Beilage Montag, 8. August 1932
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Der Abend
Spalausgabe des Vorwärts
Emile Vandervelde gibt hier eine historische Darstellung jener Streikbewegung in Belgien , deren neuester Akt der Generalstreikbeschluß der belgischen Bergarbeitergewerkschaft ist.
Zum erstenmal seit dreißig Jahren, das heißt seit dem stürmischen politischen Streik von 1902, der der Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts galt, ist in Belgien ein Streit, richtiger eine Reihe von Streits ausgebrochen, die vom Aufruhr begleitet und von der bürgerlichen Presse sofort als„ revolutionäre Streits" bezeichnet wurden, die von der Kommunistischen Partei nach den Anweisungen und mit der finanziellen Unterstützung Moskaus entfesselt worden seien.
Wenn man weiß, was die Kommunistische Partei Belgiens , die niemals sehr bedeutend war und jetzt auf einen einzigen Abgeordneten reduziert, durch die ,, trogtystische Spaltung" dezimiert ist und die nur einen winzigen Teil des Proletariats vertritt, heute in Wahrheit bedeutet, so er=
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scheint diese Auslegung, die den Zweck zu verfolgen scheint, jetzt, beim Herannahen der Wahlen, wieder mit der Politik des Messers zwischen den Zähnen" zu beginnen, als ganz ungewöhnlich übertrieben.
Gewiß ist im Verlaufe der letzten Monate die kommunistische Werbearbeit in den großen Städten und den Industriezentren leb= hafter geworden und sie zeigte sich vor allem in einer Flut von Plakaten, die mit den sehr mageren Finanzquellen der Partei allein nicht hätten bezahlt werden können. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß die Kommunisten während der ersten Tage des Streits eine
ziemlich große Rolle gespielt haben und daß namentlich die Trupps andern eilten, wesentlich zur Ausbreitung des Streifs beitrugen.
,, roter" Radfahrer und Motorradfahrer, die von einem Schacht zum
Aber das ist in unruhigen Zeiten nur das gewöhnliche Spiel der Kommunisten. In Tat und Wahrheit hat der plögliche und heftige Ausbruch der Unzufriedenheit, sowohl in den Kohlenfeldern der
des Direktors plünderten und in Brand stedten, so daß von ihm nur die Mauern übrig blieben.
Die Regierung nahm zunächst, überrascht von der Plötz lichkeit und Heftigkeit dieser Unruhen, eine ziemlich unentschlossene Haltung ein. Dann raffte sie sich zusammen und konzentrierte in den Streikgebieten Soldaten und Gendarmen, die zum Teil aus den flämischen Gebieten stammten. Es gab noch einige Handgemenge, die zwei Menschen das Leben kosteten, und eine gewisse Anzahl Verwundete auf dem Pflaster zurückließen.
die in Limburg und im Hennegau beschlossen, neue, an sich durchaus berechtigte Forderungen zu stellen: die Neuregelung der Löhne, die bei gewissen Kategorien auf einen unerhört niedrigen Stand gesunken waren, und ferner die Ausschaltung des Kohlenpreises aus dem Inder, dem die Löhne angepaßt werden, so daß dieser nur mehr die Preise der Gegenstände des Lebensbedarfs umfaßt.
So dauert der Streit, der nach drei Wochen seinen allgemeinen und bis zu einem gewissen Grade politischen Charakter verloren hat, als lokaler Streit in einer Ruhe fort, die auch der kommunistische war, nicht zu stören vermochte.
Sowohl in Charleroi und in der Borinage, als auch im Centre hatten die Gewerkschaftsführer bald die Leitung der Be- Demonstrationszug am 1. August, der lange vorher angekündigt wegung in den Händen. Sie disziplinierten den Streik, der
vor allem ein Streik der Empörung und Verzweiflung gewesen ist und sie gaben ihm ein Ziel, dessen klare Formulierung von den Massen bei der Arbeitsniederlegung versäumt worden war.
Für die, die mit den Streifenden in unmittelbaren Beziehungen gestanden sind, war es klar, daß in der Flut der von den Unzufriedenen aufgestellten unklaren Forderungen einige grundlegende Beschwerden die Hauptrolle spielten.
Seit einigen Monaten hat die bürgerliche Presse, die für vieles verantwortlich ist, angeblich Mißbräuche vorschützend, eine heftige Kampagne für die Herabsetzung der Alterspensionen und der Arbeitslosenunterstützung geführt. Die Arbeiter fürchteten, daß die Regierung, die sich in schwerer finanzieller Notlage befindet, unter dem Einfluß dieses Feldzuges die Pensionen und Unterstützungen fürzen werde.
