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Klatsch und Tratsch gibt Berlin ein Dorf?! Berlin , das auf die fünfte Million zu- marschiert, das an einem heißen Sommertag rund einhundert- taufend«rholnngsarme werktätige Menschen, also eine ganz« Groß- stadt, an den Strand des Wannsees schickt. Berlin , das au» sieben- undzwanzig Gutsbezirken, aus neunundfünfzig Landgemeinden und sieben Großstädten ein einziges kolossales Gsmeinwesen wurde, Berlin , auf dessen Bahnhöfen täglich vierhundertneununddreißig einkommende und ausfahrende Fernzüge abgefertigt werden, Berlin , das über eine Million Einwohner mehr beherbergt als das ganze Dänemark , dies Berlin , das ist ein Dorf? O nein! O doch! Natürlich nicht dies ungeheure Gebilde von vierund- neunzig Gemeinden, nicht diese Ballung von Millionen von Men- schen und Tieren, nicht dies unerhörte Gewirr Tausender von Straßen, dieses unübersehbare steinern« Millionenheer der Wohn- und Geschäftshäuser, der Banken, Regierungspaläste und Museen, nicht dies fast einhunderttousend chektar messend« Stadtganze mit den dreihundert Bahnhöfen und siebenhundert Schulen ist das Dorf. das ist die Weltstadt, eine Weltstadt allerdings, die Raum auch für Dörfer, für zahllose Dörfer hat, Venn jede kleine Straße, jeder Wohnblock ist, en miniature gesehen, ein Dorf! Unsichtbare, von jedem aber instinktiv erfühlte Linien grenzen die einzelnen Wohngebiete gegen Fremde, einer andere« Sphäre angehörende Straßenteile ab. Das ist so ganz unmerklich gekom- men. Es fing an mit der Aufteilung in Stadt- und Berwaltungs- bezirke, in Wohlfahrt?- uns Armenviertel, in Steuer- und Polizei- reoiere, m Postbestell- und Telephonbezirke, so ganz unmerklich ist das gekommen, damals, als die vielen, vielen Behörden begannen, ihr« Rechte und Kompetenzen amtlich abzugrenzen, als sie. um sich das Regieren zu erleichtern, anfingen, die Millionen zu divi- dieren und also sind eigentlich die Behörden daran schuld, daß die Berliner , seltsame Synthese, diese Weltstädter zugleich auch Dörfler sind, Beim Morgenkaffee fängt es mit dem Aerger an der Zestung an, denn im lokalen Teil steht schon wieder so allerlei von Straßen- auibrüchen im eigenen Viertel, von der Wohnungsnot, von ver- fchärfter Steuerkontrolle und leider von Krawallen, mm so allerlei, das einen in Wut und Wallung bringen kann. Die Sachen werden dann erst einmal mit der lieben Frau und später unten

es auch in der Weltstadt beim Friseur besprochen der schabenderweise voll und ganz die Meinung des von ihm Rasierten unterstreicht.Ist ja auch n' wahrer Skandal, diese ewige Buddelei hier vor der Tür! Denken sich, vorgestern abend ist der alte Herr Müller, Sie wissen, der mit seiner geschiedenen Tochter, hier an der Ecke über ein heraus- gerissenes Gasrohr gestolpert und hat sich den Arm gebrochen. Aber sowas kommt vom vielen Buddeln!" Der von dem Lehrling eben«ingeseifte Nachbar im Sessel nebenan, er wohnt im Hause des Friseurs, steuert einig«Iajas" und empörte Schnalzlaute zu diesem kommunal-politifchen Disput bei und i:n Nu haben sich da die paar hellen Berliner in diesem kleinen Friseurladen in biedere Kleinstädter verwandelt, die verärgert die Politik der Ge- meinöe betratschen wie auf dem Dorf! Ehe sie es sich versehen, kommen sie von der städtischrn Politik In die Angelegenheiten Ihrer Hausgenossen, in den klatsch ihres Viertels. Sie wissen dabei die interessantesten Details aus dem privaten Leben der nächsten Nachbarn auszupacken.Na, ick saze IHnm, die Frau ruiniert den Mann ja. Wie soll der arme Deibel das alles schaffen. Jeden Abend will se ausgehen! Und dann de Kleider! Und dabei arbeitet der Mann von früh bis spät und sie liejt den janzen Tag im Schaukelstuhl und liest dicke Romane!" Ja, aber, wissen Se. warum hat er se auch genoinmen. Sogar ihr eigener Bater hat ihn ja gewarnt, der hatte mit ihr zu Hause auch schon sein Theater. Fragen Se man de Wittecken hier, de Ge- müsefrau, die kennt die Familie" Ewig Weltstädter zu sein, immer vor rasenden Autos über den Asphalt zu hetzen, ständig auf Ampeln und Verkehrsschupos achten zu müssen, oh, das alles ist so strapaziös! Also flieht man für ein Weilchen in das Dorf, aus dem man ia über so und soviele Vorfahren irgendwie einmal in diese mächt'g wogeuöe Stadtmasse hineinkam. Wird zum Dörfler und freut sich ai' dem.Guten Morgen" des Milchmädchens und an dem«h'-erb'etigen Gruß seines Zigarrenkaufmanns, von dem man sich, ein Schmunzeln im Gesicht, erzählen läßt, wie und wo er gestern abend der kleinen Ver- käuferin aus dem Wäscheladen überm Damm das Herz geraubt habe. Denn hier, drei Querstraßen weiter nach Ost und West und die eigene Straße hinauf und herunter bis zu den nächsten Plätzen. kann man sich nicht verstecken....

