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Tlnmni van Qogk Stildnis eines lUenfchen/ Ton Qünlher SMrkenfeld
Der Autor der Romane ,.D ritter Hof links" undA n d r e a s" fetzt sich hier in seiner Weise mit Vincent van Gogh   aufeinander. Viele wissen, daß Vincent van Gogh   einer der größten Maler Europas   war, wenige wissen, daß er von Geblüt und Wesen nichts anderes als ein Urchrist gewesen ist. Sein Leben war be< ständige Bewährung jener höchsten Möglichkeit der Liebe, die wir Hingabe nennen. Der Sohn des Landpfarrers. Er selbst nannte sich einen Soldaten,..Soldat Gottes". Er war einer seiner demütigsten und tapfersten. Sein Opfermut war bar jeglicher Eitelkeit und sein brüderliches Werben um den Men- schen und um alle Geschöpfe der Natur war erfüllt von einer solchen Ehrfurcht, daß Dank ihn schmerzte und Lob ihn beschämte. Als Sohn eines protestantischen Landpfarrers kam Vincent 1853 in der holländischen Provinz Brabant zur Welt. Er entstammt dem Halbdunkel, darin Rembrandts   Menschen leben, der stürm- verdiensteten Landschaft des R u y s d a e l. Zeit seines Lebens bleibt Vincent der Sohn dieser Ebene, bäurisch und ungelenk. Schweres Blut, das leicht dumpf wird. Dann ist er reizbar und übertreibt hemmungslos. Er war nicht schön. Sein Gesicht war so spröde wie sein Wesen. Wulstige Backenknochen, spitzes Kinn, eine überschwellte Stirn und rötliches, bürstenförmig aufgestelltes Haar. Seine Figur war eckig, mst Hängeschultern. Das Bewußtsein seiner Häßlichkeit, das er vor sich selbst übersteigerte und auch auf sein Inneres hinüberzog, vsr- mehrte seine Scheu vor den Bürgern, seine Unsicherheit vor den Snobs der Boulevards". Um so ingrimmiger bekannte er sich zu den Bauern und Arbeitern, zu allen einfachen und starken Men- schen, in deren Gesichtern das Leid menschlichen Daseins sich groß und hart eingekerbt hatte. Die Grubenarbeiter im belgischen Kohlendistrikt Borinage, der Briefträger Roulin in Arles   und der nachsichtig grinsende Krankenwärter im Irrenhaus von St. R e m y, das waren die ein» zigen Freunde, die Vincent, der unauslöschlich nach Freundschaft dürstende, während seines Lebens fand. Und dann war noch Theo da, der Bruder. Angestellter der Kunsthandlung Goupil-Paris. Er war mehr und weniger als ein Freund. Er war der duldsamste und großherzigste aller Brüder, den ein Genie je besessen hat... und war zugleich der Mäzen, dessen mühsam abgespart« Geldopfer für den überempfindlichen Vincent ein« beständige Demütigung bedeuteten. So war Theo der einzige gute Stern und eine ewig lastende Wolke. Theo starb 1890, ein halbes Jahr nach dem älteren Vincent und bald nach dem ersten Verkauf eines einzigen Bildes. Es brachte ihm vierhundert Franken. Sie«. Auch Sien  , die einzige Frau, mit der Vincent für ein kurzes sich zusammentat, kam aus der niedersten Hefe. Vorher, als Kommis in einer vornehmen Londoner   Kunsthandlung, hatte Vincent sich in ein Mädchen von Stand oerliebt. Monate hindurch war der bra  - bantische Bauernpfarrerssohn nicht gewahr geworden, daß das Mädchen Ursula längst verlobt war. Und dann oersuchte er es noch einmal mit einer Amsterdamer Kusine. Sie war alt und auch nicht schön. Vincents rechtschaffene Pastoreneltern waren empört, weil des Sohnes tolpatschige Art das gute Einvernehmen mit den Ver- wandten gefährdete. Die Kusine rettet« sich von seinen Werbungen durch Strychnin. Danach verzichtete Vincent. Jetzt blieb nur noch ein«, die so gering war» wie er selbst sich fühlte. Sien  , das Mädchen der Straße. In dieser Lieb« zum erstenmaf offenbart sich der Urchrist, makel- los und ungestüm. Er will Sien   gut machen, nimmt sie zu sich mit ihren zwei Bastarden in das elende Lattenquartier Im Haag, hun- gert mit ihr und