Nr. 180 49. Jahrgang
4. Beilage des Vorwärts
Jefous Kristem vor dem Richter
Eine Vision/ Von Stal
Wollte man diese Welt und alle ihre Lebewesen, Menschen, Flöhe und Dattelpalmen in tiefen Schlaf versezen, man brauchte bloß eine Injektionssprite voll Aftenstaub der Gesamtheit einverleiben. Staub liegt auf Recht und Staub auf Unrecht, Staub auf Beschwörungen, Schenkungen und Forderungen die Zeit löscht mitleidig und schafft Vergessen.
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Der Landrichter, der hier die Waage der Justitia bedienen sollte, saß in seinem leeren Verhandlungszimmer und nahm sich einen Aft vor. Je sous Kristem welch sonderbarer Name! Landstreicher und Aufruhrstifter soll er sein; mit einer roten Fahne durch die Stadt gezogen ein Koloß von einem Menschen- ein Rattenfänger, bei dem es in den Augen lag. Und irgendein Herr Zeuge behauptete sogar, es wäre ein riesengroßes Herz gewesen, was da auf zwei mächtigen Füßen ging- ein blutrotes Herz!
Na, den Kristem wollte sich der Landrichter einmal vornehmen und besehen. Vielleicht einige Tage oder Wochen soll er im Gefängnis die Stiegen kehren, das wird ihm gut tun für den Unfug. Aber es war so heiß an diesem Vormittag im Juni, und die sirengen Augen glitten müde und schläfrig zum Sockel des Kruzifig. Eine Fliege braust wiederholt gegen die Fensterscheibe, nun muß sie einen Ausweg gefunden haben, und es wird still. Kein Laut drängt herein, kein Boden knarrt, die Paragraphen sind säuberlich und dauerhaft auf Papier gedruckt und können nicht herunterfallen niemand stört den Landrichter und sein Verhör mit Jesous Kristem.
Da ist die Sonne und sie leuchtet, da ist ein Schwirren von bunten Käfern auf einer Waldblöße, und man glaubt, plötzlich und versehentlich an die Töpferscheibe vom lieben Gott geraten zu sein, auf der er den Haufen Glückseligkeit dieser Welt zu einer Erde formte, die sich drehen muß, samt den Apfelbäumen, die darauf stehen, immer freisrund freisrund damit der Tag ein Ende nehme und ein neuer und womöglich noch schönerer heraussteige.
Da springt eine Quelle aus dem Stein, und weiter unten mird sie zur Wasserleitung, zum Wasserzins, zum Dampfbad, zu Pferdekräften und zu Weihwasser. Oben aber und zwischen verfaulten
irgendwo anders angelegt. Die Verpflichtung gegenüber anderen Menschen wird mit dem Rechenschieber bezwungen.
Ein Haufe marschiert in Reihen gegen die Sonne. Ein blasser Junge schreitet weit voraus mit einer stolzen roten Fahne, in der der Wind fnattert. Frag nicht, warum diese Masse lebendig ge= morden, warum sie ihre verfrüppelten Finger, ihre zerschundenen Rücken, ihre Schwindsucht, Not und Arbeitslosigkeit auf die Straße trägt. Diese Masse marschiert seit fünfzig Jahren.
Der Wind zerrt an der Fahne. Was will er denn, ist er eine Instanz, ein gesetzkräftiges Amt? Warum reißt er bloß diesen armen Jungen fast zu Boden, warum will er diesen Schrei in Farbe und Schritt aufhalten und demütigen?
Jesous Kristem, ein Mensch braucht dich!
Und da ist er, der Kerl! Boran mit der Fahne, gegen den Sturm! Da ist der Klotz, aufrecht wie ein Pfeiler- Jesous Kristem, das Spalier gafft, es löst sich auf und schließt sich an, es bewundert dich und deine Reihen Jesous Kristem, bleib voran, denn es geht um Brot, um tägliches Brot!
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Jesous Kriste m, nun stehst du vor dem Richter. Eine ganze Stadt hast du in Aufruhr gebracht, Menschen zu Tausenden sind dir nachgelaufen, und das war Unfug, grober Unfug sogar! Also, du heißt Kristem und Jesous; sonderbare Namen sind das! Und die blinzelnde Allmacht des Richters fragt weiter. ,, Beruf?"