Stuttgarter Landfriedensbruchprozeß. Bor allem linksstehenoe Angeklagte verurteilt. Stuttgart . 17. August. sEigenbericht.) Nach fünftägiger Verhandlung wurde in der Nacht zum ZNitkwoch um 11 Uhr von der Großen Strafkammer in Stult- gart das Urteil In einem Landfriedensbruchprozeh gesprochen, der gegen 17 Angeklagte wegen eines nächtlichen politischen Tumults in der Stuttgarter Arbeitervorstadt Jeuerbach am Z. Zuli angestrengt worden war. Der Tumult hatte vor demHirsch", dem Feuerbacher Gewerk- schaftshaus, zwischen Kommunisten, Reichsbannerleuten und Ratio- nalsozialiften stattgefunden. Die Nationalsozialisten waren in ge- schlossenem Zuge amHirsch" vorbeigezogen, und der Streit drehte sich darum, ob dies mit der Absicht eines Angriffs erfolgt war oder nicht. Die Anklagebehörde vertrat die Auffassung, daß die Ratio- nalsozialiften nur harmlose Absichten gehabt hätten, während von Zeugen Aeußerungen von SA.-Leuten bekundet wurden des In- Halts:Wenn wir amHirsch" vorbeikommen, dann heben wir ihn aus!" Als sie dann wirklich vorbeikamen, entstanden Schlägereien, doch waren gerade die Urheber der ersten Schläge und Steinwürfe nicht festzustellen, so daß die Frage, wer denn die Hauptschuld an den Zusammenstößen trägt, überhaupt nicht geklärt werden konnte. Im ganzen sind dann zehn Leute oerletzt worden, darunter zwei Polizeibeamte, fünf SA.-Leute und drei Kommunisten. Der Staats- anwall kam zu ganz ungeheuerlichen Strafanträgen. besonders gegen den Hauptangeklagten, den 2Sjährigen Hilfsarbeiter König, gegen den er wegen erschwerten Landfriedensbruchs, ge- fährlicher Körperverletzung aus politischem Beweggrund usw. ein« Zuchthaus st rafe von Jahren beantragte. Gegen drei Kommunisten beantragte er je 1%. Jahre Zucht« haus, im übrigen Gefängnisstrafen von 1 Jahr 3 Monaten bis herunter zu 6 Monaten. Das Gericht sah die Angelegenheit jedoch wesentlich milder an. Es erkannte gegen König zwar auch auf schweren Landfriedensbruch. verurteilte ihn aber nur zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis. Gegen drei Kommunisten wurden Gefängnisstrafen von Ii). 8 und S Mo- naten, gegen drei weitere Angeklagte, darunter ein Nationalsozialist, 4 Monate 15 Tage, 3 Monate und 4 Monate Gefängnis verhängt. Sieben weitere Angeklagte, darunter je zwei Reichsbannerleute und Nationalsozialisten, wurden freigesprochen.

Heuer und Heuer. Einige Berliner Abendblätter brachten gestern das Bild unseres Genossen Stadtrat Heuer und bezeichneten ihn al» Nachfolger des Genossen Wissel !, Schlichter für Berlin-Brandenburg . Der Nachfolger Wissells heißt allerdings auch Heuer, doch ist es nicht der Stadtrat, wie die einfachste Ueberlegung sofort ergeben hätte, sondern der bisherige Vertreter Wissells.

