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Morgenausgabe

Nr. 113

A 57

49.Jahrgang

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Der Borwärts erscheint mochentag lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgabe für Berlin und im Handel mit dem Titel Der Abend". Juustrierte Sonntagsbeilage Bolt und Zeit

Vorwürts

Berliner Boltsblatt

Dienstag

8. März 1932

Groß- Berlin 10 Pf. Auswärts 15 Pf.

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Briand gestorben.

Aber die deutsch - französische Verständigung muß leben!

Paris , 7. März.( Eigenbericht.)

Aristide Briand ist am Montagnachmittag furz nach ein Uhr in seiner Pariser Wohnung in der Avenue Kleber gestorben.

An einem flaren Herbstmorgen, wenige Stunden nach seiner Ankunft mit Laval, stand Aristide Briand am Luisenstädtischen Friedhof in der Bergmannstraße vor dem Grabmal Gustav Stresemanns. Tatsache und Zeit­punkt dieses Besuches waren streng geheimgehalten worden. Nur wenige Zeugen, die davon zufällig gehört hatten, waren zugegen, als der alte, gebeugte Mann schwerfällig zwischen den Gräbern dieses stimmungslosen Großstadtfriedhofes fchritt. Am Grabe seines toten Freundes und Gegenspielers angelangt, reichte man ihm den Kranz, den er niederlegen wollte. Aber der Körper versagte die notwendigen Bewegun­gen, der Botschafter François- Poncet , der ihn begleitet hatte, mußte ihm dabei helfen, den Kranz ordnungsmäßig nieder­zulegen und dessen trikolore Schleife auszubreiten. Nun stand er, eine halbe Minute lang in Gedanken versunken, vor der breiten Granittafel mit den goldenen Buchstaben:, Strese­mann". Ein faum merkliches Zittern der Lippen und Finger verriet seine innere Bewegung bei diesem posthumen Wieder­fehen. Ringsum hatten die spärlichen Zuschauer das Haupt entblößt, die blauen Schupos salutierten.

An welche Szene diefer bewegten lezten Jahre mag er in diesen turzen Setunden gedacht haben? An die erste Be­gegnung in Locarno , in der diese beiden so verschiedenen Menschen sich kennen und trotz grundlegender physischer und geistiger Gegensäße sich schäßen lernten? An das Frühstück in Thoiry, bei dem sie unter vier Augen weitumspannende Versöhnungs- und Freundschaftspläne zwischen ihren beiden Bölfern entwarfen, die nur den Fehler hatten, daß sie den Zeitverhältnissen zu weit vorausgingen? An jene Stunden zähen Verhandelns bei Tag und Nacht im August 1929 im Haag, als Strefemann zugleich mit ihm und mit dem Tode rang, als er verzweifelt um jeden Monat frühere Rheinland­räumung fämpfte, die er noch erleben wollte und nicht mehr erleben durfte?

Oder hatte er etwa denselben Gedanken wie wir alle, die diesem stummen Zwiegespräch zwischen dem Toten und dem Todestandidaten beiwohnten: Wie lange wird es dauern, bis Briand ebenfalls unter einem steinernen Monument liegt?"

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Stresemann war in den letzten Wochen vor dem tödlichen Schlaganfall sichtbar verfallen. Bei Briand hat dieser physische Zerstörungsprozeß viel länger gedauert. Beschleunigt wurde er durch seelische Enttäuschungen schlimmster Art, die er als Außen- und Innenpolitiker in den legten anderthalb Jahren erlitten hatte. Dazu gehörte unter anderem das deutsche Wahlergebnis vom 14. September 1930. Das also war die Antwort des deutschen Volkes auf die wenige Wochen zuvor abgeschlossene frühere Rheinlandräumung, die er nur mit Mühe bei dem mißtrauischen Teil des französischen Volkes und bei der widerspenstigen reaktionären Parlaments­mehrheit durchgesetzt hatte? Welch ein nachträglicher Triumph für die Meute, die ihn tagtäglich als von Deutschland best och en hinstellte, die ihn als den Vollstrecker des Willens der amerikanisch- jüdisch- deutschen Hochfinanz bezeichnete! Wie stand er blamiert da gegenüber denen, die seit Jahren vor seiner Politik gewarnt, die vorausgefagt hatten, daß Deutschland nur auf den Augenblick warte, wo Frankreich ,, sein letztes Pfand", die militärische Besetzung, preisgegeben hätte, um sein ,, wahres, revanchelüsternes Gesicht" zu ent­hüllen!

