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Ein Leben in Armut

Erinnerungen aus dem alten Paris  / Von Eugène Dabit  

( Schluß.)

Der Krieg hat eine ganze Welt verschlungen. Zum legtenmal habe ich mich nach ihr umgewendet, habe ich ihre Asche aufgerührt. Ich habe ein paar Bilder aus der Vergangenheit gefunden, undeut lich und verwischt wie die Photographien meiner Großeltern. Aver ich neige mich nicht weinend über sie und auch nicht träumend. Meine Zärtlichkeit für ein beinahe schon verschwundenes Land ist noch wach. In der Entfernung will es uns scheinen, das Leben sei dort leichter gewesen als heute, die Not meniger unvermeidlich, der Haß meniger heftig. Ich habe mich meiner Spaziergänge erinnert, meiner ersten Freunde, lieber Gewohnheiten, und der Saz, den meine Mutter mitunter ausspricht, stieg mir auf die Lippen: Wie leicht doch damals alles war!" Run: nein!! Es war nicht leicht. Die Bergiftung war nur langsamer und machte empfindungslos. Ich bedauere nichts von dieser Vergangenheit, ich habe sie ja ein bißchen lieb gehabt...

Heute sind die Festungswälle dem Erdboden gleichgemacht. Lange bemühten sich Menschen, das Werk anderer Menschen zu zer­stören. Sie machten die Böschungen eben, füllten die Gräben aus und beluden Lastwagen mit Schutt, bis der Boden ausgeglichen war. Dann zichneten sie die Grundlinien einer neuen Stadt. Zwischen dem Ausfalltor von Poteau nd dem Tor von Clignancourt recen sich jezt Häuser aus Ziegelsteinen in die Höhe ein riesiges trüb­feliges Viertel, das am Rande der Zone" endigt und seinen unge­heuren Schatten auf verfümmerte Bäume wirft, die ehemals den Wiederbeginn des Frühlings ankündigten.

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Daneben ist der Flohmarkt. Man findet dort nicht mehr jenes Durcheinander der früheren Tage, jene Auslagen unter freiem Himmel. Die Trödler sind in festen Baracken untergebracht, und vornehme Leute und Antiquitätenhändler beugen sich über den alten Kram. Die Avenue Michelet   hat sich nur wenig verändert mit ihren Kneipen, wo man in Del Gebackenes aller Art und Seemuscheln iẞt. Aber an den Tischen sizen bärtige, verschlossene Männer, schweigsam, unruhig, in abgetragenen Uniformen, Juden oder Fremde. Der Wind trägt das Rollen der Eisenbahnzüge herüber, die Töne einer Trompete. Und die Leichenwagen haben seit Jahren nicht aufge­hört, nach dem Friedhof von Saint- Quen zu pilgern, den jetzt jener

Friedhof der Lebenden begrenzt: die Fabrik.

Ich irre auf den Fußmegen umber, zwischen Zäunen und Bas raden. Immer noch hausen Leute dort, verhärmt, empört, und doch an diesem kotbedeckten Boden flebend, immer neue Elendsbuden errichtend, die an die Zeit im Felde erinnern.

lleberall die gleiche Entfremdung. Auf den unbebauten Flächen der Butte- Montmartre   und der Grandes- Carrières, auf denen ich zu spielen pflegte, erheben sich strenge, trostlose Mietstasernen, Fa­briken und Garagen. Der Boden ist hier Gold wert", man gibt nicht einen Zoll breit preis. Die Häuser stoßen aneinander, bilden eine Hecke, verstecken die Sonne. Im Frühling nur noch dus Laubwerf der Rastanienbäume und der Platanen, die auf den

Boulevards aufgereiht stehen und ihre Wurzeln zwischen elektrischen

und Gasanlagen in den Boden bohren. Nichts mehr von allem, das

von der Ewigkeit der Natur zeugt. Quecksilberlicht und Bogen­lampen tämpfen gegen die langen Winternächte an. Gerüche von Bech und Benzin, Ausdünstungen der Bars, Kneipen und Friseur läden verdrängen den leichten Hauch des Frühlings. Einzig der Bariser Sommer mit seiner niederdrückenden Hize weckt noch die Erinnerung an die Schwüle der Mittagsstunde in einer Ebene.