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Beruf? Ja, so etwas hat man doch. Und weil diese Augen Antwort erwarten, so fragt der Riese in sich hinein. Jesous, was hast du denn bisher getan?- Ach ja; ein bißchen da, ein wenig dort- aber wo hat das Play, in welchem Kasten, in welcher Rubrik? Bist kein Bäcker und kein Schuhmacher, fein Schneider und kein Optiker Jesous, dein Brustkasten ist weit wie der Kessel einer Lokomotive. Bist an die tausendmal um die Erde gelaufen, haft auf trockenen Korallenriffen genächtet und auf
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Baumstümpfen ist ein jämmerlicher Bretterhaufen, mit blinden Heinrich Hemmer:
Fenstern und einer Türe. Und drinnen im Loch weiß man nicht, welch feine und zarte Hände man haben müßte, um nicht an die Wunden zu stoßen, die breit und offen gähnen. Ein Weib liegt fröstelnd unter Feßen und alten Kohlesäcken und fann sich nicht rühren. Und vier Paar winzig fleiner Hände und Füße spielen mit der kalten Asche eines halbzerfallenen Ofens und beschmieren sich mit Schmutz. Da sind vier Kinder mit knurrenden Mägen, und irgendwo in der Welt soll es Weizen geben in Ueberfluß.
Aber wer bist du denn, Mensch, der da in großen Säßen über die Lichtung springt? Ein Koloß, ein menschgewordener Traftor oder ein Gigant aus der Urzeit?
Braun ist seine Haut wie Leder; seine Arme sind wie Kolben einer ungeheuren Maschine. Seine Füße und sein Leib sind das Fundament für irgendeine gewaltige Sache, und nun wirst sich diese Masse wie ein Felsblock gegen die Türe. Rahmen und Bretter splittern, ein Eiſenband reißt wie Zunder, und nun ist er drinnen. Hebt ein Kind hoch mit seinen Pranken, hilft ihm, schlägt es auf den Rücken, faßt hinein in den Mund und zieht ein Stüdchen Wollfaden heraus. Der Riese achtet ängstlich darauf, wie das blaugewordene Gesichtchen des Kindes wieder natürliche Farbe bekommt. Und zum Weib, dem die Augen im Entsetzen über die eigene Unfähigkeit weit herausquollen, sagt er einfach und schlicht: Ich heiße Jesous Krist e m."
Nein, das war feine Glocke, die eben geflungen, das war auch feine der ölgeschmierten Stimmen einer Dividendenkonferenz das war die Pfeife einer Orgel.
Jesous Kristem!" Für eine kleine Weile hing dieser Name im Raum, flutete der Schall in die Rizen und Winkel, tam von weit her und ging wieder zurück.
Nun kniet der gewaltige Kerl am Fußboden und greift nach dem Hüftmesser. In weniger als einer Viertelstunde hat er aus Holz und Rindenstückchen eine abenteuerliche Menagerie geschnigt, und die stellt er hinein zwischen die kleinen Rangen. Und es ist gut so! Die Kinder hängen im Nu an ihm, und als er mit einem alten Eimer zur Quelle hinüber will, ist er zum Baum geworden, an dem nun Früchte hängen; fleine, lebendige.
Mit einem Farnbesen scheuert Jesous den Boden. Die Hütte ist nun rein, Türe und Rahmen wieder in Stand gesezt, die Kinder wurden gewaschen und mit Haferbrei abgefüttert.
Jefous Kriste m, vielleicht bist du doch schon eine Ewig
feit da!
Aber nein, es ist erst einige Stunden. Sonnenstäubchen tanzen, und das Weib ein wenig glücklicher und befreiter, fragt: ,, Jesous Kristem, wohin gehst du?"
Der Arm des Riesen rudert durch die Luft; es ist unbestimmt, wohin er zeigen will. Die Türe wird zugezogen, und dann ist es still wie immer, wenn der Mann erst abends von schwerer Arbeit heimkehrt.
Und auf dem Wege von Jesous Kristem maren Maschinen, und die rosteten. Da maren auch Schornsteine, die nie mehr rauchten. So eine Fabrik, ob sie nun Teesiebe, Gummibälle oder Haarnadeln erzeugt, sie wird einfach zugesperrt und das Geld
Sonntag, 17. April 1932
Pharaonengräbern, und so auch in den Grashütten der Fidschii und in den Schneelöchern am Yukon. Du lagst zwischen den wilden und betäubenden Geranien auf Kap Horn , deine Füße traten in den Sand der Kalahari- Wüste - und mo du auch warst, justament tausend Kilometer gegenüber und quer durch hörtest du rufen nach dir
Jesous Kristem Jeeesoouus Kristeeem!" Und dann liefst du über Dornen und schillernden Sumpf. Hinter dir war das Kreischen der Affen, das Brüllen und Flüstern der großen und kleinen Tiere. Da lag die Sonne auf deinem Scheitel wie glühendes Blei, da trat dein bloßer Fuß auf Treibeis und wieder auf heiße Geiser und du hast nicht nach Beeren gegriffen und nicht nach Wasser. Du bist nur immer gerannt wie ein Besessener, immer dem Schall nach Kristem Jeeesoouuus Kristeeem! irgendwer in Angst und Nöten war.