Dumme werden gesucht... Man schreibt uns: Ein Brief flattert ins Haus: Wir teilen Ihnen höflichst mit, daß Sie bei unserem Preisausschreiben eine Uhr gewonnen haben, die Sie gegen Unkostenerstattung zugesandt erhalten. Der Freudenbotschaft ist eine Rechnung über nicht ganz 1» M. sowie eine Postanweisung beigefügt. Obgleich man sich keiner Beteiligung an einem Preisausschreiben entsinnt, beschließt man doch, sich um die Sache zu kümmern. Der Gewinn entpuppt sich als ein primitiver Holzkasten mit einer Uhr, die nach Weckerart tickt. Sie hat mit einer Standuhr das gemein, daß sie in einem Kasten steht. Ein Masten- artikel einer auswärtigen Uhrenfabrik, der einen ganz geringen Wert repräsentiert und mit dem gefordertenUntostenbeitrag" meist überzahlt wäre. Halb Berlin scheint diesen Brief erhalten zu haben, denn im Büro dieses Glückshafens geht es wie in einem Tauben- schlag zu, und zwar in einem sehr aufgeregten, denn jeder einzelne macht seinem Zorn über die Irreführung gleich an Ort und Stelle Luft.Das ist heute noch gar nichts", meint ein Mann aus dem Hause, der sich schmunzelnd den Hochbetrieb ansieht.Wir hatten schon das Ueberfallkommando hier und Krach gibt's täglich mehr als genug. Da war unter anderem auch einer, der treu und brav fein Geld eingeschickt hatte, bloß, daß er keine Uhr bekam." Aber nicht bloß Berlin , sondern vor ollem die Provinz wird mit dieser Glücks- botschaft gesegnet, täglich gehen Säcke voll Briefe weg. Wer hier wohnt und sich das Prachtobjett vorsichtshalber vorher besieht, der kommt ja noch mit heiler Haut davon, aber wer gut-

gläubig fein Geld opfert, der ist eben wieder mal der Dumme. Der Betrieb geht schon seit Januar und soll sich, wie der Mann aus dem Haufe erzählt, in den letzten Monaten als recht einträglich erwiesen haben. Auf jeden Fall: Betrieb gibt's hier von morgens bis abends und Krach dazu, und wenn zuviel Gefoppte auf einmal da sind und die Sache brenzlich erscheint, dann wird das Büro geschloffen und die Wutenbrannten werden auf morgen vertröstet.

Militärflugzeug abgestürzt. Schrecklicher Flammeniod der vier Insassen. Paris , 17. August. Lei einem Nachlflug stürzte unweit vizerla ein Marine- Wasserflugzeug mit vier Mann Besahung ab. Der Apparat ging in Flammen auf. sämtliche Zufassen verbrannten.

Seinen 70. Geburtstag feiert heute Genosse EmilKämmerer in Tempelhof . Der jetzt Siebzigjährige gehört nicht nur dem Lebens- alter nach zu den ältesten Mitkämpfern und der sozialdemokratischen Bewegung. Von Beruf Schrijtgießer, war Kämmerer schon in den achtziger Jahren Mitglied der Partei. Er kann heut« noch mit Stolz die Mitgliedskarten desVereins für volkstümliche Wahlen des 12. und 13. sächsischen Reichstagswahlkreises" aus der Zeit des Sozialistengesetzes vorzeigen. Lange Jahre hat er in der Organila- tion des früheren Berliner 2. Wahlkreises alz Bszirksführer ge- arbeitet. Wie in der Partei war er auch in der Gewerkschaft tätig. Wir wünschen dem alten Mitkämpfer noch manches Jahr frohen Erlebens!

Im Plötzensee ertrunken. Beim Baden an verbotener Stelle im P l ö tz e n s e e ist gestern nachmittag der 43 Jahre alte Tischler Bernhard H o f r i ch t e r aus der Brücken st raße 9 ertrunken. H. ging plötzlich lautlos unter. Es wurden sofort Rettungsoersuche unternommen, die jedoch erfolglos blieben. Die Leiche des Ertrunkenen konnte einige Zeit später geborgen werden. Klinqelfahrer machen fette Beute. Ein schwerer Einbruch ist von Klingelfahrern im Hause In den Zelten 9 oerübt worden. Hausbewohner hatten nacheinander zwei Bettler beobachtet, die alle Wohnungen abklingelten. Zu dieser Zeit war in der Wohnung des Kaufmanns E,.niemand anwesend. Die Bettler sind dort eingedrungen und haben die ganze-Wohnung durch- wühlt. Im Schlafzimmer fanden sie Schmuck im Werte von etwa 12 000 M., mit dem die Täter entkamen.

