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Nr. 273 49. Jahrgang

1. Beilage des Vorwärts

Sonntag, 12. Juni 1932

Um das Letzte

Es gibt im Berliner   Norden Neubau blocks, in denen kaum noch einer von jenen Mietern wohnt, die vor drei, vier Jahren dort einzogen. Als aus den 63 Mark Wochenlohn, die die Männer damals nach Hause brachten, magere 18,90 Mark Arbeitslosenunterstützung wurden, da zogen die einen freiwillig, die anderen ließen sich exmittieren. Wem damals das mühselig erschaffene Heim wieder zerstört wurde, der fand sich meist in sein Schicksal. Die unbarmherzigen Exmissionstorturen liefen sozusagen ,, verhältnismäßig ruhig" ab: das große Leid des einzelnen verzeichnet ja die Geschichte unserer Tage nicht mehr. Vor ein paar Tagen, in Pankow  , lief allerdings schon die halbe Straße zusammen, als eine Frau exmittiert werden sollte. Die sonst so stille Straße glich einem Pulverfaß. Es hätte nur des be­rüchtigten Funkens bedurft; aber schließlich verlief sich die Menge. Der Gerichtsvollzieher war diesmal nicht gekommen. Dennoch weisen die Zeichen der Zeit. meiter auf Sturm. Rechtschaffene Menschen, vom reißenden Maistrom der Krise verschlungen, müssen ins Asyl. Da kommen, um dies zu hindern, die Nachbarn ge­laufen und stellen sich mit verschränkten Armen vor des Bedrohten Tür. Daß sie sich keine Hose mehr kaufen können, ertragen sie bereits zwei Jahre, daß sie kein Fleisch mehr essen, ist ein Jahr her; aber jetzt noch das Letzte den Armen nehmen, das Dach über dem Kopf, das ist ihnen zuviel.

Der tote Ring. Wohlfahrtsämter, Volksküchen,

Stempelstellen, Rentenzahl schalter, das sind längst bekannte Stätten deutscher Not. Aber man fehe sich einmal an, was vom Arbeiterfrühverkehr auf der Ringbahn noch übriggeblieben ist. Da läuft ein Zug auf Bahnhof Gesund brunnen ein, morgens furz vor halb fieben Uhr. Sein Ziel ist Weißensee, und in dem ganzen Zug fizzen 21 Personen. In dem langen Zug. Was farrten diese Züge vor drei Jahren noch für Massen in die Werkzentren der Reichshauptstadt, einer hodte auf dem anderen, und auf Gesundbrunnen paßte feine Maus mehr in

den Zug. Heute fönnte sich jeder Fahrgast auf einer Bank schlafen legen. Vor drei Jahren war es schon in Birkenwerder   unmöglich, noch einen Sitzplatz für die allmorgendliche Fahrt nach Berlin   zu erhalten, und bis Berlin   waren es noch dreiviertel Stunden Fahrt. Etwas vor halb sieben Uhr müssen die Siemensarbeiter vom Bahnhof Wedding   fahren, um vor dem Klingeln an ihrem Arbeits­platz zu sein. Das waren damals immer Bölkerwanderungen auf

der Ringbahn, heute ist der Zug in Beusselstraße leer und nach Jungfernheide fahren drei Männer weiter. Der Berliner   Stadt­und Ringbahnverkehr ist zu einem argen Defizitposten im Haushalt der Reichsbahn geworden. Der Arbeiterfrühverkehr war gewisser­maßen der große Herausreißer, aber jetzt mit den 40prozentig be­sezten Zügen sind nicht einmal die Unkosten zu decken. Da sind die Einschränkungsmöglichkeiten auf der S- Bahn, wie die Berliner   Di­rettion fagt, sehr gering: wenn 50 Proz. aller Siemensarbeiter erwerbslos sind, dann könne man deswegen nicht etwa auch den Verkehr nach Siemensstadt   oder Fürstenbrunn gleich um 50 Proz. einschränken. Und so sehr man seinerzeit im Spizenverkehr die Züge ausnutzen konnte, so sehr müßte auch die Reichsbahn jetzt geduldig Der leere Markt.

ihr Schicksal ertragen.

