Beilage
Sonnabend, 21. Mai 1932
Der Abend
Spalausgabe des Vorwards
Bismarck gründet das Reich
Rückblick auf eine Epoche/ Von J. P. Mayer
Werk und Gestalt Otto von Bismards ist wohl selten so| offenbart sich die tiefste Differenz zwischen Bismards Reich und den eindringlich beschworen morden wie in dem neuerschienenen Buch Forderungen, denen sich die Deutsche Republik heute nicht entvon Werner Beumelburg ( Bismarck gründet das Reich, ziehen darf. Verlag Gerhard Stalling , Oldenburg ; geb. 5,80 M.). Ich sage mit Absicht: beschworen, denn die glänzende, bewegte Sprache des Verfassers wendet sich weniger an die verstandesmäßige Einsicht des Lesers als an dessen Gefühl und Willen. Werner Beumel burg will aufrüttelnd wirken. Die Geschichte der Gründung des Deutschen Reiches soll zum Vorbild werden. Schon das Vorwort spricht es aus: ,, Beklommen und überrascht begreifen wir, wie sein ( Bismarcks) Geist mit den gleichen Fragen rang, die uns heute bedrängen."
Sind es wirklich die ,, gleichen Fragen"? Wenn die menschliche Geschichte etwas bedeutet, so dies: daß sie fortwährend neu geschaffen wird, daß sie das in der Welt Geschehende ist, das sich wandelnde Menschentum schlechthin. Beumelburg sieht im tiefsten Grunde die Welt statisch, unbewegt, wenn er auch betont, ,, daß alle Entwicklung Folge von Kampf iſt". Werk und Leben Bismarcks werden als Mythos von gegenwärtiger Gültigkeit beschworen und in den folgenden Sägen festgehalten:„ Das Herauswachsen über Parteibegriff, das Beiseiteschieben der herkömmlichen Maßstäbe konservativ und liberal und die Formung des übergeordneten Begriffs des Staates an sich, die parteipolitische Grundsatzlosigkeit und das Aufgehen im tieferen Gegensatz Staat und Nation, der leidensvolle Weg der Erkenntnis vom einen zum andern und die geniale Uebertragung der gewonnenen Erkenntnis auf die Politik was anderes ist Bismarcks Wert!"
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Hier haben wir Beumelburgs Bismard- Deutung im Ertraft. Bismarcks Legitimismus wird faschistisch umgedeutet. Allerdings ist Beumelburgs Faschismus himmelweit vom Faschismus vulgaris der deutschen Nationalsozialisten entfernt. Das Wert Bismarcks, die Gründung des Deutschen Reiches war feineswegs die Schöpfung des autoritären Staates, der heute allerdings das Gebot der Stunde ist. König Wilhelm I. von Preußen hat Bismard 1862 als Ministerpräsidenten bestellt, weil kein anderer preußischer Staatsmann bereit gewesen war, die vom Landtag ab= gelehnte Heeresvorlage durchzufämpfen. Bismard hat sich damals ausdrücklich für das Königsregiment gegen die Parlamentsherrschaft erklärt und über seine Entschlossenheit, auch gegen das Parlament diktatorisch zu regieren, wenn die Herrschaft des Königs in Frage gestellt sei, feinerlei Zweifel gelassen.
