Morgenausgabe
Nr. 257
A 130
49. Jahrgang
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Der„ Borwärts" erscheint wochentäg lich zweimal, Sonntags und Montags einmal, die Abendausgabe für Berlin und im Handel mit dem Titel„ Dez Abend". Jllustrierte Sonntagsbeilage Bolt und Zeit"
Freitag
3. Juni 1932
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Gegen die Barone!
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat im Reichstage folgenden Mißtrauensantrag gegen die Regierung von Papen eingebracht: Die Reichsregierung besitzt nicht das Vertrauen des Reichstages".
Der Eid auf die Verfassung
Und was er bedeutet.
Die neuen Minister sind gestern auf die Verfassung vereidigt worden. Es muß ein sehr feierlicher Aft ge wesen sein, und man wird vielleicht noch öfter Gelegenheit haben, auf ihn zurückzukommen. Heute aber ist es am Blaze, an einiges zu erinner, was in der Verfassung, die die Herren soeben beschworen haben, steht.
Nach der Verfassung ist das Deutsche Reich eine Republik , die Staatsgewalt geht vom Volke aus, die Reichsfarben sind schwarzrotgold. Der Reichstag besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes und wird auf vier Jahre gewählt. Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl findet spätestens am 60. Tage nach der Auflösung statt. Späte stens 30 Tage später muß der Reichstag zusammentreten. Der Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volts vertretung und der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten bleiben auch nach der Auflösung bis zu ihrer Erneuerung durch den neuen Reichstag bestehen.
Ueber Artikel 48 ist nicht viel zu sagen, jedes Kind fennt ihn. Auch den neuen Ministern dürfte er von allen Artikeln der Verfassung am geläufigsten sein. Es genügt, zweierlei hervorzuheben: erstens, daß dieser Artikel feine Handhabe bietet, einer fachlich scharfen Opposition den Mund zu verbinden und zweitens, daß jede Verordnung außer Kraft gesezt werden kann, wenn der Reichstag es verlangt. Schließlich dürfte die Herren aber auch noch stark der Artikel 54 intereffieren, nach dem der Reichskanzler ung die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichs tags bedürfen und zurücktreten müssen, wenn ihnen der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzieht.
Das ist zunächst das Wichtigste der Vorschriften, deren genaue Einhaltung die neuen Herren gestern durch ihren Eid feierlichst zugesagt haben.
So klar nun die Bestimmungen der Verfassung sind, so unflar ist manches andere. Da ist z. B. eine gut verbürgte Aeußerung des Reichswehrministers General von Schlei cher , die neue Regierung werde ihre zwei bis vier Jahre im Amte bleiben. Da gehen phantastische Gerüchte von einem Rücktritt des Reichspräsidenten im kommenden Herbst und der Einsetzung eines„ Reichsverwesers" in der Person staunst du! Sr. Kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen. Solche Gerüchte stammen aus Kreisen, von denen man annimmt, daß sie der neuen Regierung nahestehen. Die neue Regierung wird gut tun, baldigst sich dagegen zu weh ren, daß man sie mit Plänen in Verbindung bringt, die mit ihrer Eidespflicht unvereinbar sind.
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da
Wie aber kann Herr von Schleicher sich dafür verbürgen, daß seine Regierung zwei bis vier Jahre bleiben wird, da doch die verfassungsmäßige Grundlage, auf der sie eristieren fann, noch in feiner Weise sichtbar ist? Der Reichstag soll aufgelöst werden, weil er zu Herrn von Papen kein Vertrauen hat eigentlich komisch, wo soll denn dieses Vertrauen herkommen?, er fann aber aus dem gleichen Anlaß nicht zum zweitenmal aufgelöst werden. Das heißt, wenn auch der neue Reichstag der Regierung das Vertrauen verweigert, dann kann nicht er aufgelöst werden, sondern die Regierung
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muß zurücktreten!
Ein großes Rätselraten hat begonnen, und noch ist der Schleier darüber nicht gelüftet, nach welchen Modalitäten und mit welchem Programm die Reichstagsauflösung erfolgen soll. Man spricht von einer angeblichen Absicht der Regierung, den Reichstag gar nicht mehr einzuberufen, sondern ihm seine Auflösung in einem eingeschriebenen Schreiben
mitzuteilen. Ein solches Verfahren wäre mit der Verfassung| muß den Mut haben, zu bekennen, daß sie mit der Auflösung nicht vereinbar: die neue Regierung muß wenigstens den Versuch unternehmen, ihre Bestätigung im Amte durch die Volksvertretung zu erlangen, und erst wenn das Vertrauen verweigert wird, ist ein Anlaß zur Auflösung vorhanden. Der Reichstag hat ein Recht, die Erklärung der Regierung zu hören, sich über sie zu äußern und die Debatte mit einer Abst immung abzuschließen. Ihm dieses Recht versagen, das hieße, gegen den Geist der Verfassung verstoßen.
3weck der Auflösung kann nur sein, eine andere 3 usa mmensehung des Reichstags herbeizuführen. Die Regierung wird sich also wohl noch darüber äußern müssen, warum ihr der Reichstag nicht gefällt und wie sie sich einen neuen vorstellt. Herr von Papen machte gestern in seiner Erklärung, die er vor der Presse abgab, einige mehr als allgemeine Bemerkungen über die Zusammenfassung aller nationalen Kräfte", über die Sammlung aller Potenze n". Dies scheint uns aber fein Programm zu sein, das die Absichten der neuen Regierung zu erkennen gibt und dem in einem Wahlkampf irgendwelche Zugkraft beizumessen ist.
