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Ivan Heilbut: Um die Wurst

Nachdem der Landgerichtsdirektor die Personalien und anderes fich zum Bublifum un, und es war ein grinsendes Gesicht, in das aus den Atten perlesen hatte, begann er: er hineinfah. Die Absicht des Landgerichtsdirektors, diesem erneuten ,, o, es handelt sich in diese hier vor mir liegende Wurst| 3wischenfall zum Trotz die feierliche Handling durchzuführen, wurde Jamoll, Herr Rat, ganz richtig. Um eben die Wurst, um meine jedoch vereitelt. Den kurzen Flug, auf dem das eine Rottehlchen dem Wurst handelt es sich." anderen nachjagte, dehnten sie beide zu einer Reihe von groß angelegten Rundflügen aus. Sie schwirrten um den Kronleuchter und flogen endlich in die höchste Region des Saales hinauf, setzten sich dort auf einen Mauervorsprung und schwiegen.

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Der Landgerichtsdirettor mog die Wurst nachdenklich in seinen Händen sie war nicht aben sehr groß, aber auch nicht sehr flein. 2fn ihrem einen Ende trug sie noch den fuffeligen Bindfaden, an dem fie vermutlich gehangen hatte.

,, Erzählen Sie utir etwas non dieser Wirst."

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,, jo id bin arbeitslos. Da mird mir mu ous Wien   von Luise mas meine Schwägerin is, Luise diese Burst gesandt Und id bente, id habe' ne Wurst. Die Burst liegt aber noch auf dem Zollamt. Und das Zollamt sagt, id foll mal uf Zollamt tommen. Na, id tomme uf Zollamt, und da sagen se mir: Die Burst, ne, die Burst, die tonnen Se nidh friegen." ,, Nanu? Mir laust mohl der Aff? Meine Wurst. ,, Re ne, die Wurst, die muß ja mu auf'n Scheiterhaufen." ,, Bat?" sage id ,,, mohin foll meine Wurst?" ,, Jamoll, auf den Scheiterhausen. Die muß ja nu ver­nichtet werden. Oder mir fönnen fie ooch in' t Wasser verfenten, in'n Westhafen wenn Ihnen det lieber ist?" Ajo da war mir die Spude weg. 3d fall mir entscheiden, ob ich meine Burst Der brennen soll lassen oder in't Wasser versenken. Bat mir lieber is, soll id jagen.

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,, Sie waren sich im Maren darüber, daß die Bestimmungen, nad) denen sich das Zollamt richten mußte, die Rücksendung der Wurst nach Bien, beziehungsmeife thre Bernichtung, zu einer wenn auch bedauerlichen Notmenbigkeit machten." ,, Herr Rat, ich habe meine Bedürftigteit nachjewiesen. Nüzt mischt, de Burscht wird verbrannt."

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,, Gesundheitsbehördlicher Bestimmungen megen." ,, Rischt gegen die Jesundheitsbehörde... Aber meine Gesund heit, Herr Rat? Det id aljo mas ide bin, verstehn Se, Herr Rat -nu einen Antrag stellen foll: An det 3ollant. Bitte, vanichten Se meine Wurscht" Bat fagen Se dazu Herr Rat? Wenn ick den Antrag nämlich nicht stellen tu hamse mir auf Zollamt jejaacht denn fann die Wurscht nich vernichtet werden."

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lnb mas märe dann aus der Wurst geworden?" fragte der Landgerichtsdirettor. wär vielleicht

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Die beiden Wachtmeister famen mit der Leiter zurüid, fie legten fie am Fenster an, um den oberen Flügel zu öffnen. Aber als der dife porfichtig hinaufgestiegen war, ermies sich als richtig, mas einige im Saal, die über ein gutes Augenmaß verfügten, schon gleich beim Erscheinen der Leiter geweisjagt hatten: Sie war zu furz. Berzweifelt redte sich der oben stehende Beamte auf den Füßen es fah nach hinunterfallen aus, aber den Griff des oberen Fensterflügels... nein, den erreichte er nicht. Er war ein großer stattlicher Mann hätte sein Kollege oder sonst wer hinaufsteigen mollen- die Atton päre nicht aussichtsreicher geworden. Und die beiden Rotfehlchen, wie aus purer Boshaftigkeit, faßen oben in ihrem Gebält und schwiegen.