Einer falschen Mythisierung von Bismards Lebenswerk muß entschieden widersprochen werden. Konservativismus und Liberalismus waren im 19. Jahrhundert keine fertig gegebenen geschichtlichen Größen, die in einer autoritären Synthese von Bismard auf einer höheren Stufe zusammengefaßt worden wären; nein, auch diese großen politischen und geistigen Bewegungen des vorigen Jahr" hunderts haben sich fortlaufend selbst gewandelt. Niemals dürfen sie als starre Gegebenheiten angesehen werden. Hätte Werner Beumelburg etwas von marristischer Geschichtsbetrachtung lernen wollen, dann wäre die Entstehung des deutschen Liberalismus im engsten Zusammenhang mit der zunehmenden Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert aufzuzeigen gewesen; Bismarck hat sich mit diesen Zusammenhängen sehr gründlich auseinandergefegt. Durch Lothar Bucher , seinem vertrauten Mitarbeiter, der dem Kreise um Karl Marr nahegestanden hatte, sind ihm diese Dinge sicherlich vertraut gemacht worden, war doch Bucher einer der gründlichsten Kenner des englischen Parlamentarismus. Unser faschistischer Historiker läßt allerdings Bucher ohne weiteren Kommentar auf treten. Auch die große Auseinandersetzung Bismarcks mit Ferdi nand Lassalle übergeht Beumelburg schweigend. Dies ist um so unverständlicher, als gerade in dieser Auseinandersetzung, die sich um das allgemeine Wahlrecht bewegt, einmal der gemeinsame Feind der bedeutenden Verhandlungsgegner, nämlich der Liberalismus, und dann die königstreue, legitimistische Tendenz Bismarcks deutlich wird. Die neuen Dokumente, die Gustav Mayer vor einigen Jahren aus den Aften des preußischen Staates veröffentlichen konnte, haben die vielfach mißverstandenen Unterhaltungen Bismarcks mit Lassalle ins rechte Licht gerückt: Lassalle erstrebte das allgemeine Wahlrecht in Preußen, um damit der Arbeiterschaft die Möglichkeit des demokratischen Aufstieges zu geben, Bismarck dagegen hoffte, die Arbeiterschaft merde trotz des allgemeinen Wahlrechts royalistisch und konservativ wählen. Sicherlich dachte Bismarck auch daran, den weitverzweigten preußischen Verwaltungsapparat nicht unausgenützt zu lassen. Es war ein gefährliches Spiel, das beide Politiker spielten; Bismard wollte die Machtstellung des Liberalismus brechen und den Konser vativismus stärken. Lassalle glaubte, den Kampf gegen den Liberalismus gemeinsam mit Bismarck führen zu können und die Arbeiter klasse auf ihren eigenen Weg zu bringen. Der dänische Krieg und Lassalles Tod machten diesem diplomatischen Spiel ein Ende, das sehr wahrscheinlich für Lassalle verloren gewesen wäre.
Dennoch war Bismard kein sturer Anti- Liberaler. Er hat es namentlich nach Nicolsburg( 1866) sehr wohl verstanden, im Interesse einer Bindung der süddeutschen Staaten, den König in schweren Kämpfen zu einer Auflockerung der deutschen innenpolitischen Verhältnisse zu bewegen. So enthielt dann die Verfassung des Nord deutschen Bundes das allgemeine Wahlrecht, wenn auch die Mitglieder des norddeutschen Reichstags keine Besoldung oder Entschädigung erhalten sollten, getreu der Bismarckschen Grundauffassung, der er später in„, Gedanken und Erinnerungen" Ausdruck verlieh:„ Die größte Besonnenheit der intelligenteren Klassen mag immerhin den materiellen Untergrund der Erhaltung des Besizes haben:... aber für die Sicherheit und die Fortbildung der Staaten ist das lebergewicht derer, die den Besiz ver treten( von mir gesperrt), das Nützlichere... Jedes große staatliche Gemeinwesen, in welchem der vorsichtige und hemmende Einfluß der Besitzenden materiellen oder intelligenten Ursprungs verloren geht, wird immer in eine der Entwicklung der ersten fran zösischen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geschwindigkeit geraten." Mit vollem Recht sieht Artur Rosen berg in seinem ausgezeichneten Buch ,, Die Entstehung der deutschen Republik" in diesen Sägen Bismards fo3iologische Grund= auffassung ausgesprochen, die wahrhaftig einen eindeutig tapitalistischen, antisozialistischen Charakter hat. Diese Tendenz der Bismarckschen ,, autoritären" Staatsführung darf von einem gewissenhaften Historiker nicht verwischt werden: sie ist unvereinbar mit dem, was mir heute von einer autoritären Staatsführung fordern; denn das Deutsche Reich muß sich heute vor allem feiner sozialen Verantwortung bewußt sein. Hier
Beumelburg ist dieser Unterschied völlig enigangen. Die Reichsgründung vollzieht sich gleichsam nur in der Verdünnung der diplomatisch- politischen Sphäre; das Volk ist, um mit Marr zu reden, das ,, passive Piedestal" für jene Kämpfe. Nation aber ist die Willenseinheit des Volkes., das seinen geschicht lichen Weg im neuen Staat aus eigener Kraft bestimmt. Die Führer müssen im Gegensatz zu Bismarck mit dem Volf in innerer Dynamit verbunden ſein.
Dennoch erinnert Beumelburg an tiefe staatsmännische Einsichten Bismarcks, die auch heute unverloren bleiben sollten. Der Krieg als Selbstzweck ist Bismarck , sehr im Gegensatz zu denen, die das„ Dritte Reich" als unmittelbare Fortsetzung des Bismarckschen aufrichten möchten ,,, eine Ungeheuerlichkeit, ein Verbrechen". Gewiß hatte Bismarck schon früh erkannt, daß das Deutsche Reich nur durch Blut und Eisen" zu schaffen sei; dennoch setzte er seine ganze Kraft jeweils dafür ein, daß auch im Krieg die Kriegführung und besonders die Kriegsziele der politischen Führung untergeordnet blieben.