„ Jesous -", meil
So, wie eine Reihe von Vorhängen über die Bühne gleiten, verschwinden die Bilder und der Richter ist wieder ganz wach. Vor ihm stehen die beiden Leuchter und das gelbglänzende Kruzifir; aber ansonsten ist es leer im Zimmer, und fein Jesous Kristem, kein Landstreicher und Aufruhrstifter steht da, um sich zu verantworten.
Paragraphen und Gesezesbücher, Enzyklopädien der Ordnung, ledergebundenes Recht und haarspaltende Bandeften rücken meit ab und der Richter sieht sie nicht mehr. Was er sieht, das sind die Bilder, und da ist ein Glaube im Richter gewachsen, ein Glaube an den Menschen, der ihn warm macht, der ihn beglückt. Und so drückt er auf den Knopf zu seiner Linken, und als der Gefängniswärter um die Wünsche fragt, reicht ihm der Richter einen Zehnmarkschein, noch einen und dann noch einen, leert hastig das Kleingeld hinterher und sagt: ,, Geben Sie das dem Kristem, ja, dem Jesous Kristem, und lassen Sie ihn schnell heraus!"
Der Landrichter hängt Talar und Barett auf den Nagel und tritt hinaus unter die Kastanienbäume und dann auf den Weg, der durch die Wiese führt. Und als er knapp vor seinem Stiefel einen Käfer sieht, der hilflos auf dem Rücken liegt, da beugen sich feine fünf Jahre Studium, seine zehn Jahre Praxis und Macht zur Erde nieder, um einem Käfer zu helfen.
Dem einen kommt es im Schlafe zu, was er nicht im Herzen hat; die Wirkung aber ist die gleiche.
„ Auf einer kleinen Bank im Park...
Das einzige, worüber auf Großstadtbänken nicht gesprochen wird, ist die Bank selber. Liederrefrains befingen Episoden auf fleinen Parkbänken. Die Bant als Kupplerin ist ein auf schmiffiges Berlinerisch wie auf rührendes Wienerisch abgehandeltes Schlagerthema..( In Heiligenstadt steht a Bankerl")... aber wo bleibt der Dichter der Großstadtbank! Die zwischen lärmenden Straßen stehende Bank ist innerhalb einer Spannweite überall auf der Welt diefelbe... Auf Großstadtbänken herrscht ein spezieller Geist: der Geist des Idylls. Oft überschattet von dem Asylbedürfnis des Clends( in freier Luft), manchmal verdorben durch das Sich- nicht eingruppieren- lassen- wollen der Dünkelhaften, obwaltet auf städtischen Bänken ein im trassen Widerspruch zum Wesen der Großstadt stehender Friede. Viel phantastischer als das Land, wo alles nur Friede, ist dies Bankidyll, ist diese Menschenrast inmitten von so viel Unrast. Wer sagt uns, was die Bänke einander erzählen: wenn ein Regen die Menschen weggeschwemmt und nur mehr Zigaretten stummel und Orangenschalen zurückbleiben?
Ihre Beschaffenheit ist natürlich von fleinster und ihr Standort von größter Bedeutung für die Erlebnisse einer Großstadtbant. Eine Lehne muß dem allgemeinen Anlehnungsbedürfnis entgegenkommen, sonst achtet man nicht sonderlich darauf, ob man sich auf eine der in Berlin immer grünen und in Wien braungelben geschwungenen Lattenbänke setzt oder von den häufigeren geraden eine, mit Mittelrinne, dem Murmel- und Eisenbahnspiel Vorschub leistende, hölzerne... mit Stein kommt der Nordländer zum Unterschied vom Italiener ungern in intime Berührung; er grault sich vor fühlen Sitzgelegenheiten... etwa auf der„ Eisernen Brücke", die, mie der Name nicht besagt, ganz aus Stein ist. Je nach Viertel, Anlage oder Platz sizt man auf derselben Bank in Berlin allerdings recht verschieden...
