Vi ir setzen heute Dabits Sdiildernngen aus seiner Jugend fort. Wir zogen nach Montmartre , nach den Grandes-Carrieres. Lehewohl Portiersioge! Wir wohnten im fünften Stockwerk und schauten von unseren Fenstern auf einen schönen Horizont. Das war viele Jahre mein„Land". Und zugleich lernte ich mein neues Viertel kennen. Ich sah fast alle Straften: eng, gewunden wie bläuliche Adern, durch die das Leben pulsiert. Ich sah die Häuser mit ihren Dächern aus Zink oder Ziegeln und ihren Schornsteinen, die un- zähligen Mastdäumen glichen. Ich sah die Fabriken und Werkstätten, deren Glasfenster im Sommer funkelten. An der Grenze von Paris erstreckte sich die„Zone" mit den schmutzigen, zu-sammengestückten Baracken der Lumpensammler. Jenseits fing Saint-Quen an mit seinen hohen, von schwärzlichen Rauchwolken gekrönten Schorn- steinen, die bedrückender waren als echtes Gewölk. Dann Saint Denis. Dann ein Horizont von Hügeln, zu deren Füßen ich, nach Kennevilliers und Argenteuil hin, den Spiegel der Seme zu sehen glaubte. Dort lag jenes„Pariser Bossin", von dem man mir in der Schule erzählte. Meine Schule konnte ich hinter einer Reihe schöner Kastanienbäume sehen mit ihren weißen, von großen Fenstern durchbräche- nen Mauern und ihrem Dach aus Zink. Sie lag an der Kreuzung der Championnet- und der Poteaustroß«. Wenn ich hinging, sagte Mama zu mir:„Du weißt, ich kann vom Fenster aus sehen, ob du artig bist." Ich war artig. Ich aß in der Kantine, blieb bis sechs Uhr im Heim und kam dann endlich wieder auf die Straße. Am Donnerstag, unserm freien Nachmittag, bummelte ich auf den Festungswckllen heftttn. Ich blieb vor einem Zigeunerlager stehen. Die Tür des Wohnwagens stand offen, und ich bemerkte in dem fremdartigen Jrmenraum Kinder, die sich balgten, keifende Frauen mit glänzendschwarzen Haaren, Männer, die geschickt Weidenruten bogen und daraus Tische und Stühle anfertigten— ich wurde nicht müde, ihnen zuzuschauen. Ein wenig abseits knab- berte ein ausgemergelter Gaul das Gras ab. Dieses Schauspiel führte mich in eine freie Wunderwelt ein. Im Galopp lief ich weiter. Vor mir ein Labyrinth von Gräben, Bastionen, Wällen. Mit zerlumpten Kameraden tollte und tobte ich herum. Oder ich lag neben Männern, die, auf dem Kopf eine Mütze und an den Füßen Scgeltuchschuhe, sich an den Sommertagen von der Sonne rösten ließen. Oben, von den Wällen aus, gewahrte man das Tor von Clignaneourt, wo damals Kasernen gebaut wurden, und die Baracken des Flohmarktes, der Sonnabend, Sonntag und Montag geöffnet war. Der Wind brachte einen guten Fettgeruch herüber, aber manchmal auch den Geruch eines-im Gras« verwesen- den Tierleichnams. Ziemlich selten knirschten die Räder einer Tram- bahn auf, die nach den Vororten fuhr. Oder ein Leichenzug näherte sich vom Boulevard Ney, um den Friedhos von Saint-Qucn zu erreichen. Der Sarg hüpfte auf dem holprigen Pflaster, und Männer und Frauen folgten ihm wie eine in Verwirrung geratene Herde. Auf den verlassenen Festungswällen spielten wir Räuber, Gendarm und Einbrecher oder Wilddieb. Ein Kötl,«in dunkles Individuum, zog öfters«in eingekerbtes Messer aus seiner Tasche. Er zeigte uns ein Spiel, bei dem es sich darum handelte, die Klinge senkrecht in den Baden zu stoßen. Iii« gelang das fast nie, aber e r verstand sich wunderbar darauf, er konnte auch sein Messer wie «inen Pfeil in ein Brett schleudern. Er erzählte uns seltsame Ge- schichten mit Worten, die ich schlecht verstand. Aber ein Mädchen, das schallend darüber lachte, fiel ihm entzückt um den Hals. Ich hatte Beziehungen zu den Bewohnern der„Zone". Einige