Einige Wegkreuzungen, Plätze, Boulevards, dann ein Netz von

Straßen, wo die Häuser so anonym sind wie Soldaten in ihrer von Staub und Schmutz bedeckten Uniform. Ich blicke zu Fenstern em­por, an denen Lumpen, Bogelbauer und, hinter trüben Scheiben, zerrissene Gardinen hängen. Ich gehe weiter, an den Mauern ent­lang. Schließlich gebe ich einer unbestimmten Regung nach, die mich treibt, entferntere Gaffen mit noch älteren Häusern aufzusuchen. Vor einem Fenster bleibe ich stehen. Ich sehe Blumentöpfe. Die Vorhänge schließen nicht dicht ab, ich blicke in das schlecht er­leuchtete Innere eines niedrigen Zimmers. In einer Ecke steht ein mit allerlei beladenes Büfett, durchgesessene Stühle stehen herum,

Gittern umzingelt, gefnebelt im Boden stecken wie in Blumentöpfen Gefangene auf Plätzen, die staubig sind wie Museen. Man be­trachtet die Landschaften auf den Plakaten der Eisenbahnlinien, und, an einem Frühlingssonntag zieht man los. Eingepfercht, wartet man auf den überfüllten Bahnhöfen. Herdenweise trottet man nach den Pseudodörfern und kehrt am Abend heim, beladen mit Zweigen, deren Saft überquillt.... Menschen, wie ich sie in meiner Kindheit gesehen habe, wie ich sie jetzt wieder sehe. Ich betrachte sie nicht mehr mit unschuldig neugierigem Gesicht, gehe nicht mehr hinter ihnen her, in der Hoffnung auf ein Abenteuer. Ich kenne ihre Krankheiten, ich teile ihren Haß und ihre Mühsal. An den Abenden der Wahlen kommen wir auf dem Jules- Joffrin- Plaz zusammen, immer zwischen demselben Bürgermeisteramt und derselben Kirche. Tonton fehlt, wird nie mehr da sein, um unter unseren Niederlagen zu leiden und sich über unsere vergeblichen Siege zu freuen, aber seine Söhne.... Männer. Abends sehe ich sie in dichten Reihen den Schlünden der Untergrundbahn entsteigen, dem Licht einer grünlichen, zuckenden Sonne entgegen. In den unterirdischen Gängen haben sie ihre Stadt durchkreuzt. Den ganzen Tag haben sie gearbeitet, und die Nacht führt sie, schwankend, trunken vom Lärm, zurück, verbirgt sie und stößt sie wieder in ihre Viertel hinein. Sie zerstreuen sich, biegen in

die Straßen ab oder fangen an, ihre Läden zu schließen, verschwin den in Hauseingängen mit schmuzigen dicken Wänden, Hotelforri­doren, Arbeiterhäusern....

Sie sind zu Hause. Im Geiste begebe ich mich wieder auf die­selbe Reise, die ich antrat, wenn mir meine Mutter auftrug, die Treppen unseres Hauses hinaufzusteigen. Hundert Stuben, deren Reichtümer, die den Verfall und den enttäuschten Ehrgeiz verheim­lichen sollen, mir bekannt sind, hundert Eßzimmer, deren färgliche Ausstattung aus den Möbelgeschäften des Boulevard Barbès ich wiedererkenne, hundert Räume, in denen es nichts gibt als armselige, abgenuzte, durch den täglichen Gebrauch beschmutzte, vom Leben geschändete Gegenstände. Und mitten drin Frauen und Männer, die sich am Abend wiederfinden, mit bleichen Lippen, denen das Lächeln fremd geworden, mit einer Stirn, die gedankenleer ist, mit müden Händen Menschen, die essen und nach beendigter Mahlzeit zur 3eitung greifen. Dann schlafen sie ein, verfinfen in einen dunklen Strom, der sie, auf den Umwegen eines trügerischen Vergnügens und des Alpdrucks, wieder den Ufern eines Tages zuführt, der den andern Tagen gleicht, und der ihre Mühe ausnutzt, um eine noch ungeheuerlichere Welt zu schaffen, die sie zermalmen wird...