Das war keineswegs leicht. Der Generalstab schob, so oft er nur irgend konnte, Bismard beiseite, aber unnachgiebig hielt Bismard die Zügel in der Hand Nach dem großen preußischen Sieg bei Königgrät wollte die Generalität den Siegesmarsch der preußischen Truppen fortsezen. Bismarck drängte auf einen raschen Friedensschluß, der Desterreich erträgliche und vor allem feine demütigenden Bedingungen auferlegen sollte. Man muß die dramatische Darstellung lesen, die Bismarck in seinen„, Gedanken und Erinnerungen" von diesen Konflikten gibt. Ich war... fest entschlossen, die Annahme des von Desterreich gebotenen Friedens zur Kabinettsfrage zu machen. Die Lage war eine schwierige; allen Generälen war die Abneigung gemeinsam, den bisherigen Siegeslauf abzubrechen, und der König wir militärischen Einflüssen im
Laufe jener Tage öfter bereitwilliger zugänglich als den meinigen; ich war der einzige im Hauptquartier, dem eine politische Berantwortlichkeit als Minister oblag..."
Nur durch Vermittlung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm gelang es, den greifen König umzustimmen und die schriftliche Einwilligung des Königs, die Bismard mitteilt, ist ganz von jenen schweren inneren Kämpfen getragen:„ Nachdem mein Ministerpräsident mich vor dem Feinde im Stich läßt und ich hier außerstande bin, ihn zu ersetzen, habe ich die Frage mit meinem Sohne erörtert, und da sich derselbe der Auffassung des Ministerpräsidenten angeschlossen hat, sehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach so glänzenden Siegen der Armee in diesen saueren Apfel zu beißen und einen so schmachvollen Frieden anzunehmen." Bismard hat also gesiegt. Aber noch im späten Alter schließt er diesen Bericht mit den bewegten Säßen: Von dem erwähnten Marginale des Königs... blieb mir als einziges Residuum die Erinnerung an die heftige Gemütsbewegung, in die ich meinen alten Herren hatte versetzen müssen, um zu erlangen, was ich im Interesse des Vaterlandes für geboten hielt, wenn ich verantwortlich bleiben sollte. Noch heute haben diese und analoge Vorgänge bei mir feinen anderen Eindruck hinterlassen als die schmerzliche Erinnerung, daß ich einen Herrn, den ich persönlich liebte wie diesen, so habe ver= stimmen müssen."
Auch die Bündnispolitik Bismarcks ist nie einseitig, sondern immer l'abil gewesen. Seit 1854 ist er dieser labilen Bündnispolitik, die weder einseitig nach Westen oder Osten optiert, treu geblieben und es gehört zu den tragischsten Erschütterungen seiner Alterszeit, daß er diese grandiose außenpolitische Linie seines Schaffens verlassen sehen mußte. Unbeirrt hat Bismarck seinem Werk: der Schaffung einer deutschen Nation unter preußischer Führung gedient; was dem jungen Bundestaggesandten intuitiv vor Augen stand, brachte der Sechzigjährige zur Erfüllung. Im Spiegelsaal in Versailles fand am 18. Januar 1871 sein Werk seine Krönung, das am gleichen Ort 1919 seine schwerste Erschütterung erfuhr. Das Friedensdiktat von Versailles war das Fazit der kaiserlichen Politik, die Bismarcks Gut verschwendet hatte.
Es ist Aufgabe der heute Lebenden, das Reich stark und gesund wieder aufzubauen, nicht durch die mythische Beschwörung einer großen geschichtlichen Gestalt, sondern im schöpferischen Be wußtsein der geschichtlichen und sozialen Verantwortung, die dem deutschen Volk von der Geschichte zur Lösung aufgegeben ist.