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Da stieg der Wachtmeister wieder hinunter, und weil er in ehr liche But und in Schweiß gekommen war, handelte er auf eigene Faust. Er sperrte die unteren Fenster so weit auf als es ging, und schrie: Raus mit euch, ihr Halunten! Hier is det preußische Bericht! Wat sucht' r hier? Würmer jibt' t hier nich. Warten Se noch' n Momang, Herr Rat, id triege de beeden Biester noch. Sehn Se, sehn Se, da fliejen se los." Das Bublifum leuchtete vor Begeisterung. Sehn Se, Herr Rat, jleich habe ic fie jleich habe ich sie rous. Jezt, hup. Ne, verdammit, da sind se wieder vorbei! Nu zoppen se widder ab in de Höchde.

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Der Landgerichtsdirektor winkte den Wachtmeister wieder zu

fich her.

,, So holen Sie doch eine längere Leiter, Mann!"

Empfindung, als ob er vor verfammeltem Publikum nicht besonders günstig abgeschnitten hätte, abgleich er an den Mißhelligkeiten und den mißlungenen Unternehmungen dieses Tages doch gar feine Schuld trug. Aber so find wir Preußen im Dienst: Wir kommen für alle Vorkommnisse auf, auch wenn wir nicht schuldig sind;, wir haften persönlich.

Als die beiden Wachtmeister den Gerichtssaal verlassen hatten, fingen die beiden Rotkehlchen wieder mit ihren Rundflügen an. Die meihevolle Stunnung war wieder dahin. Schimpfen Bogelpfeifen, Gelächter, Chaos. Der Angeflagte trat so dicht als es ging zum Borsitzenden hin und sagte ganz fanft:

,, Herr Rat, id. weeß Rat."

,, Dann, zum Teufel, sagen Sie mir Ihren Rat. Sind Sie vielleicht nebenberuflich Bogeifänger?"

Meinen Rat, jairoll Herr Rat, den will' d Ihnen roohl geben", fagte der Angeflagte bescheiden,., aber nur, wenn' d meine Burscht Dafür krieje."

,, Schweigen Sie! Sonst triegen Sie ein Verfahren extra!" In diesem Augenblick schrie einer der Geschmorenen wie zu Tode erschrocken auf. Was war geschehen? Dem Auditorium, das den Borfall begriff, stockte der Atem, es starrte auf das Rotfehlchen hin, das sich genau über den Geschworenen auf einem Säulen­vorsprung niedergelassen hatte.

Wäre das Rotfehlchen, das, wie gesagt, direft über dem Haupte des Geschworenen saß( der sich nun eilig zurückzog), nicht ein Rot­tehlchen, sondern ein Mensch gemesen fo wäre es wegen gröblicher Verletzung der guten Sitten in Tateinheit mit unglaublicher Frechheit zu einer fürchterlich hohen Strafe verurteilt worden. Denn es hatte noch die Stiri, auf seine Tat vergnügt zu pfeifen.

Jetzt ni ußte ein Gerichtsbeschluß fommen, der dieser Berhand­lung ein Ende bereiten. würde. Ein Ausweg mußte gefunden werden, und weil denn das Muß immer das Stärkste im Leben ist, so fand sich auch einer.

Der Landgerichtsdirektor gab befannt: Das Gericht veridgi sich in einen anderen Saal des Hauses." Dort ging der Prozeß um den aus der Burst entsprüngenen Krawall weiter. Der An­getlagte murde freigesprochen, die Wurst aber wurde vom Gericht

Der Wachtmeister ging mit feinem Kollegen ab. Er hatte die eingezogen.

Beleicht' n Summitnippel, Herr Rat. Denn wir le viteit J. Limpertsberg: Empfindungen beim Absturz

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versiejelt worden und in' nen Geldschrank jelegt mit' ne Bache banor. Herr Rat, det es Strife: 3u effen is da mischt zu effen."