Agrarier einen Gesezentwurf für die„ Revalorisierung des Getreides" vorgelegt, der nach dem Eingeständnis seiner Urheber den Brotpreis um 10 Centimes für das Kilo erhöhen würde.
Andererseits hatte die Regierung unter dem Einfluß der
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Bereits vor dem Abschluß dieses letzten Kapitels beschäftigten sich die Genossen der Belgischen Arbeiterpartei damit, die Bilanz zu ziehen, die Aktiven und Passiven der ziemlich erregten drei Wochen, die sie erlebt haben, einander gegenüberzustellen.
Als Aktivum kann die wesentliche Tatsache gebucht werden,
daß es in einem Lande wie dem unsern, wo das Proletariat einen Oroßen großen Teil der Bevölkerung ausmacht, wo feine Regierung ohne Mithilfe eines Teiles des Proletariats bestehen kann, genügte, daß 100 000 bis zum Aeußersten getriebene Arbeiter sich erhoben und die Zähne zeigten, um den Unternehmerangriff auf die Löhne und die " Soziallasten" sofort zum Stehen zu bringen und die Regierung und die Parlamentsmehrheit zu zwingen, den Forderungen zu entsprechen, die das Kartell der sozialistischen Gewerkschaften und der ( in der Schwerindustrie übrigens wenig zahlreichen) christlichsozialen Gruppen erhoben hatten.
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Und daß der Streif vom Juni/ Juli ein großer Sieg des belgischen Proletariats war ein sehr großer Sieg, wird sich in dem Maße erweisen, wie alle seine Folgen sich auswirken.
Aber so wichtig auch diese Ergebnisse sein mögen, so können feite die Tatsache zu buchen, daß die ohne den Willen der Gewerksie uns doch nicht der Notwendigkeit entheben, auf die Passiv= schaftsführer entstandene Bewegung in gewissen Kreisen eine Ein
katholisch sind, als auch in den Schächten von Charleroi und der Borinage, wo die Sozialisten die überwältigende Mehrheit bilden, viel tiefer liegende Ursachen als die im Grunde sehr und wie das vom industriellen Zentralkomitee vertretene Unter- ftellung offenbart hat, die man nicht tragisch zu nehmen braucht, die, oberflächliche Aktion einer Handvoll Kommunisten, die wie gewöhn
lich im Trüben fischen wollten.
Wir wollen die Tatsachen nur kurz zusammenfassen. Sie sind von Tag zu Tag von den Agenturen mitgeteilt worden und bildeten den Gegenstand einer sehr interessanten Reportage Louis Lévys im Pariser ,, Populaire" vom 29. und 30. Juli.
Bereits im Mai sind in der Borinage( im Becken von Mons ) im Kohlenbergbau wegen der Tarifverträge, die ohne wesentliche Aenderungen seit 1920 bestehen, Schwierigkeiten entstanden. Nach langen Unterhandlungen, in denen die Unternehmer sehr viel schlechten Willen an den Tag legten, haben die Vertreter der Arbeiterschaft schließlich die im Tarifvertrag vorgesehenen Lohnkürzun= gen auf ziemlich kurze Frist angenommen. Aber entgegen ihrem Rat traten etwa 8000 Bergarbeiter in den Streit und forderten die Aufrechterhaltung der bisherigen Lohnfäge. Schließlich unterwarfen sie sich aber der Gewerkschaftsdisziplin und beschlossen die Wieder aufnahme der Arbeit,
als ein neuer Bergwerksdirektor, der vor kurzem in die Gegend gekommen war, fünfhundert Streifende entließ.
Derartige Maßregelungen haben sich auch in anderen Be zirten ereignet. Mehr bedurfte es nicht, um in einer ebenso spontanen wie unwiderstehlichen Solidaritätsbewegung ohne vorherige Ankündigung den Ausbruch eines Generalstreits in allen Industriezweigen des Beckens von Mons zu be= wirken, der sich in den folgenden Tagen mit außerordentlicher Schnelligkeit auf das benachbarte Gebiet des Centre und dann auf das Kohlenbecken von Charleroi ausbreitete.
In der Borinage hatten sich bereits Szenen ereignet, die an Zolas ,, Germinal" erinnern: man beschimpfte und verprügelte die Bergwerksdirektoren, man zwang die Ingenieure, die rote Fahne zu grüßen und auf dem Balkon des Volkshauses zu erscheinen; man ließ, indem man die Pumpwerke stillegte, die armen Grubenpferde ertrinken; man hatte, als die Gendarmen kamen, in manchen Straßen Barrikaden errichtet, Stacheldraht gespannt und Scherben ausgestreut, um die Angriffe der Kavallerie aufzuhalten.