Spanier auf Reifen
Ein Bilderbogen aus dem Süden/ Von Sophie Kramstyk
Die meisten Züge in Spanien haben feine zweite Klasse, und der Reisende muß sich zwischen erster und dritter Klasse entscheiden. Die Reise unterscheidet sich in der ersten Klasse des spanischen Schnellzuges so gut wie gar nicht von den Fahrten erster Klasse im übrigen Europa . Schlafwagen, Speisewagen und andere An nehmlichkeiten werden den Reisenden geboten, und diese selbst unterscheiden sich auch sehr wenig von dem internationalen Publikum erster Klasse auf anderen Strecken. Was aber die dritte Klasse betrifft, so fann ich mich noch genau erinnern an alle Schreckens geschichten, die ich vor der Abreise nach Spanien in Deutschland und Frankreich darüber zu hören bekam. Trotzdem kaufte ich mir mit Todesmut eine„ Kilometrit" dritter Klasse, d. h. ich kaufte mir, wie es in Spanien bei langen Reisen üblich ist, 3000 Kilometer Reise, wobei ein Kilometer auf 5 Centavos( 1½ Pf.) zu stehen kommt. Mit dieser Karte, von der nun dauernd Hunderte von Kilometern abgerissen wurden, reiste ich in Spanien hin und her, in Eil- und Bummelzügen, bei Tag und bei Nacht, in überfüllten und leeren Wagen. Ich muß gestehen: oft sehnte ich mich nach den sauberen Wagen dritter Klasse in Deutschland oder in der Schweiz ; oft pries ich im Geiste die Distanz wahrenden Nordländer und schäßte in der Erinnerung alle schweigsamen Reisegefährten, die mir jemals begegnet sind, hoch ein. Dennoch bewahre ich trotz der sehr oft ungemütlichen Vernachlässigung der Wagen, trotz dem Mangel an Wasser in den Toiletten, trotz dem unglaublichem Lärm, den die spanischen Reisegefährten jeden Alters und Geschlechtes erzeugten, diese Reisen in dankbarster Erinnerung. Der Eisenbahnwagen dritter Klasse ist ein Stück spanischen Lebens, das für Stunden festgebannt und unter die Lupe des Beobachters gestellt ist. Schon der Bahnsteig stellt ein fesselndes Bild dar. Der Spanier, der eine Reise von einigen und manchmal auch nur von einer Stunde unternimmt, wird meistens von seiner zahlreichen Familie nebst Anhang zur Bahn begleitet. Reist aber eine Frau ab oder gar eine Frau mit Kinder, so sieht es aus, als ob sie eine Reise um die Welt unternehmen wollte. Es ist beinahe ergreifend, zuzuschauen, wie diese Familien aneinander hängen, und die Art, mit der sie diese Anhänglichkeit zum Ausdruck bringen, ist zugleich rührend und urkomisch Besonders sind es aber die Kinder, denen man eine grenzenlose 3ärtlichkeit erweist. Diese Zärtlichkeit nimmt Formen an, die jedem Hygieniker eine Todesangst um das Wohl dieser Kinder einjagen müßte, denn wer von den unzähligen Begleitern ließe es sich nehmen, das ,, nino" nach Herzenslust abzuküssen? Gendarme Kinder
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Freßkörbe.
Nun aber setzt sich der Zug in Bewegung. Letzte Küsse, letzte Rufe, Ermahnungen. Das ,, nino" wird noch einmal ans Fenster gebracht, und beim unglaublichsten Durcheinander fährt der Zug aus dem Bahnhof hinaus. Dann erst wird das Gepäck verstaut, meistens Bündel und Körbe, denn wer einen richtigen Coupétoffer befigt, ist entweder ein Handelsreisender, oder er gehört zu den„ Reichen" und hat sich hierher bloß verirrt. Denn das muß gesagt werden: der Bürger, der bessere Mensch", reist in Spanien nicht dritter Klasse. Außer Arbeitern, Bauern, Soldaten und Kleinbürgern sieht man nur noch Zivilgardisten, die eigentlich von Amts wegen mitreisen, aber schon nach einigen Minuten der Fahrt ihre Würde beiseitelegen und den Menschen herauskehren. Ob Zufall oder Absicht, mehrmals faß mir ein uniformierter Vertreter dieser best disziplinierten spanischen Polizeitrupps gegenüber, aber nachdem er seinen Wachshut von lächerlichster Form vom Kopfe genommen und sich irgendein mitreisendes ,, nino" auf den Schoß gesetzt hatte, wurde er zu einem gutmütigen, harmlosen Schwäger, der mir mitteilte, wieviel jeder Teil seiner Uniform, die er sich selber anschaffen müsse, foftet, mas er über den letzten Stierkampf denke, und wie viele Kinder seiner zu Hause harren. Ueber die Politik sprechen die Zivilgardisten ungern, weil sie wohl in völliger Unkenntnis der Dinge leben. So gemann ich den Eindruck, daß die gehaßte Gendarmerie nichts anderes ist als ein primitives und vielleicht deshalb wirf james Werkzeug in der Hand des jeweiligen Machthabers.