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vier Bund einen Groschen, und bei der Käsefrau Quarkkäse für| nossenschaftsanteil, den er beim Einzug in die Wohnung 35 Pf. ein Pfund. Das Rennen machen die Radieschen, weil sie am billigsten sind; Wurst und Käse sind weit geschlagen. Hinten, am Ende des Marktes, balgen sich die Kohlrabifrauen, von denen die eine der anderen am liebsten in die Schuhe schieben möchte, sie ver­| taufe Rieselfelderkohlrabi. Sie beteuern aber jede von sich, frisch geschnittenen Gartenkohlrabi zu verkaufen. Deswegen werden in ven Portemonnaies der Frauen die Pfennige aber auch nicht zu Groschen.

Der faum unterbrochene Sang des Leinölmannes, der auf den Mietkasernenhöfen seine Ware ausruft, wird bing und bänger. Wissen Sie meint er wenn ich mir jetzt eine faure Gurte für meine fahlen Stullen hole und ein Glas Bier zum Früh­stüd kaufe, dann ist der ganze Verdienst meg. Es ist jetzt zu schlecht mit meinem Leinöl; die alten Kartoffeln fann man als Bellfartoffeln nicht mehr nehmen, die riechen aus dem Topf. Neue Kartoffeln fönnen sich meine armen Kunden nicht leisten, und wer sich neue Kartoffeln leisten kann, der verzichtet großmütig auf Leinöl. Man wird mal hier und mal da ein zehntel Liter los, aber wer soll denn davon existieren!" Meint der Leinölmann von sich, nicht daß die Arbeitslosen von seinem Leinöl existieren sollten.

Die Wochenmärkte sind so leer wie die Ringbahn am Morgen. Der Heringsmann schreit sich den Hals aus, daß seine Matjesheringe gar nicht salzig wären, milder als Wurst seien und dennoch nur einen Groschen fosten. 3weie mitnehmen, junge Frau?" Und was ant­wortet die Frau: ,, Nee, nur einen, laut Notverordnung friegt bei uns jeder nur noch einen halben Hering." So muß der letzte Groschen festgehalten werden. Margarine toftet pro Pfund 35 Pf. Um diese Margarine loszuwerden, müssen die Händler die tollsten Sachen aufstellen. Einer hat sich einen Hahn, einen lebendigen Hahn mitgebracht. Das Vieh sigt nun zum Gaudium der Marktbesucher die ganzen Marktstunden über auf dem Rand einer Eierkiste. Als Brotbelag liegen in schwerster Konkurrenz: bei der Wurstfrau Tee­wurst für 24 Pf. das Viertelpfund, bei der Gemüsefrau Radieschen,

Shylocks an der Arbeit.

Was die Arbeitslosen sagen? Teils dies, teils jenes. Am traurigsten ist es um die Leute so in den Zwanzigern bestellt. Dauert diese Krise noch lange an, dann hat Deutschland   seinen in der Welt berühmten Facharbeiterstamm verloren. Ein Dreißigjähriger sagt:

Sieh mal, Radfahren verlernt man nicht, das Gleichgewicht behält man für immer und das Nach- vorn- Treten auch. Nur wer fünf Jahre nicht fährt, verliert die Uebung. Er wird höllisch schwitzen, wenn er dann plötzlich vom Potsdamer zum Alexanderplatz   fahren sollte. Genau so geht es den Werkzeugmachern, den Feinmechanikern, überhaupt allen qualifizierten Facharbeitern. Wir Dreißigjährigen, die wir jetzt auch schon lange genug ohne Arbeit sind, wir hatten wenigstens noch zehn Jahre Betriebspraris, wir hoffen, wenn wir wieder einmal Arbeit erhalten, in einigen Wochen wieder technisch auf der Höhe zu sein. Aber die Jungen, die Zwanzigjährigen, was wird aus denen? Die tamen aus der Lehre, um sich eine Stempel­farte zu holen, jetzt fihen sie schon jahrelang auf dem Nachweis und verkommen. Es wird gesagt, jenes ,, Made in Germany  " auf unseren Waren hat auch den deutschen   Facharbeiter in der Welt berühmt ge­macht, aber wenn die großen Herren weiter so mit unserer Arbeits­kraft wirtschaften, sie verdorren und verkommen lassen, dann wird ihnen das eines Tages böse aufstoßen. Denn ohne die Ausbeutung der Arbeit kein Profit!"