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In einer Stadt, die sich umbildet, sich aufbläht, sich herausputzt, schleppt sich das jämmerliche Leben unverändert dahin eine Stadt voller Vergangenheit und Kunst, die zu gierig ist, zu beschwert mit einer leichtfertigen Freude und mit nichtigen Reichtümern. Ich neige mich über sie ohne Zärtlichkeit, um aus dem Lachen das Stöhnen herauszuhören, um einen Lichtschimmer in den dunklen Straßen aufleuchten zu sehen....

Ein Mann, der nicht zurück will

Eine Geschichte/ Von Else Möbus

Der Direktor faltete die Zeugnisse zusammen und reichte sie dem vor ihm Stehenden.

,, Es tut mir leid," sagte er. Daß Sie was fönnen, sagte mir der erste Blick in Ihr Gesicht. Ich habe einen Riecher für tüchtige Menschen. In normalen Verhältnissen hätte ich Sie so­fort hier behalten. Aber jetzt ist es unmöglich. Wir bauen noch mehr ab."

piere in die Brusttasche. Ich glaube, es wäre Zeit, eine nette Todesstrahlenmaschine für tüchtige Leute zu erfinden," sagte er bitter. Tüchtigkeit ist für einen Arbeitslosen heute ein über­flüssiges Privatvergnügen."

Mergent steckte mit einer mechanischen Bewegung seine Pa­

Na, na!" warf der Direktor begütigend ein, aber sein Be­sucher hatte schon das Büro verlassen.

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Seine

Bierzehn Monate Arbeitslosigkeit. Das hieß vierzehn Monate unablässiges Suchen, Bitten, Bewerben, vierzehn Monate Hoffen und Enttäuschtsein, Bedauern und Zurückgewiesenwerden. legte Stellung hatte er in Essen   gehabt. Nach seiner Entlassung hatte er in Düsseldorf  , Köln  , Mannheim  , Leipzig  , Bitterfeld   alle Werke, bei denen etwas Aussicht auf Arbeitsmöglichkeit vorhanden schien, aufgesucht und Hunderte von Bewerbungsschreiben versandt. 3weimal hatte man ihm begründete Hoffnung gemacht, aber immer Nun lief er seit einer Woche in Berlin   herum hatte ein neues Anziehen der Krise seine Einstellung verhindert. ohne Erfolg.

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stört mit einer zitternden Flüsterstimme. Die Köchin und das Stubenmädchen sind oben. Was gäbe das für einen Klatsch im Hause. Und wenn mein Mann heute mittag nach Hause käme und dich so sähe!" Sie rang die Hände.

Mergent sauste das Blut in den Ohren. Er hätte das geputzte Dämchen an die Wand schleudern mögen, und wenn sie tausendmal seine Schwester war. Er mußte alle Selbstbeherrschung aufbieten, um einer jäh ausbrechenden Wut Herr zu werden

,, Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen", sagte er zwischen den Zähnen. Im Gegenteil. Ich habe glänzende Zeug­nisse und Empfehlungen..."

Aber seine Schwester unterbrach ihn heftig, als von oben das Geräusch einer sich öffnenden Wohnungstür ertönte. Mit fliegen. den Fingern preßte sie ihm ihre kleine Ledertasche in die Hände.

Hier ist Geld. Geh in ein Hotel, tauf dir, was du brauchst! Ruf mich morgen vormittag an, gegen 11, da bin ich allein. Dann treffen wir uns."

Aber am nächsten Morgen wartete sie vergebens. Ihr Bruder hatte Berlin   bereits verlassen. In einem letzten Aufflammen von

Lebenswillen und einem seltsamen, aus den Tiefen des Unter bewußtseins   kommenden Gefühl, dem er sich nicht entziehen wollte noch fonnte, hatte er den ersten Zug bestiegen, der nach Norden führte. In einem kleinen mecklenburgischen Dorf, aus dem sein Großvater einst vor mehr als hundert Jahren in die Stadt ge­wandert war, hatte er den Zug verlassen, hatte wie ein Ber­durftender die reine, warme, von Sonnenlicht durchglühte Luft ein­und so befam er gleich am ersten Tag Arbeit. geatmet und 16 Stunden lang am Rande eines Kornfeldes ge­schlafen. Dann wanderte er von Hof zu Hof. Es war Erntezeit, und so bekam er gleich am ersten Tag Arbeit.