In der Gegend von Charleroi gestalteten sich die Dinge ebenso wie zur Zeit der blutigen Streits von 1886 bereits von Anfang an wesentlich schlimmer: in dieser Gegend, wo zum Unterschied von der Borinage nur ein Viertel der Bergarbeiter gewerkschaftlich orga= nisiert, der Anteil der ausländischen Arbeiter sehr beträchtlich ist und ein ständiger Zustrom von ziemlich urwüchsigen Flamen die Lücken in den schwersten Arbeiten ausfüllt, die durch den Uebergang zahlreicher Bergarbeiter zu anderen Berufen entstehen, sind die Arbeiter der Großindustrie, namentlich die Glasarbeiter und die Metallarbeiter, in den Streit getreten, ohne auf die Losung ihrer Gewerkschaftsorganisationen zu warten; und andererseits durchstreiften während 48 Stunden einige, im übrigen wenig zahlreiche Gruppen, die vor allem aus nicht gewerkschaftlich organisierten, kommunistischen oder sich Kommunisten nennenden jungen Leuten bestanden( abgesehen von gemeinen Verbrechern, die man in Charleroi die ,, longues pennes", die ,, langen Dietriche" nennt) die Gegend, holten die wenigen bei der Arbeit gebliebenen Arbeiter heraus, veranstalteten vor den Toren der Volkshäuser feindselige Kundgebungen, bedrohten die Polizei mit dem Revolver, drangen gemaltsam in Fabriten ein wie in die Providence und die Marchienne au Pont, wo einige Aufrührer ungestört das Schloß
Schließlich und vor allem hatten die Arbeitermassen mit stei= Kammern in endlosen Erörterungen über die Sprachen gejeze gender Unruhe und Empörung zugesehen, wie sich die beiden Personal das Beispiel für die Lohnsenkungen gab verloren und unterdessen die Regierung bei dem öffentlichen nehmertum die strenge, in einzelnen Fällen sogar die im voraus zu erfolgende Durchführung der in den Verträgen vorgesehenen Lohnsenkungen forderte, ohne sich auch nur im geringsten darum zu fümmern, ob nicht die Löhne dadurch unter das Eristen 3 minimum sinten würden.
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Kurz: Unverletzlichkeit der Sozialgesete und namentlich der Alterspensionen und der Arbeitslosenunterstützung( ebenso wie die wirksame Unterstützung der nichtversicherten Arbeitslosen); Verzicht auf das Brotsteuerprojekt; Einstellung des Lohnabbaues, auch des vertraglichen, um nicht unter das Existenzminimum zu kommen das war das Forderungsprogramm zunächst der örtlichen Organisationen, das dann ungefähr zur gleichen Zeit von der Gewerkschaftskommission und dem Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei im Namen der Streifenden formuliert und sowohl vor das Parlament, als auch vor die paritätischen Kommissionen" der hauptsächlichsten Industrien gebracht wurde.
Da der Streit überall in der Periode des Ansteigens mar, segten sie ihre Forderungen auf der ganzen Linie durch.
Der Gesezentwurf über die Brotsteuer, der in der Senattommission behandelt wurde, ist ohne Termin vertagt worden, das heißt, wie niemand bestritten hat, daß er endgültig beerdigt ist.
Der Arbeitsminister erklärte feierlich, daß die Alters. pensionen unantastbar seien, und daß man das Statut der Arbeitslosenversicherung nicht ohne vorherige VerArbeitslosenversicherung nicht ohne vorherige Ber ständigung mit den Vertretern der Arbeiterorganisationen abändern
werde.
Und in der Kammer erklärten sich der Führer der Liberalen, Devèze, und der wallonische, christlich- demokratische Abgeordnete Bodart aus Charleroi mit dem Interpellanten vollständig einverstanden, erklärten unter dem entsetzten Schweigen der Mittelgruppen, daß keine Rede mehr davon sein könne, die ohnehin aufs tiefste Niveau gesunkenen Löhne noch weiter herabzusetzen, und beschworen die Regierung die diese Forderung annahm ihre ganze moralische Autorität aufzubieten, um den streifenden Arbeitern volle Befriedigung ihrer Forderungen zu sichern.
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Am Tage danach beschloß übrigens die paritätische Landes= kommission für den Kohlenbergbau, daß die gegenwärtigen 2öhne bis zum 1. November aufrechterhalten bleiben, und der Sekretär der Bergarbeitergewerkschaft erklärte, daß alle Streit ziele erreicht seien.