nahmen mich in ihrer Bretterhütte auf und ließen mich durch die Gänge ihres Gartens laufen oder zwischen den Porre- und Salat- besten herumspazieren so viel ich wollte. Ich betrachtete die Vergiß- meinnicht- und Asterneinfassungen, die ich nur aus den Blumen- lüden kannte. lind gegen Abend durfte ich den Garten sprengen. Der Brunnen war weit entfernt, in der Nähe des Ausfalltores von Poteau. Unermüdlich ging ich wohl zehnmal hin und her. Zur Bs- lohnung für meine Mühe gab man mir saure Stachelbeeren. Was für Tage! Ich kam mit roten Backen, die Haare voller Gräser nach Hause. Vor meinen Blicken schwebte noch das Bild eines Obstbaumes oder eines Gemüsegartens, denn Thymian, Peter- silie, Kerbel waren für mich fremdartige, beinähe exotisch« Gewächse. Ich spürte noch nachträglich einen starken, reinen Wind— fast einen Seewind um mein Viesicht wehen. Die Straßen waren nun weniger eng, die Häuser weniger hoch. Jenseits des Gürtels aus Eisen und Stein gab es ja einen freien Himmel, blühende Bäume und Felder, große Wolkengebilde und wirklich« Stürme— und endlich das Meer, auf dem ich„zu meinem Vergnügen" einst fahren würde. Aber ich fuhr niemals und hielt mich an meinem Viertel schab- los. Ich lenkte mein« Schritte gen Süden: die Butte Mont-Martre. Entweder nahm ich, um dahin zu gelangen, die Ruisseaustraße oder ich ging durch die Mont-Cenisstraße oder die Saulesstraße. Ich stieg hohe Treppen hinauf, in deren Mitte sich ein eisernes Geländer hin- zog. Ich setzte mich hin, ließ mich hinuntergleiten und stieg von neuem empor, ohne Atempause. Die Butte war damals noch nicht der Sitz einer„Freien Gemeinde" im Operettenstil, auch keine Attraktion für die fremden Touristen. Sie war ein dürftiger Winkel mit provinziellen Allüren, kleinen, fast einsamen Plätzen und einer dörflichen Kirche mit Mdrungenem Glockenturm. Blieb man vor Sacre-Coeur und der Statue des Ritters de la Barre stehen, der zum Tode verurteilt wurde, weil er eine Prozession nicht gegrüßt hatte, so hatte man einen freien Horizont. Die Kirch« Sacre-Coeur war noch nicht vollendet. Man konnte sich auf einem riesigen Bauplatz herumtummeln, Gerüste erklettern und so, hoch oben, Paris besser mit dem Blick erfassen. Eine ebenso unerreichbare und fern« Welt für mich wie das Meer... Mit den Rauchwolken zusammen stieg ein wirrer Lärm«mpor, Tön«, die mich bedrückten. Ich sah den Eifseltttrm, das Große Rad, den Dom der Invaliden, Notre-Dame -Biertel, die meinem Viertel fremd waren, und von denen meine Eltern mir kaum etwas erzählten, oder.doch nur wie von einer bürgerlichen, von der unsrigen ver- jchiedenen Welt, wohin mein Vater sich jeden Morgen begab, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Im Geiste sah ich trennende Grenzen, die zu übersteigen es mich damals durchaus nicht gelüstete. Ruhig kehrte ich Paris den Rücken und schlenderte dem Tertre- platz oder dem Iean-Baptiste-Clementplatz zu. Dort pflanzte ich mich hinter irgend einem Maler auf. Sie waren zu jener Zeit nicht sehr zahlreich und legten Wert aus ein romantisches Aussehen. Oft malten sie vor der Mühle de la Galette. Einer von ihnen hielt mir eines Tages, während er seine Palette abkratzte, einen Geschichtsvortrag: die Belagerung der Butte im Jahre 1813, dann im Jahre 1871 die Kommune und die Schießereien. Er erzählte mir auch vom Dorfe Montmartre , wo es drei Windmühlen gab. Aber das Stillstehen wurde mir bald unerträglich. Ich zog wieder los, rollte die Abhänge herunter, glitt die Geländer entlang. Es gab hier brachliegendes Terrain, Hügel aus morastiger Erde und Sandhllgel, verödete Steinbrüche, Schlammlöcher, Haufen von Abfällen, oerdächnge Gassen wie. zum Beispiel die Passage Saint-Vincent , kurz:«in« freie, er- stauntiche, chaotische Welt. In der Näh« des Constaittiu-Pecqueup»