Noch einmal raffte er sich zusammen, versuchte er, die mwahren Gründe des nationalistischen Aufschwunges in Deutsch­ land seinen Widersachern klarzumachen: die Wirtschaftskrise,

eine Ruhestellung zwar, verglichen mit dem aufreibenden| reit, diese Rolle zu spielen und, wie er es selber zwei Tage Leben eines parlamentarischen Ministers, zumal eines so be­fehdeten und in einer so wildbewegten Zeit. Und doch glaubte er, daß er auch als Präsident der Republif einen entscheiden­den Einfluß auf die großen Linien der Politik seines Landes behalten würde, besonders auf die Außenpolitit. Hatte er doch selber als Außenminister erfahren, wie Doumergue , der ihn nicht mochte und ihn für einen gefährlichen Jusionisten hielt seine Politik ständig durchkreuzte.

Die Niederlage in Versailles am 13. Mai 1931 war für ihn der schwerste seelische Schlag. Für die meisten war sie die größte Ueberraschung, am stärksten für ihn selber.

nach Versailles im Genfer Rat anfündigte ,,, den Pilgerstab zu ergreifen", um für seine Politik als freier Mann zu merben und zu fämpfen. Statt dessen ließ er sich durch seinen erfolg reichen Gegner Doumer überreden, zu bleiben. Er blieb- ein Schatten seiner selbst. Ja, noch schlimmer: er, der große Briand, der Mann mit dem Weltrus, blieb im Schatten des fleinen Laval. Der unvergleichliche Redner durfte neben dem Ministerpräsidenten auf der Minifterbant sizen, aber selbst in außenpolitischen Debatten mußte er schweigen.

Es war die Tragödie des Greises, der nicht rechtzeitig ab­zutreten verstanden hatte.

Schließlich schob man ihn beiseite, wie überflüssigen Ballast. Er hatte sich vorgenommen, Revanche zu nehmen, sich nach der notwendigen Erholung wieder in den Wahlkampf zu stürzen, die Reaktion zu besiegen, zu zeigen, daß er noch immer die Kraft des Führers und Staatsmannes besaß.

Aber der ewige Optimist sollte wieder einmal unrecht be­halten. Seit zwei Jahren wollte ihm nichts mehr gelingen. Auch diesmal ist seine Rechnung durchkreuzt worden- durch den Tod.

Was ist Briand seinem Lande gewesen, was uns und der übrigen Welt? War er, wie ihn manche hierzulande hinstellten, der raffinierte Gauner; der Stresemann und das deutsche Volk mit den Moll- Lönen seiner Cellostimme einzulullen verstand und immer nur auf den Vorteil für das eigene Land bedacht war? Oder war er der hoffnungslose Illusionist, der dem Phantom einer deutsch - französischen Freundschaft nach­jagte und dabei die Belange seines Vaterlandes leichtfertig preisgab wie es seine Widersacher behaupteten?

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Er war selbstverständlich meder das eine noch das andere. Er war, genau wie Stresemann , ein guter Patriot, Denn er hielt sich auf Grund einer dreißigjährigen Erfahrung der aber über die engen Grenzen seines Vaterlandes und über für einen der besten Kenner der Stimmungen im Parlament. den gegenwärtigen Augenblid hinwegzuschauen fähig war. Aber gerade in dieser entscheidenden Frage hatte er sich ver- Er hatte erkannt, daß der bisherige Jahrhunderte alte rechnet. Und das war es, was ihn am meisten deprimierte. Kriegszustand zwischen zwischen Deutschland und Er hatte sich auf die jüngsten öffentlichen Abstimmungen Frankreich , mit abwechselnden Siegen und Niederlagen, verlassen, die in beiden Häusern des Parlaments ungeheure Annegionen und ,, Desannegionen", mit eingelegten Friedens­Mehrheiten für ihn und seine Politik ergeben hatten. Er pausen und latenten Rachegefühlen ein selbstmörderi­hatte aber die Tücken der geheimen Stimmabgabe verfcher Wahnsinn für beide Völker, für ganz Europa , für fannt, bei der sich jeder Enttäuschte, jeder Getränkte, jeder die gesamte Menschheit ist. Ehrgeizige ungestraft rächen kann.