kämpft um sie. Endlich muß er einsehen, daß er ein Maßloses, ein unerreichbares Vielzuviel gewollt hat. Beim Ab- schied sagt er zu Sien  :Wenn du nur so handelst, daß die Kinder in dir, auch wenn du nur eine arme Magd und Hure bist, eine Mutter finden, dann bleibst du mit deinen vielen Fehlern in meinen Augen gut. Auch ich werde es für mich versuchen. Ich muß hart arbeiten. Tu du das auch!" Vincent, der Apostel der Hingabe, wie kam er denn eigentlich zum Zeichnen und Malen? War nicht von jungauf seine Ver- ehrung für die heimatlichen Meister wie auch für D e l a c r o i x, für M i l l e t und D a u m i e r so groß, daß et sich seiner eigenen gelegentlichen Versuch« nur immer schämte? Laienprediger und Maler. Ja, dies ist eine Geschichte, ergreifender wohl noch als jene mit Sien  . Angewidert vom Kunsthandel, vomTulpenhandel", wie er ihn später nur noch nannte, war der Zwanzigjährige aus London  nach Paris   geflohen und begann dort Theologie zu studieren. Doch auch das Treiben der Gottesgelehrten stieß ihn bald ab. Bin- cent beschließt, Laienprediger zu werden, zum Entsetzen des pharisäischen Vaters. Er geht in den Kohlendistrikt Borinage. zur Universität des Elends". Freude und Licht will er bringen den Grubenarbeitern, die in Finsternis ihr karges Brot verdienen müssen. So sitzt er an ihren Tischen und spricht und darbt mit ihnen. Der vorgesetzten Behörde mißfällt dieses herzliche Einver- nehmen und mehr noch das Stillschweigen, durch das Vincent mit dem Streit der Grubenarbeiter sympathisiert. Das Predigen wird ihm verboten. Vincent, da er nun nicht mehr in Worten von seiner Gläubig- keit mitteilen darf, greift zu Kohlestift und Pinsel. Jetzt will er künden von Gott, indem er alle Wunder des Wachstums seiner Natur und ollen Zauber ihrer Farben schildert. Und dies muß auf so einfache Weis« geschehen, daß es auch der einfachste Mensch zu be- greifen vermag. Angeleuchtet sollen sie werden, die im Dunkel fronen müssen, reicher sollen sie sich fühlen und vielleicht sogar ein wenig verzaubert. Niemals Hot Vincent für dieSnobs der Boule- oards" gemalt. Niemals konnte er in Paris   heimisch werden. Den alten Propheten auch hierin gleich, ging er in die Wüste, in die Ein- sam/eit des Südens, dorthin, wo Gottes Wachstum reich sich ent- faltete, wo seine Forben inbrünstig brannten. Immer mehr wird der Schwung des Pinsel» der Schwung des Säens selbst und des Erblühens aus dem Blütenkern. Vincent kann nicht ahnen, wie sehr alle seine Arleser Blumen aus der Mitte seines Herzen» entwachsen, wie vollkommen die Zypressen empor- lodern aus dem Feuer seiner Gläubigkeit. Nein, er bleibt demütig. ewig zweifelnd und unzufrieden, obgleich er täglich bis zur Er- schöpfung arbeitet, oft nicht mehr als etwas Brot und Kaffee im Magen, häufig kränkelnd und resigniert. Zehnmal in zehn Tagen malt er dos gleiche Stück goldgelber Aehren und fünfzehnmal die blühenden Obstbäume von Arles  . Immer scheint ihm die innerste Meinung und da» Wirken Gott  «» in seinen Geschöpfen noch nicht sichtbar, nicht begreiflich genug abgeschildert zu sein. Nie hat Vincent aufgehört, das Kunstschaffen als eintünst-
liches Dasein" zu empfindenKinder zu machen wäre besser"! Und er beneidet Jesus von Nazareth  , der sich in keinem anderen Material als im Menschen selbst bildete und formte. Ja, armselig fühlt er sich, weil er nur nach dem Objekt, nichtper eoeur", aus freiwaltender Phantasie schaffen kann.W ann ober werde ich die Sterne malen?" klagt er zum Bruder nach Pari» hin. Wiederholt bekennt er, daß er sich nur als einDorbereiter für jene Maler der Zukunft fühl«, die dereinst hier im Süden schaffen werden". Ja, da ist er wieder und immer wieder, der Bruder- schofts-, der Gemeinschaftswille! Er läßt Theo