Platzes gab es sogar ein richtiges„Buschwerk" mit Baracken, Tan- nen, verwilderten Gärten, wo Arbeiter und Outcasts lebten. Dieses Montmartre erschien mir verführerisch Die Straßen waren inange.haft gerichtet und mangelhaft gepflastert, aber in den Gossen ließ das Wasser ein erquickendes Glucksen hören. An alten Mauern sproß Gras hervor, und hinter einer Tür, die ich keck auf- stieß, erblickte ich einen ruhigen Garten, dessen Alleen mit Buchs- bäum eingefaßt waren, der Laubengänge hatte und Stachelbeer sträucher, die von blühenden Akazienbäumen beschattet wurden. Ich vergaß die Menschen. Es schien mir, Paris vergesse sie auch. Auf l diesem Hügel war man in einem Himmel verloren.... Immerhin: man mußte wieder niedersteigen. Ich bog in eine von Bretterbuden einxesäuime Straße ein, wo Ansichtskarten und Heiligenkrimskrams verkauft wurden und gelangt« auf einen Plag. wo ich zögernd Halt machte. Manchmal war ich reich genug, um die Drahtseilbahn zu benutzen, die wie ein zusammengekauertes, vor- sichtiges Riesentier d«n Hügel heruntertapste. Oder ich wagte mich auf den Saittt-Pierreplatz. Eine spiralförmige Treppe mit einem kunstlosen Geländer führte zu einer Art Grotte, in der alle Gassen- buken noch Herzenslust im Chore brüllten. Dann kam ich auf den Place des Abbesses. und auch das war noch ein wenig die Provinz. Nun bog ich in die Lepicftraße ein. die voll von Obstkarren war, und schließlich landete ich auf dem Blancheplatz, unruhig, als wäre ich an der Grenze eines neuen Landes. Eine Mühle war dort, aber es war Moulin-Rouge , ein Platz, aber voller Wagenverkehr. Die Männer, und vor ollem die Frauen, die ich dort sah, hotten eine andere Haltung als jene in meinem Viertel. Alle waren gekleidet wie die Figuren in den Kata- logen, die mir die Portierfrau gab, wenn sie guter Laune war. Mit meiner Mütze, meiner schwarzen Alpakaschürze, meinen Holzpantinen, die auf dem Trottoir klapperten, war mir gar nicht wohl zumute und mir schien, die Polizisten beobachteten mich. Ich strich an den Wänden entlang, verlor jedoch nichts von den Vorgängen auf dem Boulevard. Er war breit, geräuschvoll, nahm das Leben auf wie ein großer Strom das Wasser seiner Zuflüsse aufnimmt. Er floß in der Richtung nach dem Elichyplatz, wo Omnibusse, Droschken und riechende Autos in ständiger Bewegung waren. Ich kam am Hyppo- drom vorbei. Während der Ausstellung von 1900 hatte ich dort, glaube ich, einem Wagenrennen beigewohnt. Jetzt drehte man hier Filme, und ich, nur gewohnt, am Donnerstag in einem Bums- Kintopp Kitsch zu sehen, wünschte, ich könnte an einem Sonntag mit meinen Eltern diesen riesigen Saal besuchen. Nun war ich auf der Caulaincourtbrücke. Ich betrachtet« di« Grabmonumente des Nordfriodhoses. Jedesmal blieb ich hier stehen, um da unten die Bronzestawe eines Mannes zu betrachten, dessen nackter Körper mit einem Schleier verhüllt war. Später erfuhr ich, daß dies das Grob des General Cavaignac und die Statue das Werk Rüdes war. Di« Unbeweglichkeit, die ruhige Festigkeit dieses Gesichts fesselt« meinen Blick wie das Bild des Todes, das. in jenen Zeiten nachts mich verfolgte. Ich hiell mich am Brückengeländer fest, ohne das brandende Leben um mich her wahrzunehmen. End- lich löste ich mich von diesem Schauspiel los und fand mich zurück in eine trübe Straße, die mich wie ein Strom bis in mein Viertel hinein mit sich