Pilzkursus. Am Montag, den 22. August, beginnt ein von der Staatlichen Stell« für Naturdenkmalpflege veranstalteter Kursus: Einsührung in die Kenntnis der heimischen Pilze mit besonderer Berücksichtigung der«peise- und Giftpilze uno der Schäd- linge unserer Nutzpslanzen." Die Vorlesungen finden im großen Hörsaal des Botanijchen Museums, Berlin-Dahlem , Königin-Luije- Straße 6/8. Montags von 17 19 Uhr, statt. Vortragender ist Professor U l b r i ch. Mit den Borlesungen sind zahlreiche Führungen verbunden. Anmeldung am 22. August an Ort und Stell« oder bei der Geschäftsstelle der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege, Berlin-Schöneberg, Grunewaldstraßs 6/7, wo auch das ausführliche Programm zu erhalten ist. Di« Gebühr be- trägt 3 M.

Gerhart Herrmann Mostar :

Und es ist nicht so, daß dieser Mann böse oder besonders hart gewesen wäre; es war nur so, daß er nicht über seine Erziehung und seine Verwandtschaft und Freundschaft und nicht über seinen Glauben wegkonnte. Und es ist auch so, daß es in fast allen Fällen geht wie in diesem... So weit erzählte der Alte: und in seiner Geschichte war die Geschichte von Anja und Hassan enthalten. Ich dachte des Mutes, der dies Mädchen veranlaßt«, quer durch alle Widerstände den geraden Weg der Liebe zu gehen, sich Hassan zu geben und ihm ein Kind zu gebären: dachte auch der Ueberwindung. die den Vater vermochte, das Mädchen nicht zu verstoßen und lieber das uneheliche Kind zu dulden als den islamitischen Mann-, dachte auch Hassan Chardans selbst, der Blut spie, dicht neben sein Kind auf den Boden, der die Luft, die sein Kind atmete, mit Bazillen vollhauchte und bald sterben würde und mit seinem Tode all die Kämpfe und Leiden sinnlos machen würde... Es war dunkel geworden; der mohammedanische Gast erschien am Eingang der Hütte und winkte uns hinein. Wir kamen alle und aßen unsere Fisolen. Abseits faß die Hanum «: ihr Gesicht war uns abgewandt, und sie schob Bissen um Bissen mühsam hinter den Schleier. Anja sah lange nach ihr hinüber: dann trat sie plötzlich zu ihrem Vater, der rauchend am Feuer saß, und küßte ihm die Hand. Sie hatte ihn ver- standen. Die Alte lächelte und streichelte das Kind, das mit geballten Fäusten in der Asche schlief. Hassan Chardan hatte die Geste Anjas nicht gesehen: er hielt das Gesicht der Wand zugekehrt. Der Besuch blieb über Nacht in der Hütte: wir anderen gingen hinaus, zündeten unsere Feuer an und wachten gegen den Wolf. Es gab viel Huirdegebell, viel Feuerbrand- schwingen, viel Schafblöken, viel Erregung und wenig Schlaf. Als wir in dat Frühe, durchkältet von der harten mazedoni- Ichen Nacht, in die Hütte trmen. hörten wir leise heulendes Klagen. Es kam von der Jslamitin her. die einmal eine