Anderseits a nullierte die paritätische Landeskommission für die Metallindustrie die vertragsmäßige Lohnsenkung von 5 Proz., die 14 Tage vorher angenommen worden war, und in anderen Industrien wurden sogleich ähnliche Beschlüsse gefaßt.
Unter diesen Umständen glaubten die Gewerkschaftskommission und der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei, die sofort zu= ſammengetreten waren, erklären zu können, daß der Sieg voll ständig sei, daß vor allem in der Borinage alle Streifziele erreicht seien und verpflichteten die Streifenden, die Arbeit am fommenden Montag wieder aufzunehmen.
Diese Parole wurde von allen Gemertschaftsorganisationen, die in den Sympathiestreit getreten waren, und besonders von den Metallarbeitern, genau befolgt.
Nicht das gleiche geschah jedoch bei den Bergarbeitern,
man aber, wenn man nicht einen großen Fehler begehen will, ernst nehmen muß.
Wir lassen die Riesenenten der bürgerlichen Presse beiseite, daß ausgeschaltet, daß die Sozialisten in ihren Volkshäusern von wütendie Sozialisten von der kommunistischen Grundwelle überrannt und den Massen belagert worden seien, welche ihre Erbitterung gegen sie fehrten.
Man muß inmitten der Ereignisse gestanden sein, um zu wissen, mas für groteste Uebertreibungen oder offenbare Unmahrheiten das sind.
In Wirklichkeit bestand die kommunistische Verschwörung, die die Staatsanwälte zu entdecken bemüht sind, mie bereits jetzt feſt= steht, nur in der Einbildung der Polizei. Die Kommunisten hatten nur, dank der allgemeinen Erbitterung, für einen Augenblick einen gewissen Zulauf von Arbeitern und vor allem von nicht gemerkschaftlich organisierten Arbeitern, und, alles in allem genommen, war es, wie in Wien im Jahre 1927, nur ein Strohfeuer, das rasch wieder erlosch.
Aber in der Jugend der Belgischen Arbeiterpartei beklagt man sich darüber, und nicht immer ohne Bitterkeit, daß die Gewerkschaftsführer nicht die Initiative der Bewegung hatten, daß sie nach dem Ausbruch des Streits der Tatsache, daß die Gewerkschaftskassen durch die Arbeitslosenunterstützungen geleert sind, eine zu große Bedeutung beigelegt haben; daß sie sich dann mit einem zu leicht und zu rasch errungenen Sieg begnügt haben; daß sie nicht mehr verlangten, und den Vorteil, den sie hatten, bis zum äußersten ausnüßten, indem sie im ganzen Lande den Generalstreit auslöften. Und als Ergebnis dieser Kritik for Opportunismus gewiffer Parlamentarier und den Bureaukratismus dert man die Verjüngung der Kaders, greist man den Opportunismus gewisser Parlamentarier und den Bureaukratismus mancher Gewerkschaftsfunktionäre an, und man tritt in der Partei und entschieden fozialistische Politik ein, wenn man für eine schärfere oppositionelle, mehr grundsätzlichy nicht wolle, daß die Kommunistische Partei , die offensichtlich im Verfall
war, neue Kraft gewinne.
auch vieles, was man ablehnen kann. Einiges davor, namentlich Es gibt in dieser Kritik gewiß vieles, was man akzeptieren, und zu behaupten, es sei möglich, bei 300 000 Arbeitslosen einen siegreichen Generalstreik durchzuführen, ist offenbar falsch. Friedlich hätte der Generalstreik zu keinem Erfolg geführt, bei gewaltsamer Durchführung wäre er niedergeschlagen worden.
Aber man würde die Belgische Arbeiterpartei schlecht kennen, wenn man glaubte, daß sie nicht alles daraniehen werde, aus dem Ereignis alle Folgerungen zu ziehen, die es mit sich bringt: vor allem, daß die Massen in der Sozialistischen Partei immer weniger für eine Politik der Kompromisse und der reformistischen Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien zu haben sind.
Die Bevölkerung Salonikis
Zu unserem Artikel„ Ein Tag Soloniti", in dem es heißt, die Hälfte der Einwohnerzahl Salonikis seien spaniolische Juden, ein Viertel Griechen und der Rest, das wäre das übrige Viertel, Türken, wird uns von der griechischen Botschaft geschrieben: Nach den hier vorliegenden amtlichen Zahlen vom April 1931 zählt die Stadt Solonifi 245 000 Einwohner. Davon sind 78,7 Broz. Griechen, 19 Proz. Israeliten und 2,3 Broz. sonstige Ausländer, oder in Zahlen ausgedrüdt: 193 000 Griechen, 47 000 3sraeliten und 5000 Ausländer.