führte. Dort wurde ich wieder fröhlich. Ich kannte di« kleiirsten Gassen, düster«, glitschige Possagen wie zum Beispiel die Sackgasse der „Große Bouteille". Ueberall hatte ich Freunde und Feinde, mit denen ich spielte oder mich herumschlug. Ich kam auf den Boulevard Beliard, da, wo die Stadtbahn gerade den Tunnel verläßt. Ich wartete bis ein Zug erschien, be- warf ihn mit Steinen und entfloh. Diese Stelle war ein Treffpunkt, von wo wir unter der Führung eines Kerls, der uns alle befehligte, hordenweise aufs Land zogen. Wir liefen hinter der Trambahn
Trinitä— Lac-d'Enghien her, brachten es fertig, Hinte » heraufz»» klettern, sprangen kurz vor dem Bürgermeisteramt von Saint-Queen wieder ob und marschierten durch die Rosiersstraße, die nach der Seine siihrte. Am Ufer des Flusses, auf einer Insel, wo sich ein« Kneipe und die Baracke des Vaters Mahnt befanden, fischten wir winzige Fische, die wir in eine Blechbüchse warfen und abends triumphierend nach Paris brachten. Ganz in meiner Nähe, Jules-Joffrinplatz, erhob sich das Bürger» meisteramt, ein großes Gebäude mit wirren Linien und vielen Ver- zierungen, ähnlich den Bauwerken aus Schmalz, die die Flesscher mitunter in ihren Schaufenstern ausstellen. Die Kirche Notre-Dam« von Clignancourr war geradeüber, herb und kahl mit ihrem Glocken- türm, der sich in einem rauchigen Himmel verlor, und mit ihrem kümmerlichen Garten, den ein Zaun aus lanzenförmigen Eisen- stöben beschützte. Dort war in Wahrheit das Herz der vier Viertel, aus denen das Arrondisfement bestand. Man hörte es schlagen. Sonnabends folgte Landauer au? Landauer, große, blumengeschmückte, offene Wagen. Fröhliche, sonntäglich geputzte Hochzeitsgäste stiegen aus, eine Braut ganz in Weiß mit ihrem Schleier und ihrem Kleid mit langer Schleppe. An anderen Tagen— fast jeden Tag— hielten Leichenwagen vor der Kirche, deren Tor abwechselnd mit Draperien behangen oder kahl wie die eines Krankenhauses war. Armenleichen- wagen oder andere, mit Federschmuck und silbernem Wappen deko- rierte, machten hier Rast. Kränze und Blumensträuße schmückten den Bürgersteig. Gruppen in Schwarz füllten den Platz, und eine alte Frau ging von einem zum anderen— gebeugt, hüpfend. Das war„Poupoule", ein Weiblein, das dort lebte und von morgens bis abends mit chinesischer Tusche Postkarten zeichnet«, die es ebensowohl den Hochzeits- wie den Trauergesellschaften anbot. Die Wahlperiode rückte heran. Seit mehreren Wochen ver- unzierten große bunte Plakate die Mauern. Auf dem Heimweg von der Schul« zerrissen wir die Ankündigungen der Kandidaten, die unsere Eltern nicht guthießen. Mein Vater ging fast jeden Abend Tonton besuchen, der sich in einem Kaffeehause in der Lewrtstraße aufhielt. Einmal nahm er mich mit, und ich hörte die Namen Jaures , Baillant, Sembat. In eine dichte Rauchwolke gehüllt, stritt man an allen Tischen herum, und Faüstschläg« ließen die Untertasten erzittern. Der große Abend kam— noch Stunden, die die vier Viertel in eine ebenso heftige Aufregung oersetzt hatten wie der Tag des Nationalfestes. Auf dem Jules-Joffrin-Platz fand ich Tonton, der, von seinen Freunden umgeben, wild gestikulierte. Mein Vater war auch dabei, und noch etwa hundert Männer, die ihm glichen, und Frauen, die ein denrütiges Gesicht hatten wie meine Mutter. Alle trampelten, stritten für und gegen und waren in höchster Ungeduld. Inbrünstig schauten sie auf einen Leuchtstreifen, der hoch, oberhalb des Bürgermessteramts, angebracht war. Die Gesichter waren froh und hoffnungsvoll. Endlich liefen Namen und Zahlen über dos Transparent, schienen sich