keine Ruhe mit der Bitte, doch eine Genossenschaft für die jungen I m p r e s s i o- nisten zu organisieren. Und unermüdlich bettelt er den bewun- derten und schon überschätzten Freund Paul Gauguin  , doch zu ihm nach Arles   in das gelbe Haus zu kommen. Einer für sich ist nichts, aber zwei zusammen sind unüberwindlich! Wochen hindurch hat Vincent gehungert, um das Haus für den geliebten Freund ein- richten zu können. Die Gasleitung allein hat zwanzig Franken ge- kostet. Das sind zehn Mittagsmahlzeiten und viele Pfeifen Tabaks. Der Zwistchenfall Gauguin. Endlich kommt Gauguin  . Eine Weile geht alle» gut. Die Freunde arbeiten und diskutieren miteinander. Gauguin   lächelt zwar oft über diesen lallenden Bauernpfarrerssohn und vernimmt nicht, daß letzte Erkenntnisse von des Freundes Lippen kommen. Aber Vincent ist so dankbar, daß er Gauguin   nun endlich bei sich hat, daß er sich.. endlich einmal!.. aussprechen darf! Zuletzt wagt er, seinen innersten Wunsch auszusprechen, den Lebens- und Wesenswunsch eines Urchrstten. Das geschieht in der Dunkelheit des Arleser Stadtgartens,.. bei hellem Lichte wäre die Scham zu groß. Stockend fragt Vincent den Freund, ob er wohl in Arbeitsgemeinschaft mit ihm Bilder schaffen würde. Der phantasiereiche, großzügig bauende Gauguin   soll die Gesamt- entwürfe liefern. Und er, der armselige Vincent, will nur einige Details ausführen,.. eine Oleanderblüte, eine Zypresse...
Gaugyin... lacht und läßt Vincent stehen. Gauguin  , d°r wilde, athletische, abenteuersüchtige Individualist zerlacht d>e frömmste Sehnsucht des Urchristen und geht zum Haufe der Mad- chen, die schwärmerisch zu ihm ausblicken. Vincent, von der monatelangen Arbeit in der erbarmungslosen Arleser Sonne   ausgelaugt, bricht auf einer Bank zusammen und jault wie ein geschlagener Hund. Verhöhnt vom einzigen Freunde der Traum von einer Kunst der Zukunft, von der C o o p e r a t i v e, da viele Gute gemeinsam das Beste schaffen sollen, zurückgestoßen der armselige Vincent in gänzliche Einsamkeit! Am nächsten Tage wirft er nach Gauguin   mit einem Absynth- glas. Und dann schickt er einem der Mädchen sein Ohr, weil sie sich'» im Scherze zum Weihnachtsfest erbeten hatte. Gauguin   ver- läßt Arles  . Fünfzig und mehr Arleser Bürger belagern das gelbe Haus des kc>u-rc»ux", wie Vincent schon lange im Städtchen genannt wird. Bleich und ausgezehrt, die Pelzmütze tief in die Stirn, so spricht er vom Fenster zu ihnen nieder... von Gott   und von der Liebe zum Menschen. Die fünfzig wiehern vor Gelächter. Dann die Gummizelle. Zwischen den Anfällen darf Bin» cent malen, malt in dem Bewußtsein, daß seine Tage gezählt sind, mit verdoppeltem Fanotismus, malt Bilder von solch leuchtender menschlicher Hingabe, wie sie seit Rembrandt  , dem verzerrt lächeln- den Magier mit der roten Mütze, in Europa   nicht geschaffen worden waren. Geduldig nimmt Vincent die Krankheit hin, wacht über sich selbst wie ein weiser Arzt und grämt sich nur sehr um Bruder Theo. weil der sich so sehr um ihn grämt Und nachdem sich Vincent in Auverz s u r Oise eine Kugel in den Leib gejagt hat, weil sein Arzt und Freund Dr. Gachet Meisterwerke der kindlich verehrten Väter P i s s a r o und C i- z a n n e s noch immer ungerahmt auf dem Boden liegen ließ, schreibt er an Gauguin  :Mein lieber Meister, es ist würdiger, nach- dem ich Sie gekannt und gekränkt habe, bei voller Geistesklarheit, als in einem entwürdigenden Zustande zu sterben." Theo wachte bei dem Sterbenden. Vincent rauchte feine gev liebte Pfeife. Gemeinsam betrachteten sie seine vielen Bilder. Und fragend, yngstvoll fragend, haftete Vincents brechendes Augs auf Theo, der in dieser Stunde zum erstenmal erahnte, wer und was Bruder Vincent gewesen war.