Der Lohn war elend, das Essen schlecht und die Arbeit schwer

und ungewohnt. Aber in Mergent war eine nie gekannte Freude am Leben erwacht, die sich in unerbittlicher Zähigkeit äußerte. So­stand er sich bereits am ersten Tag gewundert hatte, gründlich zu bald die Feldarbeit es zuließ, machte er sich daran, sämtliche Geräte im Haus, die Werkzeuge und Maschinen, über deren schlechten Zu­überholen. Schweigend und respektvoll verfolgte der Bauer die Neugeburt der alten, verrosteten Dreschmaschine, die er bereits als unbrauchbar beiseite gestellt hatte, und schweigend ließ er es zu, immer hier gewesen. Er brachte da und dort Verbesserungen an, er baute eine neue Scheunentür, flickte das Dach und reparierte den

Mergent blieb stehen und betrachtete sich im Spiegel einer großen Schaufensterscheibe. Mit selbstquälerischem Sarkasmus schlecht rafierte, magere Geficht, den zu meiten, schäbigen Anzug, musterte er den farblojen, abgetragenen Hut, das lange Haar, das die schiefgetretenen Schuhe. Wie ein Arbeitsloser eben aussieht," stellte er spöttisch lächelnd fest. Loni würde staunen, wenn sie den " großen Bruder" in diesem Aufzug erblickte, und erst der Herr Schwager, der ihm schon in guten Tagen nicht gewogen war, hatte! Deshalb hatte Mergent auch bis heute kein Wort von seiner weil er seine Geschäfte ganz offen als Schiebereien bezeichnet Stellungslosigkeit verlauten lassen und nur auf seltenen Karten an die Schwester mitgeteilt, es ginge ihm gut. Aber nun hatte diese Komödie keinen Zwed mehr. Er war einfach am Ende. Mit den paar Pfennigen in der Tasche war er reif für den Bettel und das den Leib bekommen. Auf der Straße hatte er mit Schwindel­anfällen zu kämpfen, und sein altes Leiden, schwere Kopfkrämpfe, inen lächerlichen Verdienst, aber sie ist zu Hause", dort an ihrem überfielen ihn manchmal mit einer Heftigkeit, daß er glaubte, vor Küchenherd. Und so kam es, daß der Hofbauer ihm eines Tages, Schmerzen wahnsinnig zu werden. So ging das nicht mehr weiter. Erst einmal ausruhen, schlafen dann konnte man weiter sehen. Die Unterkunft in seinem Hause konnte ihm der Schwager nicht verweigern. Machte er Schwierigkeiten, dann war immer noch seine Schwester da, die kleine Spielgefährtin seiner Jugend, die ihm erst durch ihre Ehe entfremdet worden war, als ihre Ver­gnügungssucht und ihr Lurusbedürfnis sie einen Mann wählen ließ, den er von Anfang an mit Mißtrauen betrachtete.

eine eiserne Bettstelle ist da. Eine Frau flebt Kartons. Sie ſieht Obdachlosenasyl. Seit Tagen hatte er nichts Warmes mehr in daß der neue Hausgenosse sich dem Hauswesen einfügte, als sei er

nicht einen Augenblick auf. Ihre Hände führen methodisch wie eine Maschine alle Bewegungen aus. Sie arbeitet auf Stücklohn, hat Dfen, auf dem das Mittagessen im eisernen Topse schmort. Noch ein paar Schritte. In dunklen Stuben beobachte ich Greise aus dem städtischen Altersheim. Sie beugen sich über irgendein vergilbtes Zeitungsblatt, über eine Kaze, eine unnütze Arbeit, manchmal über ihre schon kalt und steif gewordenen Er­innerungen Der Abend kommt. Sie stehen auf, zünden eine Petroleumlampe an, deren rauchige Flamme eine elende Behausung

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beleuchtet.