loszulösen und plötzlich wie Stein« aur die Menge herabzufallen. Schreie, Flüche, Pfiff« ertönten und, sellener, Beifallsklatschen. Es gab Zusammenstöße und Gegenstöße, der Welle ähnlich, die aus der Tief« heroorbrandet, um alles weg- zuspülen, die aber plötzlich ihre Kraft verliert und sich an Mauern bricht. Tonton ballte die Fäuste, murmelte Drohungen, redete von ,ch weiß nicht welchem Verrat. Das Bürgermeisteramt war wieder ein düsteres, offizielles Gebäude geworden, in das wir diesmal noch nicht unseren Einzug hatten sollten. Enttäuscht verlief sich die Menge langsam, Polizei zerstreut« sie, drängte sie nach ihrem Viertel zurück, wo jeder sein Haus und sein tägliches Leben wiederfand. Ich sah die Gesichter noch düsterer werden, sah Männer, die eine Stunde vorher noch die Arme gereckt hatten, kraftlos ihre Füße schleppen.„Das nächste Mal", sagte Tonton, die Faust gegen das Bürgermeisteraint erhoben, wo ein« farblose Fahne wehte. Aber niemand hörte mehr auf ihn: es war spät, am nächsten Tage mußte man arbeiten. „Das nächste Mal.. Dort, auf jenen festungsstarken Mauern sah ich, an einem Sommertage, im Jahre 1911, weiße Plakate, di« di« Generalmobilmachung verkündeten...(Schluß folgt.)
Manstraum: Mfchicd K
Schlag eine Minute nach Mitternacht: die romantische Abfahrts- stunde der großen Ozeandampfer aus ihren Docks längs der West- seit« Manhattans. „Fahrtklar!" brummt ungeduldig von der Kommandobrücke das dritte und letzte Signal, dumpf mahnend, schicksalsschwer. Soeben noch war es wie ein Fest an Bord. Auf einmal sind wir unser nur noch wenige, und trotz der Zurufe der Zurückbleibenden ist es sehr still um uns. Hunderte winken herüber von der grell erleuchteten Landungs- bahn. Blechern setzt die Schifsskapelle ein. Ein Fröhlichkeit vor- täuschender Marsch, der noch nie der Stimmung Abschiednehmender entsprochen hat. Schon hat sich das Schiff unmerklich leise in Bewegung gesetzt. Auf beiden Seiten nimmt die Erregung zu. Eine Minute lang herrscht ausgelassene Zirkusstimmung. Der blecherne Marsch paßt ganz gut. Lauter schallen die Zurufe, wilder schwenken Tücher und Hüte. Es werden immer mehr. Die Tücher verwandeln sich in immer bunteres Konfetti. Sind das alle Zauberkünstler da drüben? Grün, blau, rot. gelb kreist es in immer größeren Peripherien. Schon glaubt man, das Schiff fährt wieder zurück, so leibhaftig groß werden noch einmal die winkenden Menschen. Da verschiebt sich die Landungsbahn schräg nach links wie eine Drehbühne. — das Ganze gleicht jetzt einer Opernszene mit viel zu vielen Statisten, — im selben Augenblick schrumpfen die wild wirbelnden Kreise zu kleinen grünen, blauen, roten und gelben Bällen zusammen, die auf der plötzlich leer gewordenen Bühne elastisch auf- und ab- springen. Die Gesichter sind wie aus einer vielfarbigen Palette verwischt. Aus deinem Liebsten auf dieser Welt ist plötzlich ein winziges rosanes Etwas geworden. Du siehst noch, wie es aus der Ferne auf der erregten Flut seines ungestümen Herzchens bebt. Du kannst ihm nicht mehr zu Hilfe kommen. Du kannst sie nicht mehr auf- fangen, diese winzige, zarte Rosenknospe des Abschieds, die dieses Herz dir stürmisch nachwirft. Da erlischt strichweise die zurück- weichende, nachtumrahmte Bühne: die Kettentür der Landungsbahn hat sich als eiserner Vorhang vorgeschoben. Zugleich verlöschen die zitternden Wellenlichter um den Schiffs- rümpf. Eine Brise vom steien Hafen kräuselt die Wogen des North River. Die Elemente nehmen uns auf. Man fühlt: für einen jeden von uns hier an Bord ist irgendwie ein Kapitel zu Ende. Aus... Schluß... In