£uflballom Tiergarten Studie/ Ton JCotar Holland
Ein Busch durchsichtiger blauer, roter, grüner, gelber Kugeln, die wie mit den giftigfarbigen Zitronen- und Himbeersprudeln, und ähnlichen bunten Erfrischungswassern getaufte barbarische Riesen- seifenblasen aussehen, schwebte an dem Seil ihrer zusammen- geflochtenen Fäden fluglüstern in der Luft torkelnd über den Reihen weißgestrichener Tische unter dem lichtgrünen Gewirr der Baum- krönen hin. Der Restaurationsgorten war vollbesetzt von Mann, Frau, Kind und Stullenpapieren, Familien, die in soliden, dicken Zweiliterkrügen Kaffee aufbrühen durften und Noch-nicht-Familien, die sich mit geringeren und nicht selbst gekochten braunen Quanti- täten in zwei Tassen begnügten. Die ländliche Sonne meinte es gut und warf heiße goldne Schleier wahllos über die kiesigen Wege und dos Menschengewimmel hin, wo gerade das Blätlerdach den flirren- den Himmel durchschauen ließ. Die lustigen Luftballons zwanzig Pfennige das Stück!", bellt der Ruf des Ballonoerkäufers in dem Stimmengewirr auf, den Garten noch allen Richtungen hin durchkreuzend, bis das An- gebot akustisch gleichmäßig über die Luftfläche verteilt ist. Dann humpelt der Verkäufer mit leicht noch innen getretenen Füßen, noch rechts und links blinzelnd und den Hol» unter ständigem Kopfzucken am schweißdurchtränkten Kragentrümmer reibend, durch den Mittel- weg nach hinten auf den freien Einfahrtsplatz der Gastwirtschaft, den das Wirtschaftsgebäude, ein Tanzfoal, der Getränkeausschank und die Toiletten einschließen, und stellt sich mißmutig neben den Ausschank. So versperrt er ungewollt der blonden Mamsell hinter dem Schanktisch die freundliche Aussicht auf den am ersten Tisch links sitzenden jungen Herrn. Er ist ein seelischer Bär und kümmert sich um das Fräulein nicht, das den gutgewachsenen Körper und die nicht minder wohllebigen Gliedmaßen von Berufs wegen in einen kaleidoskopartigen Hantelntanz mit Gläsern, Bechern, Mollen und Schalen weißen, gelben und dunklen Inhalts auflöst: die gebleichten Kellnerkittel eilen hinter den Gläsern her, und wenn das Fräulein in einer Ruhepause ihre von Gott   gewollte Gestalt zurückfindet, sieht sie jetzt links vor sich nicht mehr das freundlich lächelnde Antlitz des jungen Herrn, sondern das bärtige Gesicht des seelischen Bären, der auf die Straße hinaus glotzt und in der rechten Hand stumpfsinnig teilnahmslos den sadigen Stamm der leichtbeschwingten Ballon- palme über sich sesthält. Das ist wahrhaft trostlos, und wenn sich gerade«in Troß Familienzusammenhang zum weit geöffneten Staketentor hereinwälzt, ruft sie dem Hinderlichen in ärgerlich drängendem Befehlston zu:Gehn Sie doch endlich wieder mal rum, die Kinder werden Ihnen Ballons abkaufen wollen, Herr Engelbert... ich an Ihrer Stelle ach, die Leute wollen doch taufen gehn Sie nur..." Der Bär glotzt verständnislos neben sich: wie er das Fräulein sich erregt zu ihm über den Schanktisch beugen sieht daß sie eine ersehnte Sicht an ihm vorbei sucht, ahnt er nicht rinnt ein tauiges Lächeln aus seinen Augen, für einen Augenblick nur, dann reibt er rasch mit einem kurzen Ruck den Hals am rissigen Kragen und glotzt wieder geradeaus. In der Zeit, während