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bloß mir ham

Im Bublifum murde gelacht. Weshalb haben Sie die Burst", fragte der Landgerichtsdirektor, ,, nicht noch Wien   zurüdgehen lassen?" ,, Wenn ich de Wurscht hätte nach Wien   zurückgehen lassen, denn hätte id ooch noch det Porto davon jehabt. Keene Burscht und det Porto. det is zu ville für' n schwachen Magen ron' n Arbeitslosen. Also, Herr Rat, meine hohen Herren: Id faffe mein Blädeje zusammen. 3d habe, wie Se fich überzeujen, wollen, teen Stückchen van de Wurscht noch abgebissen, nich von' t eene Ende und noch nich von' t andre. Also mat meine Schwägerin Buise jut mit mir jemeint hat, da habe id nischt von jehabt."

Jeder ist wohl schon einmal gestürzt, wenn auch nur aus| bozent ein, melche ich einige Tage später an der Universität abhalten geringer Höhe, und der plögliche Schreden, den er er dabei empfand, wird die übrigen Empfindungen übertönt haben. Es gibt aber Fälle, mo ein aus großer Höhe Abgestürzter, der mit dem Leben davon gekommen ist, über seine Empfindungen während des Sturzes genau berichtet hat. So hat am Ende des vorigen Jahr hunderts der Schweizer   Geologe Heim, ein Gelehrter von anerkann­tem Ruf, in einem Vortrag seine Empfindungen während eines Ab­sturzes in den Alpen wie folgt beschrieben:

Sobald ich den Boden unter den Füßen verloren hatte, wußte ich, daß ich auf einen Felsen fallen würde, und erwartete, den Stoß. Indem ich mich, so gut es ging, mit den Händen anflammerte und den Schnee fortzuschieben suchte, zerriß ich mir die Finger, ohne Sie haben dann Ihre ganze Bekanntschaft mobil gemacht, um jedoch irgendwelchen Schmerz zu empfinden. Als ich auf den Felsen das Zollamt zu stürmen. Bissen Sie, mie man das nennt? Kraftürzte, hörte ich ganz genau das Anprallen meines Störpers, fing wall: Dazu kommt tätlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt. aber erst eine Stunde später an zu leiden. Um meine Gefühle während Beamtenbeleidigung des ganzen Borganges einigermaßen beschreiben zu fönnen, bedarf

In diesem Augenblic qurde der Landgerichtsbireffor, der ganzes menigstens einer Stimde. Die Gebanten und Bilder zogen mit bestimmt noch viel mehr hatte fagen wollen, von einem im Gerichts jaal durchaus ungewohnten Laut unterbrochen. Es war ein haliendes Flöten, das durchaus nicht aus dem Bublifum tam, verbunden mit einem phantastischen Flattern, Knattern und Poltern. Für einen Augenblid versuchte der Borsigende die Aufmerksamkeit der Be teiligten durch verschärfte Atzenturierung wieder herzustellen.

Sie haben sich des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht." Aber der Angeklagte mar nicht bei der Sache; er blickte, so wie alle übrigen, außergerichtlichen Personen, in die Höhe. Sogar von den gerichtlichen selber sahen einige hinauf. Der Staatsanwalt Der Staatsanmalt freilich, der ein alter Fuchs, ein gewiegter Prattifer war und hinter jedem Zwischenfall. Absichten ahnte, behielt die Wurst auf dem Richtertisch scharf im Auge.

Da schrie plößlich mitten aus dem Publikum eine weibliche, stark oftpreußisch gefärbte Stimme:

,, Ach nej, da oben fliejen zwej flejne Bäjel. Ad nej, zinej flejne Rotkähilchen sind' s."