Christin gewesen war: sie erfüllte, mohammedanischem Ritus gemäß, die Pflicht des Klageweibes. Denn Hassan Chardan war über Nacht gestorben. Gleich nach dem Hassan Chardan gestorben war, hatte sich der mohammedanische Hirt zu seiner Hütte begeben und war am Abend mit noch zwei verschleierten Frauen wieder­gekommen. Die hatten sich an das Lager des Toten gesetzt und die ganze Nacht über geweint und gewimmert, gebetet und von der Güte und Große Hassans gesprochen: Toten- klage... Zuweilen hatte das Kind mit eingestimmt, hatte geweint mit hoher, kläglicher Stimme, dann hatte Anja ihm die Brust gegeben ihre schöne, feste Brust, die schön und fest bleiben würde, weil ihr Geliebter tot war und sie nicht zur Hanuma machen konnte. Sie sah auf das kleine Etwas herab, das von ihm bleiben würde... würde es? Die Säuglingspflege ist nicht sonderlich hoch entwickelt auf dem Balkan ... Windeln gibt es nicht, das Kind bleibt liegen in der Asche neben dem Feuer, so weit es die Mutter nicht mit sich nimmt beim Hüten der Herde in Vergwind und Berg- kälte. Lange säugt sie es nicht, dann bekommt es die scharfe Milch der Schafe und Ziegen, und bald wird auch das schwer verdauliche Maisbrot hineingebrockt.Auf diese Weise", sagte mir später ein Arzt unten im Tal,sterben von zehn Kindern sieben. Aber was übrig bleibt, das gibt den richtigen Balkanesen. Den kann man mit Dolchen durchbohren oder von Felsen stürzen oder vierzehn Tage hungern lassen der ist nicht tot zu kriegen, der ist so, wie ihn das Leben in dieser harten, unerbittlichen Karstnatur braucht. Was wollen Sie? Es ist ein rohes Prinzip, aber ein notwendiges: das Land ist arm: wenn unsere sentimentalen Damen aus den Städten im Bunde mit der Regierung es schaffen und den Leuten Hygiene beibringen, auf daß wirklich alle zehn am Leben bleiben dann können nachher sieben davon verhungern. Es sei denn, daß man Beschäftigung für sie fände: daß Industrie ins Land käme; ja dann.." Industrie! Das war die Sehnsucht hier, der Glaube, die Zukunft. Zum zweitenmal reckte sich diese Frage vor mir auf: War dem Lande hier durch Industrie zu helfen? Dies war ein Intellektueller gewesen, ein Arzt, er hatte geträumt von Fabriken, die Geld bringen würden, Geld und Kultur. Vor meinen Augen aber lagen die dröhnenden Maschinen-! hallen mit dem laufenden Band, daran die Kraft der Ar- 1

beiterarme im ewig gleichen Handgriff erstarb, ich roch noch den Atem der Schornsteine, der die Luft zur Pest machte, und meine Haut fror mit den Erwerbslosen, die vor den Arbeits- ämtern frierend von einem Bein aufs andere traten... Ein Rauschen von Schritten schreckte mich auf: sie trugen Hassan und Cyardan auf rasch gezimmerter Bahre aus der Hütte, auf den Schultern des Alten und der Brüder und des Türken, und nahmen den Weg zur Straße hinunter. Ich folgte ihnen, denn auch meine Arbeit hier war mit Hassans Tod zu Ende. Man hatte mich gefragt, ob ich bleiben wollte an feiner Stelle: aber das wäre eine Verpflichtung für Jahre gewesen: und mich lockte das Weite. Die Frauen kamen uns nach, aber Anja blieb in der Hütte und säugte ihr Kind... eines von zehn: würde es zu den sieben gehören, denen der Tod bestimmt war, oder zu den dreien, die im Leben blieben...? Unten auf der Straße warteten drei Mohammedaner. Sie lösten die drei Hirten ab. Ich verabschiedete mich von ihnen, herzlich und sachlich zugleich, und eilte dem kleinen Zuge�vor mir nach. An den vier Ecken der Bahre ragten die vier Feze wie vier dicke rote Kerzen und leuchteten, leise flackernd bei jedem Schritt, und auf den wiegenden Schultern fuhr der Tote wie in einem Schiff über das steinerne Meer seiner Berge. Wir gingen lange so, wir wurden immer mehr. Fast überall da, wo Weidepfade an die Straße stießen, warteten befezte Hirten aus fernen Hütten und nahmen den Trägem stumm ihre Last ab und trugen sie bis dahin, wo die nächsten warteten. Es waren Freunde Hassans darunter, und weit herbeigeeilt waren vor allem solche, die seine Feinde gewesen waren: denn Allah will, daß Friede sei um einen Toten. Nach drei Wegstunden stieß die schmale Nebenstraße an ihre große Schwester, die nach Konstantinopel führen sollte, wie man sagte: in den Ecken, die so entstanden, lagen sich eine kleine Dsamia und ein kleiner Friedhos gegenüber. Die Jünger Mohammeds legen ihre Friedhöfe gern da an. wo eine kleine Straße in eine große mündet... Sie trugen Hassan Chardan in den Hof der Moschee und betteten ihn auf einen Stein am Brunnen. Der Imam kam und wusch ihm Hände. Füße und Antlitz mit geweihtem Wasser. Dann bedeckte er Hassans Gesicht mit einem Tuch: von nun an war es verschlossen vor der Welt und die Welt vor ihm. von nun an sahen Hassans Augen die weißen Leiber der Huris im Paradiese.(Forts, folgt.)