Das ist die Vergangenheit, eine Welt, die ausstirbt, und die man preisgibt. Ich gehe den Boulevard Ornano hinunter, den Boulevard Barbès- und ich stoße wieder auf die Gegenwart. Ein Wirbel. Ich höre alle Sprachen. Straßen erschließen sich mit Ge­töse, ohne Himmel aber braucht man denn einen Himmel? Das rote Feuer der Schilder besudelt ihn. Das Fleisch blutet im Schau­fenster eines Schlächters, Gemüse welken in der Auslage eines Ge­müsehändlers. Ein Möbelgeschäft, eine Kneipe und, an jeder Straßenede, ein großes Café, dessen Schenktisch hell aufglänzt.

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Gegen acht Uhr ertönen die Glocken der Kinos: Palast", Im perial" ,,, Eden". Man geht mit seiner Müze hinein wie in die Fabrik. Ich gehe auch hinein, ohne ein bestimmtes Theater aus­zuwählen oder die Ankündigungen zu lesen. Ein Mantel aus Hize hüllt alles ein, ein Schleier legt sich auf die Augen. Man atmet saure Gerüche ein, schlechte Parfüms, die Ausdünstungen einer Menge, die jeden Abend die Untergrundbahn füllt. Drei Stunden des Vergessens vielleicht oder der Stumpfheit. Man flieht die Einsamkeit, man läßt sich nach fernen Ländern entführen, man träumt von einem Leben ohne Knechtschaft. Und um Mitternacht ist man wieder auf dem speckglänzenden Pflaster, wo die Autos nun nicht mehr die Menschen hetzen. Man geht durch Straßen, die noch niemals so schwarz erschienen sind, man sieht, wie Türen sich nach Hausfluren öffnen, deren Feuchtigkeit und Küchengerüche die Luft verpesten. Der Fröhlichkeit ist die Müdigkeit gefolgt, tot sind die Träume. Sechs Stunden Schlaf- und das Erwachen, das Leben...

...

So hat sich seit meiner Kindheit, dem Anschein zum Trotz, nichts eigentlich geändert. Derselbe Wirrwarr in den Stuben, dieselben Geräusche auf den Treppenfluren, dieselben Gerüche allerorten. Im Winter die Kälte, im Sommer die Hize. Ein nebeliger Himmel, ein regnerischer Himmel, ein bleierner Himmel. Kein Entrinnen. Im Schlafe vielleicht. Aber es gibt Wohnungen, wo das Ungeziefer das Schlafen vereitelt, wo der Mangel an Luft das Atmen zur Bein macht. Anderswo ist es das Gebrüll des Radios, das Gezänk der Nachbarn, das Geschrei der Kinder, das die Träume zunichte macht. Nun ja die Zeiten sind hart, gewaltsam, der Schönheit bar. Man betrachtet nicht mehr den Himmel, hohe Häuser verbergen ihn. Man erhascht nicht mehr, in der Tiefe des Schweigens, das leichte Raunen des Windes. Man findet nur noch Bäume, die, von eisernen

Mergent fragte einen Verkehrspolizisten nach dem Weg. Wieder überfiel ihn ein Schwindelanfall, aber er riß sich zusammen und erreichte endlich eine breite, von hohen Bäumen eingefaßte Straße. Er drückte auf die Klingel des eleganten Neubaues. Mit leisem Surren öffnete sich die Haustür. Schwer atmend stieg er die Treppen empor. Ein plötzlicher Schweißausbruch, eine Folge von Hunger, Schwäche und Erregung durchnäßte ihn und machte ihn frösteln. Wie durch einen Schleier sah er ein hübsches, junges Gesicht, das ihn mißtrauisch musterte.

,, Gnädige Frau ist nicht zu Hause", hörte er eine helle Stimme wie aus weiter Ferne sagen. Er mußte also eine Frage gestellt haben. Seltsam, daß er seine eigene Stimme gar nicht gehört hatte. Er tam erst wieder zu sich, als er unten im Hausflur stand und auf den läuferbelegten Fußboden starrte. Hier sich hinlegen können und schlafen, schlafen! Sehnsüchtig glitten seine Augen über das weiche Gewebe. Dann raffte er sich mühsam zusammen und verließ das Haus.

Von der Straße sah er zu den Fenstern des ersten Stockwerks empor. Die Balkontür stand weit offen, und ihm schien, als ver­berge sich ein Gesicht hinter dem weißen Vorhang, aber das war wohl einer jener Schatten, die jetzt oft vor seinen Augen tanzten. Ganz langsam, mit fleinen Schritten ging er weiter. Dann blieb er stehen und wandte sich um. Er mußte doch wenigstens wissen, wann sie zurückkam.