sich das Fräulein beruflich auflöst und dem suchenden Blick des jyngen Herrn am ersten Tisch nicht widmen kann, hat Herr Engelbert den ihm so nahe gelegten Rundgang durch den Garten unternommen, die Ballon» wie ein enges Rudel von Luftwalftschbabys ein wenig durch ihr Element geführt, den Flug- trunkenen so ungefähr angedeutet, wie e» wäre, wenn sie sich aus seiner Hand befreien könnten und steht in dem Augenblick wieder zwischen Ausschank und dem ersten Gartentisch, wie da» Fräulein ein plötzliches Interesse am Restourationsbetrieb zum Vorwand nimmt, den Kopf prüfenden Blicks zum Mauerausschnltt hinaus- zustrecken. Der erschrockenen liebesbedürftigen Mamsell erschien er mit den lustigen Bollonkugeln über sich wie«in finstres Walroß, das sich ein paar pralle, muntre Wälfischjunge geraubt und aus- gezogen hat, um sie eines Tage» zum Zeitvertreib mit den Hauern zu zerstechen. Aus reiner Mordlust. Da» Fräulein überlief es bei diesem romantischen Einsall schaudernd kalt, wie e» vereinsamt. hinterhältig von dem jungen Herrn getrennt hinter der Theke stand, der vom ersten Glas Bier an au» Blickesarüßen eine zarte Freund- schaftsbrücke zu ihr hinüber gewebt hotte. Des Fräuleins milde Seele wallt« in harter Verbitterung resignieren, da kamen zwei Kinder über den Platz gesprungen,«in Modchen in rosaseidigem Kleidchen hielt dem Bären zwei Zehnpfennigstück« entgegen, und dieser brachte allmählich soviel Bewegung in seinen schwerfälligen Körper, daß er die Geldstücke einsteckte und da» bunt« Ballonrudel herabzog, um aus den Fadenenden da» richtige herauszunesteln: hierbei gab cr
den sehnenden Augen neben sich den Blick aus den ganzen Garten mit Vorder- und Hintergrund, den Bäumen, Tischen, Gästen und natürlich auch dem ersten Tisch vorn links frei: der junge Mann hotte den Kopf zur Seite gesenkt und saß da in der prallen Sonne. Unendlich schade, daß er nicht aufblickte, gerade in diesem Äugenblick sich abwenden mußte. Aber es war ein sehr sympathischer junger Mann. Zweifellos gut gekleidet, solide und doch noch mit einem verführerischen Glanz von jugendlichem Sturm und Drang  über Mund und Stirn. Nun so sollte er doch nicht in d->r prallen Sonne sitzen, seit Stunden schon, und da» kalte Bier trinken, dachte das Fräulein bange und schmollt« ihm wegen dieser Liebesunvor- sichtigkeit. Sein Kops sah aus wie ein blonder, wundersamen Ballon... ober da stieg vor dem Gortenausblick wieder das Rudel mattglönzender Kugeln hoch, und des Fräuleins Augen glitten von der Mauer des bärbeißigen Gesichts cK>. Ein lieber Jungs... mit diesem Gedanken löste sie sich wieder in ihre beruslichen Bewegungen auf: das kleine Mädchen lief mit dem roten Luftballon aus dem Gortenoorplatz Schlangenlinien, Dreier, Achter und �antasiebuchstaben ab, das torkelnde Luftwalfisch­baby in Sprüngen über sich nachziehend: der Bär hatte durch dieses eine Geschäft soviel Mut bekommen, hin und wieder sein Angebot: Die lustigen Luftballons zwanzig Pfennig das Stück!", auszu- rufen: die Kellnerkittel flogen den Bierseideln in den Garten nach, als wollten sie diese unterwegs überholen und sich selbst als Gaste an den Tischen sitzend vorfinden, diese Schäker: es war wirklich