Der Landgerichtsdirektor, der sich in dieser Eituation feinen Rat mußte, rief den zweiten Wachtmeister zu fich her:

,, Beranlassen Sie mal das nötige, um die Tiere zu entfernen." Der Wachtmeister ging zu seinem Kollegen hinüber, der bereits am Fenster auf einem Stuhl stand. Darauf zog der Bachtmeister auf dem Stuhl sein Taschentuch und schmentte es, so wie ein tapitu­lierender Bosten das tut, tüchtig durch die Luft. Er wollte die Bögel auf sich das heißt, auf die Möglichkeit, auszufliegen, aufmertjam machen. Aber die Notkehlchen reagierten gar nicht darauf. Mein Gott, mann sehen wir Menschen mal ein Rottehlchen an! Benn wir tleinen Kindern Anschauungsunterricht geben wollen, oder wenn wir Sonntags in den 300 gehen. Ach, nicht einmal dort! Wir haben viel mehr Interesse für braune Damen mit Tellerlippen, höchstens noch für einen Seelöwen und für einen tindlichen Elefanten, der es trotz seines Leibesumfangs fertig gebracht hat, zur Belt zu kommen. Warum sollte nun ein Rotfehlchen seinerseits einen Wachtmeister ansehen, der auf einem Stuhl steht und fein

Taschentuch schwing!!

Nach einem Gerichtsbeschluß erhielt der dicke Wachtmeister die Beijung, eine Leiter zu holen. Während er hinausging, brummte er unaufhörlich für sich:

Benn' d dod) bloß müßte mein Jott, mein Jott... wat wollen die doofen Böjel bloß in' Jerichtssaal?" ,, Auso nu fommt meine Burst ja wol wieder an die Reihe", begann der Angeklagte.

..Sie sind nicht gefragt", unterbrach ihn der Landgerichtsdirektor. Er ergriff diese erste Gelegenheit, um sich die But auf die Bögel megzuschimpfen. Der nächste Fortschritt in der Verhandlung, in die man nun wieder eintrat, mar die Vernehmung der Zeugen. Gleich der erste mußte vereidigt werden. Er fah beklommen drein. Die Zeremonie, als bas Gericht und mit ihm das Publikum sich erhob, schien tiejen Einbrud auf ihn zu machen. Die plötzliche, gleichsam Spontane Bewegung wirfte auf ihn.

Und genau in diesem Augenblid war es dem Herrn Rotteblchen nben micber einmal zu langweilig geworben. Er fühlte eine brân genbe Luft im Gefieber, mal in den dunkleren Wintel hinüber zufliegen, und er wünschte sehr, feine Frau Rotfehl möchte ihm, bloß des Spaßes halber und des Bersteckspiels wegen, dahin falgen. Er ffrrrrrt schwirrte ab und unten im Saal flogen die Stopfe mieber allesamt in den Nacken. Unvermittelt war die Szene ihrer Boje beraubt der Zeuge, obgleich er schon mit. erhobenen Fingern daffand, verlor im Augenblick die schlimmste Beflommenheit. Er fah

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außerordentlicher Genauigkeit und Klarheit an mir vorüber. Zu nächst dachte ich an die verschiedenen Folgen, welche mein Sturz nach sich ziehen konnte. Ich nahm mir vor, sobald ich bei vollem Bewußt sein den Boden erreichen würde, meine fleine, Effigflasche aus der Tasche zu ziehen und mir einige Tropfen auf die Zunge zu gießen. Auch dachte ich daran, daß ich meinen Stock nicht fallen lassen durfte und hielt ihn sorgfältig feft. Ich wollte meine Brille abnehmen, um sie nicht, zu zerbrechen, da die Glassplitter mir hätten leicht in die Augen kommen können, aber ich erkannte bald, daß die Schnellig­feit eines Sturzes mir eine solch komplizierte Bewegung nicht ge ſtattete. Dann kamen andere Gedanken an die Reihe. Ich überlegte die weiteren Folgen meines Unfalles und nahm mir vor, sobald ich unten angelangt fei, laut ausgerufen, daß ich nicht verwundet wäre, um meine Gefährten, unter denen sich auch mein Bruder befand, nicht zu sehr zu ängstigen. Jest fiel mir meine erste Borlesung als Privat­

