel auf einem stoßenden Gaul zu reiten, hätte ich mich am liebsten für das Sufußgehen entschieden, wenn nicht Schiganar 120 Kilometer entfernt gewesen wäre und wenn nicht schon am nächsten Tag die große Versammlung begonnen hätte.
So mußte ich also mit. Ueber Stock und Stein, auf einem er war so breit Weg, den man auch nachts nicht verfehlen fonnte wie die Steppe: die Steppe war der Weg- hüpfend, ächzend, fuhr das höllische Auto. Die Passagiere stöhnten so lange, bis ihnen der Staub sogar das Stöhnen erstickte.
Das will nun nicht sagen, daß ich mit den tuwinischen Pferden nur himmlische Freuden erlebt hätte. Meistens ging es ja gut, aber es gab auch böse Tage. Ich ritt, solange es ging, nach den Urtelstationen. Gegen regelmäßige Bezahlung durch die Regierung halten in Abständen von 20 bis 40 kilo metern Nomadenfamilien Pferde bereit für Reisende, die in offiziellem Auftrag reifen. Ich hatte eine Bescheinigung erhalten, die mich ermächtigte, an jeder solchen Station Pferde anzufordern, und reiste recht angenehm. Die Pferde sind es gewohnt, fremde Reiter zu tragen, und wenn man sich einmal dem Sattel angepaßt hat, geht es ganz gut. Ganz leicht ist es allerdings nicht, sich an die Sättel zu gewöhnen. Aus Holz, mit einem dünnen Filz überzogen, vorn und hinten ein Holzbogen, dazu noch die Steigbügel so furz, daß die Schenkel manchmal fast waagerecht liegen, machen sie einem das Reiten anfangs zur Qual. Immerhin, es ging. Erst als ich in Gegenden kam, wo es feine Urtelstationen mehr gab, wurde es wirklich ungemütlich. Der Schein gab mir das Recht, Pferde zu nehmen, wo ich sie gerade fand, also auch in Jurten, die nicht dafür bezahlt wurden. Das hat den Leuten wenig Freude gemacht. Außer dem Reitpferd für mich und meinen Begleiter hatten sie noch ein Backpferd zu stellen und einen Mann mitzugeben, der alle Pferde wieder zurückbrachte. Sie gaben daher die schlechtesten Pferde her, die sie hatten: alte, störrische, faum zu gerittene, das heißt, wenn sie sie überhaupt hergaben. Denn es
Ich habe keines der Abenteuer erlebt, die jeder anständige Reisende in Innerasien zu erleben hat. Ich bin nicht von Räubern überfallen worden, fein Sandsturm hat mich verschüttet, ich habe nicht hungern müssen und fand immer reichlich Wasser. Wären nicht die Pferde gewesen, ich wüßte nicht, wie ich vor dem Leser bestehen könnte. Aber was waren das schon für Abenteuer? Manchmal ging das Roß durch. Das geschieht auch einem Reiter im Tiergarten.
Eines Rittes erinnere ich mich trotzdem mit einigem Unbehagen. Die kleinere Karawane war zum Flüßchen Köndergei aufgebrochen und zog nach Osten. Ganz vorne der tuwinische Begleiter, hinter ihm das Backpferd, dann ritt ich und hinter mir der Dol metsch. Mein Pferd hatte schon einige Male vor aufflatternden Rebhühnern gescheut. Aber erst als das Backpferd scheu wurde, sich hinmarf, wieder aufsprang, die Ledersäcke abstreifte und davon raste, ging auch meines durch. Das wäre nichts Besonderes. Ich brachte es ja auch wieder zum Halten. Doch die Landschaft, durch die das scheue Tier raste, war recht besonders, etwas unheimlich. Ich flog vorbei an menschlichen Brustkörben, Totenschädeln, Schenkeltnochen, sprang über Leichen, ritt Sfelette nieder. Ich ritt durch ein tuwinisches Totenfeld.
Daß der Steppenbewohner Tuwas sein Pferd nicht gern einem Fremden anvertraut, ist nicht verwunderlich. Mehrfach konnte ich beobachten, wie sehr ein gutes Pferd geschätzt wird, so einmal in einer Rinovorstellung.
Ich sah dort den schönen Gorti Film Mutter". Es wird nicht alle Tage gespielt, wenn es hoch tommt, zweimal in der Woche, mitunter aber auch wochenlang gar nicht. Die Tuwiner waren von weit her geritten gekommen, um sich dieses Wunder anwas macht das diesen zusehen. Zwanzig, dreißig Kilometer Reitern schon aus. Da faßen sie auf den schmalen Holzbänken, schrecklich eng aneinandergepreßt, in gespanntester Erwartung.
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Das Filmband riß an diesem Abend mindestens zwanzigmal. Doch das freute die Zuschauer bloß. Um so besser! Um so länger dauert das Märchen! Verstehen konnten sie nicht das allergeringste. Kein Tuwiner hat je in seinem Leben eine Eisenbahn gesehen, eine Fabrit, kein Tuwiner weiß, was ein Streit ist. Sie konnten nicht einmal erraten, was da vorgeht. Die Aufschriften waren russisch, die konnten sie nicht lesen. Aber sie freuten sich dennoch unendlich. Den Vorgängen auf der Leinemand standen sie absolut neutral gegenüber. Wer gerade schoß, das war ihr Mann; ob das ein Revolutionär war oder ein Gendarm, fümmerte sie durchaus nicht, schon weil sie nicht verstanden, warum der Kampf ging. Wenn Pferde tamen, geriet der Saal in Begeisterung. mit wildem ,, Tscha! Tscha!" hetzten sie, schrien sie, sprangen sie auf. Sie unterhielten sich ganz glänzend. Nur einmal waren sie empört und tobten. Ich verstand den Grund nicht. Der Film zeigte gar nichts besonders Aufregendes: laufende Füße, einen erhobenen Arm, ein Gesicht. Aber das war eben der Grund! Man übersetzte mir, was sie schrien: Wir haben voll bezahlt! Warum zeigt ihr uns nur einen Fuß? Wo ist der Kopf? Wir wollen einen ganzen Menschen sehen! Warum macht ihr die Wand so klein? Wir verlangen eine Wand, auf der ein Mensch Plaz hat! Wir wollen eine große Wand! Große Wand!"
Die Vorstellung war schon lange zu Ende und noch immer standen sie beisammen, lachten, schwägten. Einer wollte bei der Kaffe unbedingt das Pferd laufen, das im Film..der Mann mit dem goldenen Zahn" geritten hatte. Bis dann einer nach dem anderen sein Pferd bestieg und heim ritt. Borbei an der Elektrizitätsstation und dem Postgebäude, zurück in die Jurte, zurück in die Steppe. durch die schon von allen Seiten der dunkle Ton der Schamaner trommel die Geister rief.