der ersten Finsternis des neuen Lebens schweigen wir uns an. Nur die Mannschaft wird von Minute zu Minute sachlicher. Knappe Befehle der Ladungsofsiziere, leicht militärisch, wohltuend deutsch . Ich gehe auf das oberste Deck hinauf. An der Reeling steht schluchzend ein blutjunges, blondes Mädchen, das totbleiche Antlitz nach Manhattan zurückgewandt. Weiter am Heck beginnt ein strotzender Herr von etwa sechzig erfolgreichen Jahren gewaltig auf und ab zu marschieren. Er ist offenbar besorgt, daß er gleich in der ersten Nacht an Bord träumlos schläft. Zweifellos hat er
sein Kapitel- glänzend abgeschlossen, und schon marschiert er sieg» Haft ins nächste hinein. Die vom Meere her anschwellende Flut bewegt den schwarzen Fluß. Der blecherne Marsch ist längst verstummt. Die dunkle Streichmusik der Elemente umrauscht uns. Die Sinfonie des Ab- schiede wird leise, nur wenigen hörbar, von den verborgenen Instru- menten der Nacht angestimmt. Die leeren, düster ragenden Geschäftsburgen Manhattans schieben sich kulissenhaft vorüber: Riesentrümmer nach einem noch schwelenden Wettbrande. Ueber der weichin sichtbaren Uhr des Para- mount Building durchzuckt das millionenkerzig plakatierte Nacht- leben New Ports den schmutzig dampfenden Broadway-Himmel. Jetzt passieren wir West Twelfth Street, wo wir uns vor genau einer Stunde im venezianischen Saal Walter Langdon McDermotts, emes der geistreichsten Schöngeister der Stadt, vom Abschiedsmahl erhoben. Vergeblich suchen meine Augen den kristallschimmernden, mit Tulpen und Märzbechern geschmückten Saal. Durch das Dunkel rufe ich den sestlichsn Freunden einen letzten Gruß zu. Da strahlt im Süden aus den mitternächtlich vermummten Steinmassen das Bell-Telephone-Building auf, eine licht- und ström- durchflutete moderne Pyramide. Tausende von elektrischen Lampen blitzen auf, Fahrstühle klettern wie auf eine Linie dressierte Leucht- käfer die dreißig Stockwerke auf und ob. Der Fluß weitet sich jetzt zum Hasen. Kleine Inseln schaukeln auf unruhigen Wogen. Scharfe Windstöße fegen über das Prome- nadendeck und treiben die letzten Passagiere in ihre Kabinen hinunter. Auch der sechzigjährige Herr poltert wuchtig nach unten zu gesundem Schlaf und immer gesünderem Erwachen. Er wird uns alle überleben. Selbst das blutjunge schluchzende Mädchen. Da gleitet aus der Luvseite, vor New Jersey , mit mahnend erhobener, längst ausgebrannter Fackel die Freiheitsstatue vor- über, ein graues, gigantisches Nachtgespenst im weit wallenden Faltenkleid, versteinertes Phantom eines nicht mehr glühenden Geistes, monumentales Reklamemannequin für einen längst ab- handen gekommenen Nationalartikel. Doch die Dame hat sich ent- schieden in mancher Hinsicht gelohnt, besonders auch für Frankreich . welches dem jungen Volke mit sicherem politsschen Instinkt sein eigenes Phrasengenie auf einige Jahrhunderte mit auf den Weg gab. Doch, bitte, nur jetzt keine Politik hier in nächtlicher Einsam- keit, allein mit den Elementen zur heiligen Stunde des Anbruchs des Meeres. Um frei hinauszublicken auf die hohe See, deren Pulsschlag bereits stark an unser Schiff dröhnt, gehe ich noch einmal hinauf auf das oberste Deck Doch ich bin nicht allein. Da steht noch immer, in sich gebeugt, das blonde Mädchen, das totbleiche Antlitz nach Manhattan zurückgewandt. Sie hat mich nicht bemerkt. Leise geh« ich bugwärts und atme tief den vom Meere wehenden Nachtwind. Aus dunkler Ferne dort vor mir, hinter den kommenden neun Nächten, überströmt mich nach langer Zell zum ersten Mal« wieder das ewige Wunder der Heimat: Deutschland .