Geschichten um Briand  

Der letzte Bohemien

Als Aristide Briand   in der Stadt Nantes   das Gymnasium be­fuchte, hatte er einen Mathematitlehrer, der später wie sein Schüler eine Weltberühmtheit wurde. Dieser Behrer war Prof. Berne, derfelbe Jules Berne, der als Romanschriftsteller der Weltliteratur angehört. Herr Berne   war ein Lehrer, der der trockenen Materie der Mathematik die interessantesten Seiten abzugewinnen verstand. Der kleine Aristide gehörte zu seinen Lieblingsschülern. Berne   war ein vorzüglicher Bädagoge und ein erstaunlicher Menschentenner. Was er vor einem dreiviertel Jahrhundert von dem Gymnasiasten Briand   sagte, tönnte als bestes Charakterbild auch des Mannes Briand   gelten. Jules Verne   schreibt in einem Zeugnis: Der junge Briand zeigt nur mäßigen Fleiß, aber erstaunliche Aupajjungsgabe, und ungewöhnliches Gedächtnis sichern ihm tengdem, wenn er will, den ersten Platz. Der Schüler Briand   vernachlässigt seine Kleidung, aber er ist gütig, unternehmungsluftig, fchlagfertig und sehr gewandt in Leibesübungen." Mäßiger Fleiß... Erstaunliche Anpassungs­gabe... Ungewöhnliches Gedächtnis... Gültig, unternehmungsluftig, schlagfertig... Bernachlässigt die Kleidung. Ist das nicht, als ob man noch vor kurzem Aristide Briand   leibhaftig vor sich fähe? Jules Verne   hat seinem Lieblingsschüler oft aus fleinen Ber­legenheiten geholfen, aber er tonnte es später nicht mehr tun, als der junge Mensch eine Riesendummheit angestellt hatte. Mit zwanzig Jahren war Briand   schon Rechtsanwalt in Nantes   Aber trozdem immer noch ein toller Jüngling, der die Freuden des Lebens genoß, mo fie fich ihm boten. Aristide Briand   tam eines Abends aus einer feuchtfröhlichen Sigung heim, als ihm an einer einsamen Stelle eine junge Dame begegnete. Man ließ es später als mildernden Umstand gelten, daß der junge Rechtsanwalt einen tleinen Schwips bei sich trug, denn sonst hätte er freilich nicht getan, was am nächsten Lage ganz Nantes   in Aufregung verjeßte, Er hatte die junge Dame etwas allzu innig umarmt, man sprach von einem Satir" und die Polizei fahnbete nach ihm. Sie ermittelte denn auch bald, wer dieser Satir" war. Briand   fam vor Gericht, wurde zu einer Ge­fängnisstrafe verurteilt, legte Berufung ein und murde dann frei. gesprochen. Aber diese leidige Affäre genügte, um ihn in der Klein­stadt Nantes   unmöglich zu machen. Er gab die Rechtsanwalttätigkeit in Nantes   auf und siedelte nach Paris   über. Vielleicht war das ein

sollte und die nun ausfallen mußte. Darauf, breiteten fich fast alle Begebenheiten meines Lebens in zahlloser Reihenfolge vor mir aus. Dann tam ein Gefühl unbeschreiblichen Wahlbehagens, gerade als ob ich in der unendlichen Blaue des Himmels schwebte, deffen violette Wolken mir von übernatürlicher Schönheit zu sein schienen. Mitten in diesen Träumereien hörte ich, wie mein Körper auf den Boden stieß, und hatte gerade noch Kraft genug, ein paarmal laut auszu­rufen, daß mir nichts geschehen sei."

Noch schöner, war die Empfindsame Reise" in die Tiefe, die der Apinist Sigrist beschreibt. Er fühlte sich, als schwämme er, mie durchbrungen von einer überirdischen Glückseligkeit, in einem Meer Don Bonne... Ich betrachtete meine Lage ohne die geringste Sorge; dachte an die Zukunft meiner Familie, für die ich mich glüd­licherweise in eine Lebensversicherung eingekauft hatte. Nur als das Fallen aufhörte, habe ich das Bewußtsein verloren."