sehr lustig: das Mädchen hatte aus Bindfadenstücken ein ganz langes Flugseil für den roten Ballon zusammengeknüpft und ließ ihn jetzt hoch in die Luft gegen die Baumkronen und die Dachvorsprünge des Saalbaues klettern. Der Bär neben dem Ausschank hatte sich eben über das stoppelige Kinn gerieben und den Entschluß gesaßt, wieder einen Rundgang durch den Baumschatten zu unternehmen, da waren Ballon und Ballonseil plötzlich zweierlei, denn dieses fiel dem kleinen Mädchen aus hoher Höhe schlaff über das rosa Kleid, während die rote Kugel mit leichtem Abschtedsnicken in das All entschwebte: das runde Tierchen wurde immer kleiner und fand dorteoben sogar den Mut, sich einen selbständigen Weg aus dem menschlichen Blickreich heraus zu wählen: seine an die Hand des Herrn Engelbert gefesselten Brüder sahen ihm darob mit Erzittern nach. Einige Minuten hatten die Gäste im Garten also über etwas lächerlich zu lachen, was weder paradox noch scheinbar naturwidrig war: dann brachte das unent- wegte Mädchen aus der Geldtasche seiner Mutter noch einmal zwei Zehnpfennigstücke, zuzüglich der Ermahnung, besser auf den Ballon aufzupassen, und der Verkäufer hatte sich zum bevorstehenden Rund- gang innerlich soweit vorbereitet, daß er der Kleinen enigegcnqing. Das Fräulein vergaß eine Bierbestellung in dem Zwange, das Glück der freien Sicht nach dem ersten Tisch links auszukosten. An den ersten Tischreihen hatte sich eine wirre Erregung der Gäste bemächtigt: zwei Kellner kittelten weiß wie Segler im Wirbel- wind um den ersten Tisch: endlich verschaffte sich ein resoluter Herr im Durcheinander Geltung und dann allgemeine Achtung durch seine die Ungewißheit beruhigende ärztliche Mitteilung, daß der junge Mann am Hitzschlag gestorben sei... immerhin aber und nun entwickelte sich jene» mit Beklemmung überschattete Getriebe der Betulichkeiten. Sorgsamkeiten, Hin- und Hergänge, leichten Uebel- keitsansälle und dergleichen, die im Gefolge eines unerwarteten nahen Todesfalles zu sein pflegen, von dem da» Fräulein trotz aller- bester Sicht nur einen irgendwo im Grauen dahinziehenden Schleier von Vorgängen wahrnahm, der sie in ihrem lustlos gewordenen, schematischen Körpertonz nicht berührte. Als der junge Mann somit sich und den Eindruck seine» Todes aus dem Leben und der Er- innerung der Ueberlebenden gewischt hatte, war es mittlerweile Abend geworden. Abendpaufe für die Mamsell, die den Ausschank der Gastwirtsfrau überließ und über den Hof, der Küche zu, ging. Herr Engelbert hockte in dem breiten Ausgabeienfter der tiefliegen­den Küche, neben sich einen Teller mit Wurstschnitten, vor sich auf den Knien den Ballonbusch. aus dem er behutsam eine Kugel nach der anderen löste und deren Luft leise pfeftend herausließ. Wenn ein Ballon nicht rasch genug schlaff zusammenklappen wollte, preßte er ihm zwischen den Handflächen da» Leben ungeduldig au». Da? Fräulein fühlte sich in seltsam weicher Seelenstimmunq und nickte dem Bären im� Vorbeigehen freundlich zu. denn es war ihr ein schrecklicher Gedanke, daß sie sich ohne de» Alten Dazwischen- treten beinahe in«inen Sterbenden verliebt hatte. Und dos hätte doch wirklich zu viel Trauer süc zu kurze Liebe gegeben.