Die Kinder vollends sind ja alle kleine Engel, wie die spanischen Mütter versichern. Das mag ja auch stimmen, aber leider sind die Mitreisenden nur allzuoft Beugen, wie diese Engel ihre kleinen irdischen Geschäfte mitten im Abteil verrichten, was alle anwesenden Frauen außerordentlich zu amüsieren scheint Uebrigens sind die Erwachsenen ebenfalls ungemein ungeniert, wenn auch ihre Ungeniertheit nicht so weit wie bei den Kindern geht. Ein malerisches Bild stellt das Speisen der Reisegefährten dar: aus großen Eßförben werden nicht etwa belegte Brote, sondern fertige Speisen, Fische, Eierkuchen, Fleisch hervorgeholt und mit den Fingern ge= gessen, wozu der feurige spanische Wein direkt aus der Flasche getrunken wird. Auf den Bahnhöfen werden ähnlich zusammengestellte Eßtüten verkauft: eine vollkommene Mahlzeit, nur kalt, dazu Obst und eine Flasche Wein, alles zusammen für dreieinhalb Beseten ( 1,10 M.). Diese Tüten werden meistens von Junggesellen gekauft. Ob aber einer Junggeselle ist und warum, und ob er es noch lange zu sein vor hat, und was er sonst denkt, fühlt und beabsichtigt, weiß natürlich das ganze Abteil schon nach ganz kurzer Zeit. Nirgends wohl fallen die Schranken zwischen Menschen so leicht wie hier im spanischen Wagen der dritten Klasse, und aus den Erzählungen und Gesprächen, aus dem ganzen Gebaren dieser Leute, entpuppt sich der Spanier mit seiner Not und seinen Freuden, seiner Unkenntnis der Zusammenhänge des Lebens, seinem Wunderglauben, selbst in der Politit, seinem Drang nach persönlicher Unabhängigkeit, seiner Sinnlichkeit und seiner Romantik.
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Künstler
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Messerhändler.
Kollekteure Auch Geschäfte werden im Zuge getätigt. Auf großen Stationen kommen oft Leute hinein, die eine kleine Strede weit mitfahren und während dieser kurzen Fahrt eine Schnellotterie veranstalten. Sie verkaufen ihre Lose sehr billig für 10 Centavos-; dafür ist aber auch der Gewinn nicht erschütternd groß. Trotzdem gerät der ganze Wagen in ein unbezähmbares Spielfieber. Da aber die meisten Spieler eine Enttäuschung erleben, weiß der Veranstalter, daß es ratsamer ist, sich nach zwei, drei Spielen zu drücken. Manchmal steigt ein jugendlicher Künstler" auf einer Station ein, und ob er Zauberkunststücke zeigt oder melancholische arabisch klingende „ Saetas" singt, das Publikum ist ihm für die Abwechslung dankbar. und Kupfermünzen fallen in die kleinen schmutzigen Hände, während die halb ernsten, halb lachenden Augen der acht oder zehnjährigen Verdiener unter zusammengezogenen Brauen funkeln. Auf einer kleinen andalusischen Station sah ich auch Kinder vor den Eisenbahnfenstern Flamengo tanzen. Einmal wurde ich mitten in der Nacht geweckt und sah eine riesige Männergestalt, aus deren Gurt viele blanke Messer blizten. Es war aber fein Räuber, auch nicht die zwei, drei, zehn anderen Männer, die ihm auf den Fersen folgten. Nein, man befand sich nur in Manzanares, das durch seine Messerfabrikation berühmt ist, und diese barbarisch aussehenden Männer waren friedliche Messerhändler, die ihre Kundschaft im Zuge suchten und wohl auch fanden.
Ein warmes Bad und eine Nacht in einem guten Bett genügen, um nach einer derartigen Reise wieder ein zivilisiertes Wesen zu werden. Aber unzählig und farbenreich drängen sich noch nach langer Zeit Bilder über Bilder ins Gedächtnis aus einem ver räucherten, schmutzigen, dumpfen Wagen, wo Menschen ohne Kragen und mit schmutzigen, frustigen Händen so lustig und so menschlich den Fremden ihre Freundschaft antragen. Diese Menschen leben hier im Eisenbahnwagen ihr alltägliches Leben weiter, und das ist es wohl, was das Reisen in Spanien vom Reisen in anderen Ländern unterscheidet; wenn man den Zug in Spanien besteigt, hört das Leben nicht auf. Man unterbricht es nicht, um es nach Stunden und an einem anderen Orte wieder aufzunehmen, sondern man sieht sich ins regste Leben versetzt, nur daß sich dieses Geschehen in einem abgegrenzten Raum abspielt und von den rollenden Rädern des 3uges weitergetragen wird. Was macht es schon aus, daß viele Züge nur sehr langsam fahren!