Einen schauerlichen Sturz tat der bekannte Hochtourist Whymper  , der nicht einfach einen Abhang hinabrollte oder wie ein aus der Speicherlufe geworfener Sac. in die Tiefe faufte, sondern am Matters horn 70 Meter tief von Fels zu Fels aufschlug, so daß man hätte denken müssen, es sei fein Anochen mehr in seinem Körper heil ge­blieben. Ich verlor feinen Augenblick das Bewußtsein und wußte ganz genau, was mir geschah, ich zählte jogar jeden Stoß, fühlte aber, wie ein Chloroformierter, feinen Schmerz. Natürlich mar jeder neue Stoß heftiger als der vorhergehende, und ich erinnere mich deutlich, gedacht zu haben, daß es mit dem folgenden, wenn derselbe noch heftiger sein sollte, mit mir zu Ende gehen würde. Merkwürdig ist, daß meine Luftsprünge durchaus nicht unangenehm waren, glaube aber, daß ich bei etwas größerer Entferming das Bewußtsein wohl ganz und gar verloren hatte, und darf somit annehmen, obgleich die äußeren Anzeichen dagegen fprechen, daß der Tod infolge eines Sturzes aus beträchtlicher Höhe eine der am wenigsten schmerzhaften Todesarten ist, die der Mensch zu erleiden hat."

Wink des Schicksals. Wer weiß, wenn die junge Dame von Nantes  dem angeheiterten jungen Menschen nicht begegnet wäre, ob Briand  den Weg nach Paris   gefunden hätte? Bu etwas ist das Unglüd doch gut, sagt ein französisches Sprichwort, und in diesem Falle hat es recht. Die Angelegenheit geriet jedoch nicht in Bergessenheit Die politischen Gegner forgten in der gehässigsten Art und Weise dafür, daß der Jugendstreich des Satirs von Nantes" der Nachwelt erhalten blieb.

Wie Jules Verne   das schon sagte, war Aristide ein Mensch von mäßigem Fleiß". Das ist teineswegs übertrieben Er betrat die Tribüne ohne die geringste Borbereitung, aber bald hatte er sich in folche Begeisterung geredet, daß er die Hörer mitriß. Briand   ver fügte über ein start modulationsfähiges Stimmorgan, das man nicht zu Unrecht als das Cello bezeichnet hat. Gewiß ist es nicht wahr, was die bösen Zungen behaupteten, daß nämlich Aristide Briand  niemals ein Buch gelesen habe. Doch ein großer Gelehrter war er nicht und einen mächtigen Sad historischen Wiffens trug er nicht mit sich herum, im Gegensatz zu dem Antipoden Poincaré  . Briand  hat oft die schlimmsten Böde in historischer Hinsicht geschoffen. Im Jahre 1902 verfaßte er als Stultusminister eine Dentschrift über die Frage der Trennung von Kirche und Staat. Dabei verwechselte er in der historischen Begründung die Karolinger   mit den Kapefingern. Aus dem Konzil von Trient  ", was französische   Trente" geschrieben wird, wurde ,, trente", das auf französisch auch dreißig" bedeutet, das Konzil der Dreißig". Das waren Schnitzer, über die man feinerzeit viel gelacht hat. Sie waren indes ohne Bedeutung. Das Ziel, das Briand sich vorgenommen hatte, die Trennung von Kirche und Staat, setzte er durch.

Benn man Briand nicht als französischen   Patrioten, nicht als Staatsmann würdigt, so muß man seiner als Bohemien gedenken. Aristide Briand   war der letzte Bohemien einer zerfließenden Epoche. Bas besagte ihm Lurus? Nichts. Er wohnte und starb in einer fümmerlich ausgestatteten Bierzimmerwohnung. Er fühlte sich wohl in einem fleinen abgelegenen Landhause, das eher eine Hütte war. Als ihm der Nobelnreis mit Guftav Stresemann zufammen über­wiesen wurde, besaß Briand   noch nicht einmal ein Banffonto. Der. einzige, Lurus, den dieser letzte Bohemien trieb, war der aller 3iga­Bohemien: Freiheit, Unabhängigkeit und retten. Auf dem Nachttisch des Sterbezimmers stand noch der Aschenbecher und daneben lag ein angebrochenes Pafet entnikotini­fierter Zigaretten...