Ich fah ihn wenige Minuten nach der Berkündung des Bahlresultats, nachdem er soeben beschlossen hatte, den aus fichtslosen Kampf im zweiten Wahlgang aufzugeben, durch einen Borraum des Versailler Schlosses schreiten, umgeben von der Schar seiner bestürzten Mitarbeiter. Er versuchte zu lächeln, aber feine Totenblässe verriet seine wahre Gemüts verfassung: in dieser Stunde war er um Jahre älter ge­morden, förperlich und geistig.

Das bemies er, indem er bald danach einen noch größe ren Fehler beging: die Niederlage von Versailles war ehren­voller für ihn gewefen als für jene falschen Freunde, die ihn unter dem Schutz des anonymen Zettels verraten hatten. Das demokratische Frankreich hielt nunmehr fester denn je an ihm, es war bereit, unter seiner Führung den Kampf aufzunehmen unter der Parole: Es lebe der Friede, nieder mit dem Natio­nalismus! Er hatte seine Demission eingereicht und schien be­

Freitag, 17 Uhr:

Lustgarten

die Arbeitslosigkeit, die Not, die Verzweiflung. Indem er um Sammelplätze werden bekanntgegeben

die Erkenntnis dieser Wahrheit rang, fämpfte er zugleich um die Behauptung seiner eigenen Stellung als Staatsmann. Aber er fühlte sich schon zu alt, um diesen aufreibenden Kampf auf die Dauer zu beſtehen. Deshalb nahm er, wenn auch ohne Begeisterung, die Anregung seiner Freunde an, für den Bosten des Staatsoberhauptes au fandidieren:

Donnerstag ab 18 Uhr: Flugblattverbreitung

Insofern war er im Grunde seines Herzens der Sozia= lift geblieben, als der er politisch angefangen hatte. Als ich ihn während der Tage von Locarno kennenlernte, sagte er mir mit seiner tiefen, zum Selbstspott neigenden Stimme: Sie halten mich natürlich für einen Renegaten, nicht wahr? Ach, ich bin es viel weniger, als Sie glauben." Wir sprachen über die Besetzung des Rheinlandes und ich meinte, daß die Haltung mancher Generäle die Arbeit der Verständigungs­politiker ungeheuer erschwere. Mit verzweifelter Gebärde er­widerte er: ,, Ach ja, die Generäle- fie find überall dieselben!" Die alten antimilitaristischen Gefühle regten sich wieder in diesem ewigen Steptiker gegenüber jeglichem göttlichen und menschlichen Unfehlbarkeitsdogma.

Als eines Tages im Haag Stresemann von deutschen Pressevertretern bedrängt wurde, warum denn Briand , dem Drud des Generals Guillaumat nachgebend, einen festen Räumungstermin immer noch nicht nennen wolle, platzte er heraus: Aber, meine Herren, glauben Sie denn etwa, daß, wenn ich Außenminister eines siegreichen Deutschland wäre, ich es gegenüber einem General Ludendorff leichter hätte als Briand gegenüber General Guillaumat?"

Stresemann hatte eben Verständnis für Briand , wie Briand für Stresemann . Und weil diese beiden Staatsmänner sich bemühten, zugleich ihrem Rolfe zu dienen und das andere zu verstehen, deshalb sind sie beide von der Sozialdemo fratie unterſtüßt, deshalb sind sie beide von ihren Nationalisten als Berräter beschimpft, deshalb sind sie beide zu Tode

gehetzt worden.

Deshalb wird aber ihr gemeinsames Wert fortgefeßt werden, unter Führung der Sozialisten beider Länder: das Werk der deutsch - französischen Berständigung, das gelingen muß, wenn nicht das Europa des 20. Jahrhunderts in die mittelalterliche Barbarei versinken soll.

Victor Schiff.