Vor der Haustür wurde ihm schwarz vor den Augen. Er lehnte sich an die Häuserwand und erwachte erst zum Bewußtsein, als sich die Tür öffnete und eine Hand ihn hastig hereinzog. Seine Schwester stand vor ihm. Mit entsetzten Augen sah sie ihn an.

Hansel! Um Gotteswillen. Ich habe dich schon vom Fenster aus erkannt. Wie siehst du bloß aus!"

Mergent war plöglich ganz wach. Mit beiden Händen um­faßte er die elegant behandschuhte Rechte der Schwester.

,, Loni", sagte er beschwörend, seit über einem Jahr bin ich ohne Arbeit. Ich bin halb verhungert. Ich kann nicht mehr weiter. Vor allem muß ich ins Bett und schlafen. Du hast doch Plazz."

Aber die junge Frau schüttelte erschreckt den Kopf. Ich kann dich in diesem Zustand doch nicht mit hinaufnehmen," sagte sie ver

als er mit den Kindern vor dem Hause saß und unter lautem Jubel eine selbstgebaute Eisenbahn fahren ließ, die er ihnen schenkte, die Hand hinstreckte, um ihn aufzufordern, für immer dazubleiben.

Wochen formten sich zu Monaten, der Winter glitt über in den Frühling. Am Bach blühten die Weidenkäzchen, und aus dem Laub des vergangenen Jahres leuchteten die Schlüsselblumen. Blau und weit ruhte der Himmel über der grünenden Erde. Hans Mergent fuhr mit den beiden Gäulen vom Feld nach Hause. Schon von weitem sah er ein elegantes, rot gestrichenes Auto vor dem Hof stehen. Als er näher kam, stürzte ihm die Magd mit lächelnden, kugelrunden Augen entgegen. Besuch war da! Ein feiner Herr aus Berlin  !

So wie er war, in Holzschuhen und dem alten Arbeitszeug, trat Mergent in die Stube. Ironisch musterte er den beleibten Herrn, der ihn entgeistert ansah.

,, Ich irre mich doch nicht!" sagte sein Schwager endlich ver­legen. ,, Mein armer Junge", fügte er in weinerlichem Ton hinzu, du hättest doch wirklich einmal von dir etwas hören lassen sollen. Loni hat mir alles erzählt. Sie war damals ganz verzweifelt, aber man hat eben seine gesellschaftlichen Verpflichtungen, nicht wahr! Das arme Kind, sie hat ja ein so gutes Herz, jeden Morgen lag sie mir in den Ohren. Ich habe es mir ein tüchtiges Stück Geld kosten lassen, bis ich dich schließlich hier aufgetrieben habe, um dich... also was sagst du dazu, wenn ich dich meinen Kompagnon in spe nenne,?" Er rieb sich die Hände.

Mergent lachte laut auf. Tausend Dant, aber du mußt dir einen anderen Kompagnon suchen! Ich bleibe hier!"

Der Bankier schlug die Hände zusammen. Aber doch nicht für immer", meinte er entsetzt. Du bist doch ein gebildeter Mensch, hast Kultur!"

Draußen im Hof ertönte Kinderlachen. Mergent trat ans Fenster und blickte hinaus. Ein lichtblauer Himmel. Am Horizont dunkel und schattenhaft Wald. Endlos dehnten sich grünende Felder, fruchtbare Erde, aus der das Getreide zum Licht drängte. Er schloß die Augen, und es schien ihm, als ob die hellen Farben sich verdunkelten. Der Himmel wurde grau und düster, die weiten Felder verwandelten sich in Fabrikgelände und Hochhäuser. Auf den engen Straßen stauten sich Menschenströme. Fäuste hämmerten an die geschlossenen Tore der Fabriken: Gebt Arbeit, Arbeit, mir verhungern!" Aber die Tore blieben geschlossen.

Mergent legte seinem Schwager die von der Landarbeit ver­werkte Hand auf die Schulter.

Fahre du zurück in das, was du Kultur nennst," sagte er, und grüße meine Schwester. Ich bleibe hier."