Der Tiergarten, den ein von dem vielen vermodernden salzigen Eichenlavb herrührender herbstlicher Geruch nie ganz verläßt, ist 3. B. nicht bürgerlich- volkstümlich wie der Friedrichshain ,, besessen": In diesem wirklichen Volkspark erfreuen sich fleine Leute mit Thermosflaschen und Stullen, die sie herausgeschleppt, ihrer selbst und ihrer Angehörigen, bewundern naiv die Kaninchen, oder ihre ungewohnt müßigen Hände find hilflos in Betrachtung gefaltet, der Kinderwagen friegt zum Hallo der Babys einen gelegentlichen Schups, daß er von der Mutter weg und zu ihr zurüdrollt. Der Tiergarten fann noch immer seine autokratische Herkunft nicht verleugnen: er war das Jagdrevier Friedrich Wilhelms I. Viel cher mag sich dort das Abenteuerliche ereignen. Natürlich sind die versteckt gelegensten Bänke das Refugium zahlreicher unter Raummangel leidender Liebespaare, die man in Berlin sonderbarerweise wenn nicht gar ausspioniert und aufscheucht, so doch, was auch sonst nicht üblich, neugierig- neidisch anstarrt während sie selbst die Eigenheit besigen, nicht etwa über Liebe zu sprechen, ihre und des coram publico lezten Geheimnisse auszuforschen( wie man's un
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geniert im Jardin du Luxembourg vernehmen fann), sondern über Sachen zu reden, materiellen Besiz... ein neues parmablaues Kleid, eine Neubauwohnung, ach, Schleiflad... Es sollte mich aber nicht wundern, wenn auf der gleichen Bant ein mit einer fahrbaren Siggelegenheit Versehener, ein Autobefizer oder gar Reiter, einen Spaziergang unterbrechend, den er zu machen geruhte, ausnahms= weise einen Moment gnädigst Blaz nimmt, oder daß von der aussterbenden Rasse der Philosophen einer dort Spaßzen füttert, eine elegante Blaumeise fah ich um ein zerluniptes Individuum herum: zwitschern, mit dem sie Freundschaft geschlossen, mysteriöse, untarierbare Leute mögen sich neben einen hinsetzen, oder das offenkundige Laster, oder das Elend... und Kinder sind nur an bestimmten Stellen zu finden... und des Nacht gibt es Ratten und Razzias und Pennbrüder.
Am schnellsten wechselt und am buntesten ist die Bänkebesetzung auf den vom Verkehr umbrausten und durchzogenen kleinen Platzanlagen, wo sich zu einer nach Tageszeiten wechselnden Stammfundschaft jeder Zufall gesellt, den die menschliche Brandungswelle auf ihnen anschwemmen kann. Hier fißt neben dem Hoffnungs lofen, fozusagen vom Leben Ausgespienen der Hoffnungsvolle... auf derselben Bant, wo der Gescheiterte über die Sinnlosigkeit des Lebens nachsinnt und die schmerzloseste Weise, es zu enden, erlebt der sich von seinen Gängen ein Stündchen erübrigende Lehrling die ersten frischesten Sensationen des Lebens: Und was ist ihm der schwellende Ledersessel, den er später innehaben mag, gegen seine Erinnerungen an die alte Bank, wo er forglos- selig gesessen, die er streicheln könnte" erzählte mir ein Arrivierter. Kichernde Backfische sizen da und wippen selig mit den Füßen: tut man das zu Hause nein. Ein Greis kommt aus sonnenloser Hinterwohnung nach seinem Stammsiz auf der Lieblingsbant getrochen: er ist doch nicht etwa besetzt Frechheit! Frauen setzen sich zu einem Plausch nieder: nein, zu einer Verfilmung ihres Haushalts, den sie drehreif miedergeben, zu einer Chronik ihres Lebens, die sie endlos aufrollen, zu einem Trattat über Kindererziehung: sehen Sie nur, was er wieder macht, der Franze! Kinder... Kinder sind das sorglose Leben in dieser manchmal bekümmerten Ruhe.
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Während wir Erwachsenen unsere mehe Welt mit uns herausschleppen, verstehen es Kinder( mie Spaßzen), sich im Straßendred eine Welt zu schaffen. Kinder entwickeln immer ein Heimatgefühl für da, wo sie sind. Kinder fühlen sich( wie die Hunde) nicht an die Bank gebunden. Außerdem probieren natürlich Kinder die Bänke auf alle ulkigen turnerischen Möglichkeiten hin aus, untera suchen das Ruheinstrument von allen Richtungen unruhig, sehen vieles, was wir nicht sehen, z. B. daß nach dem Regen Insekten auf den trockenen harten Boden drunter geflüchtet sind... benützen das Rasengitter, für das eine findige Firma einzuhalende Sigbretter angefertigt hat, zu Balanceübungen, fühlen ein unsinniges Vergnügen, die geheiligte Ordnung zu durchbrechen, Mütter bei Bor
Ungewisse Zukunft
für Deine Frau, wenn Du nicht mehr da bift-
für Deinen Sohn, wenn Du ihm nicht mehr helfen kannst für Deine Tochter, wenn Du nicht mehr für sie sorgen kannst
also Lebens- Versicherung!