Es scheint moderne Inquisitoren zu geben, die nur darauf aus find, das Volk zu peinigen. Da erzählt ein arbeitsloser Familienvater auf dem Nachweis folgendes: Vor einem Jahre wurde er ermittiert. Unter Zurüdlaffung einer Mietschuld von 210 Mart. Sein Ge

bezahlen mußte, betrug aber 270 Mart. Man sollte nun annehmen, daß die Schuld gegen das Guthaben aufgerechnet wird, wobei sich immer noch ein Plus von 60 Mart zugunsten des Arbeitslosen ergeben würde. Aber das machen doch diese Shylocks nicht. Die verschanzen sich hinter einem Kündigungstermin, den dieser Genossenschaftsanteil hat, und tausend anderen Para­graphen, und nun hätte man hören müssen, wie der Arbeitslose das erzählte: Als der Gerichtsvollzieher kam, ihm, dem Hungernden, die 210- Mark- Forderung präsentierte und ihm die legten Möbel meg. holen wollte. Da stand auch eine junge, etwa zwanzigjährige Arbeiterin. Ihr Bruder ist arbeitslos und erhält 7 Mart. Bei der­art ,, hohen" Einkommen gibt es ja un feinen Hauszinssteuererlaß mehr. Zu dem Mädchen aber sagt das Wohlfahrtsamt: Es tut bewilligen. Sie müssen alle aus einem Topf essen und sich zu helfen uns sehr leid, aber wir fönnen Ihnen nur 3 Mark für die Woche suchen. Das Mädchen möchte so gerne, nein, sie braucht dringend ein Paar Strümpfe. Aber alles Geld geht für Miete und Essen drauf. und da wirft das Mädchen in das Gespräch einer Gruppe von männern ein, die mit einem Nazi diskutieren: Wenn sie euch die Unterstützungen auf die Wohlfahrtssäge erniedrigt haben, wenn alle

Arbeitslosen in Klogpantinen oder überhaupt barfuß gehen müssen, dann werden auch noch die Naziproleten einsehen, daß sie ihre eigenen Metzger gewählt haben!"

Arm und alt...

Aber das schwerste Leid tragen doch wohl die armen alten Invaliden der Arbeit und deren Witwen. Etwas über 30 Mark haben sie durchschnittlich im Monat zum Verzehr, und zitternd nehmen diefe Alten die Zeitungen in die Hand und lesen: 7 Mark sollen den Invaliden, 5 Mark den Witwer und 4 Mart den Waisen von diesen menigen Groschen noch genommen werden. Man wird abwarten müssen, wie weit die Barone gehen. Aber die Fronten für den kommenden Reichstagswahlkampf sind bereits flar abge­zeichnet. Es geht um das letzte Stück Brot aller Enterbten und Er­niedrigten!

Zugunglück in Westfalen  

Eine Frau getötet, zahlreiche Schwer- und Leichtverletzte

Düsseldorf  , 11. Juni. Die Pressestelle der Reichsbahndirektion Wuppertal  teilt mit: Am Sonnabendnachmittag um 17 Uhr 10 Mi­nuten entgleiste auf der Strecke Unna  - Bönen   an der Blockstelle Mülhausen der Personenzug 357, der die Strecke Hagen- Hamm befuhr, aus bisher unbe­fannter Ursache mit sämtlichen Wagen. Während alle Wagen umstürzten und die Böschung hin unterfielen, blieb die Lokomotive auf den Gleisen stehen. Die Strecke Unna  - Bönen   wurde in beiden Rich

tungen gesperrt. Eine Frau Holtkötter aus Holz­ wickede   wurde getötet. 8 bis 10 Personen wur­den schwer und etwa 10 leicht verlegt. Die Ver­lekten wurden den Krankenhäusern in Unna   und Hamm  zugeführt.

Nach einer späteren Meldung hat sich die Zahl der bei dem Ab­sturz der Wagen leicht verletzten Personen auf 36 erhöht. Die Zahl der Schwerverletzten soll glücklicherweise nur vier betragen. Rettungszüge brachten sofort nach Bekanntwerden ärztliche Hilfe an Ort und Stelle.

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