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Um ganz deutlich zu sein: Die Regierung der Barone entfesselt einen Wahlkampf, in dem auf der einen Seite die Nationalsozialisten nebst ihrem Anhang, auf der anderen Seite die Sozialdemokratie und das Zentrum stehen werden. Die Auflösung erfolgt in der Absicht, daß weniger Sozialdemokraten und Zentrumsleute und mehr Nationalsozialisten und Deutschnationale gewählt werden. Die regierende Baronie
Eine demokratische Verfassung, wie wir sie haben, fordert Licht und Offenheit in allen öffentlichen Beziehungen. Daran hat es während der Regierungskrise gefehlt. Jetzt verlangt die Verfassung, daß die Masken fallen und die Karten aufgedeckt werden. Licht und Klarheit fordern wir im Geiste der Verfassung, die die neuen Minister gestern beschworen haben.
Hindenburg vereidigt die Barone.
Der Reichspräsident hat gestern nachmittag die durch Reichsminiſtergesetz vorgeschriebene Bereidigung des Reichskanzlers von Papen und der Mitglieder der neugebildeten Reichsregierung auf die Berfaffung vorgenommen.
Der Reichskabinett trat anschließend unter Borjih des Reichstanzlers von Papen zu seiner ersten Sizung zusammen. Dieje Sigung war nur furz und trug lediglich formalen Charakter.
Reichstagseinberufung gefordert.
Die Sozialdemokratie zum Kampf bereit. Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichs. tagsfraktion hat den Reichstagspräsidenten gebeten, sich sofort mit der Reichsregierung wegen der Ein berufung des Reichstags ins Benehmen zu setzen. Außerdem ist der sofortige Zusammentritt des Aeltestenrats gefordert worden.
Judenpogrome in großem Maßstabe.
Die Nazitumulte in Breslau dauerten auch am Donnerstag an. Hakenkreuzler treiben sich in zahlreichen Trupps vom frühen Vormittag bis in den späten Abend auf dem Ring( Rathausplatz) sowie in den benachbarten Hauptverkehrsstraßen herum und setzen die Bevölkerung fyftematisch unter Terror. Die Nationalsozialisten veranstalten förmlich Jagden auf Anders gesinnte. Besonders sind Bassanten mit jüdischem Aussehen Belästigungen ausgesetzt; es herrscht schon fast Pogromstimmung. Schläge: reien sind an der Tagesordnung. Wer sich in der Innenstadt mit republikanischen Abzeichen sehen läßt, wird sofort angegriffen und rücksichtslos niedergeschlagen. Am Donnerstag gegen abend forderte die Judenheze des Nazipöbels ihr erstes Opfer in Breslau .
In der Ohlauer Straße fielen mehrere Hitler- Strolche ohne jeden erkennbaren Anlaß über eine junge, der Naturfreundejugend angehörende Jüdin her. Die Nazis fließen sie mit schweren Stiefeln in den Leib und versetzten ihr einen heftigen Schlag gegen die Schläfe. Das Mädchen brach besinnungslos
zufammen und mußte fortgefchafft werden.
Gegen 20 Uhr steigerte sich die allgemeine Erregung in der Stadt in gefährlichem Ausmaße. Mehrere hundert ehemalige S2. Leute zogen wie am Abend zuvor vor die in der Ohlauer Straße gelegene Gaugeschäftsstelle des Reichsbanners und machten Miene, neuerdings in ihre Geschäftsräume einzubringen. In einer Seitengasse in der Nähe des Hauptpostamies griffen die Nazis mehrere Polizeibeamte an und bewarfen sie mit schweren Pflastersteinen. Darauf machten die Polizeibeamten von der Schußwaffe Gebrauch und feuerten Warnungsschüsse in die Luft ab.
Nach dem Zusammenstoß, in dessen Verlauf glücklicherweise niemand verletzt wurde, verbreitete sich in der Stadt das vermutlich von den Nazis aufgebrachte Gerücht, daß aus den Fenstern des
Reichsbannerbüros geschossen worden sei. Die sofort eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen ergaben, daß insgesamt drei Schüsse bei dieser Auseinandersetzung gefallen sind. Diese drei Schüsse wurden nach Aussage der Beamten von ihnen in Abwehr der fortwährenden nationalsozialistischen Angriffe abgegeben.
Polizeistreifen trieben die letzten Ansammlungen, die sich stets von
Gegen 22 Uhr verzog sich der Nazipöbel allmählich. Verstärkte neuem vor dem Reichsbannerbüro sowie vor dem Braunen Haus in der Bischofstraße bildeten, unter Anwendung des Gummifnüppels
auseinander.
Die Breslauer Nationalsozialisten haben die geschilderten Tumulte mit voller Absicht herbeigeführt. Es ist einwandfrei festgestellt worden, daß die Hakenkreuzler
am Donnerstagabend aus der Umgebung von Breslau Verstärkung in die Stadt hereingezogen haben. Die SA.- Leute laufen übrigens in voller Uniform in der Stadt herum und führen schwere Knüppel sowie andere Schlagwerkzeuge mit sich. Hauptanziehungspunkt des hafenkreuzlerischen Janhagels ist vor allem die Geschäftsstelle des Reichsbanners, die seit Tagen regelrecht belagert wird. Die Polizeibeamten, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit am Hauseingang aufgestellt sind, müssen sich die widerwärtigsten Anpöbeleien gefallen lassen. Zu den Fenstern des Reichsbannerbüros schallen fortgesezt vielhundertstimmige Rufe herauf, wie: Judenknechte, Arbeiterverräter, Mörderbande, wir werden euch schon noch herunterholen!"
Trotz aller dieser Vorkommnisse und ungeachtet dessen, daß die Hakenkreuzler bewußt Zusammenstöße provozieren, ist das Ver= halten der Polizei dem Nazigefindel gegenüber im allge. meinen auffallend nachsichtig.