3lr. 409 415» 49 Jahrgang
5. Beilage des Vorwärts
Sonnabend, A. September 4 932
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was sagen, aber was, was, was?„Wunder- schön, wirklich, wun.. Die erwartet nun was, hat sich Sorgen gemacht, nun muß man was sagen, irgendwas mit Liebe und Gefühl, aber das geht doch nicht so auf Kom- mando, gerade weifs erwartet wird, gehts
»I Olga erzählt von Reisen nach Kairo und Luxor, von Fahrten nach Spitzbergen , Gilgi geht zur Telephonzelle, um nach Hause zu telephonieren. Als sie wiederkommt, emp- findet Herr Reuter Olga nicht mehr als störend. Gilgi verschwindet nach einiger Zeit für eine Viertelstunde auf die Toilette. Herr Reuter erinnert sich, daß eigentlich„blond" sein Typ ist. Er wird geistreich. Olga sieht ihn bewundernd an. und Herr Reuter ist überzeugt, sich sein Lebelang unterschätzt zu haben. Gilgi kommt zurück, sitzt still und be- scheiden da und läßt sich von Olga über- blenden. Sie ist ein unscheinbares, kleines Mädchen. Herr Reuter erinnert sich an etwas verrostete Prinzipien: mit Angestellten keine Liebschaften anfangen und so weiter. Gilgi geht für zehn Minuten ins Vestibül, um nach einer Zeitung zu suchen. Durch cremefarbene Spitzen schimmert Olgas frische, rosige Blondinenhaut und überzeugt Herrn Reuter, daß Olga„die" Frau ist, die ihn versteht. Eine halbe Stunde später bringt er erst Gilgi, dann Olga nach Hause.
Frühmorgens, eine Viertelstunde vor Ab» laufen des Weckers kommt Frau Krön in Gilgis Zimmer und setzt sich zu ihr auf den Bettrand. Mit ihren braven, rauhen Haus- frauenhänden streicht sie über Gilgis nackte Arme, ihre mageren Kleinmädchenschultern. Einen Augenblick lang spürt Gilgi keine Lust, über die ungewohnten Zärtlichkeiten zu staunen, noch sie abzuwehren. Die ver- traute Körpernähe der Mutter, der leichte Kernseifengeruch ihrer Hände versetzen sie in einen Zustand animalischen Wohlbehagens und nestwarmer Geborgenheit. „Iilgi, mein Kind, du hast mich doch lieb, nicht wahr?" „Was ist los?" Gilgi fährt auf und sieht erschrocken und mißtrauisch aus. „Du hast mich doch lieb, nicht wahr, Iisgi?" Gilgi sieht die Mutter an: ihre fleischigen Wangen sind heißrot gefärbt wie nach besonders geschäftigen Wasch- und Kuchenbacktagen. Gilgi begreift, daß die Frage nur eine Einleitung ist, weiß der Himmel wozu. Komische Einleitung. Ueber- flüssige Frage. Sie hat nie darüber nachge- dacht, ob sie die Mutter lieb hat. Mitleidig streift ihr Blick über Frau Krons breiten, verfetteten Rücken. „Iilgi, du wirst heute einundzwanzig Jahr alt." „Das weiß ich." „Tja", sagt Frau Krön und wieder„tja", dann schweigt sie. Ihre blassen, vollen Lippen bewegen sich, zittern. „Nu red' schon, Mutter." Frau Krön schweigt. Gilgi schiebt ungeduldig ihre lan- gen, schmalen Füße unter der Bettdecke vor — sie könnte schon immer ihre Turnübung machen. „Iilgi!" Frau Krons Stimme klingt hoch und trocken,„du bist nämlich nicht unser Kind." Gilgi vergißt zu atmen. „Was— hast— du— da— gesagt?" „Du bist nicht unser Kind." „So!" Gilgi begreift nicht ganz. Zehn Minuten später hat sie begriffen.„So", macht sie noch einmal. Immer schön fest auf den Füßen stehn, ja nicht wackeln. Wenn weiter nichts ist. Ihr Gesicht ist gleichmütig, sie reagiert nach innen. „In zwanzig Minuten bin ich am Kaffee- tisch, Mutter". Frau Krön begreift, daß sie gehen soll. „Nimm's dir nicht weiter zu Herzen, Kind." „Nein", sagt Gilgi und macht die erste Rumpfbeuge. Frau Krön geht. Immer hübsch fest auf den Füßen stehn. Auf— nieder. Ihr soll's nur recht sein so. Warum wohl mit dieser Eröffnung ausge- rechnet bis zu ihrem einundzwanzigsten Ge- burtstag gewartet wurde? Es fällt ihr nicht ein, sich durch solche Sachen aus dem Gleich- ewicht bringen zu lassen. Soll sie er- Hüttert sein? Verlangt man heftige Ge- mütsbewegungen von ihr? Muß sie etwas Besonderes tun? Wie benimmt man sich in solchem Fall? Eine kleine Näherin ist ihre Mutter. Vater unbekannt. Von Proletariern stammt sie ab. Das freut sie, denn sie hat nie Wert darauf gelegt, zur bürgerlichen Gesellschaft zu ge- hören Gilgi geht in das Plüschzimmer. Der Wasbington, das tuchene Rechteck, der zeitunglesende Herr Krön— alles ist ihr genau so fremd, wie es ihr immer war.
Nicht mehr, nicht weniger. Auf dem Tisch steht der übliche Geburtstagsnapfkuchen mit den schönen, regelmäßigen Ondulations- wellen. Ueber die Sofalehne gebreitet liegen Frau Krons Geschenke: dunkelblauer Sei- denstoff für ein Kleid, lange weiße Glac«�- Handschuhe(beides mit Gilgi zusammen ge- kauft) und aus eigenem Antrieb eine Flasche Eau de Cologne und eine unverwendbare Tasche. In der Tasche steckt Herrn Krons jährliches Geburtstagsgeschenk: ein Fünfzig- markschein. „Danke, Vater." Gilgi gibt Herrn Krön die Hand. Er sieht von der Zeitung auf. „Laß dir jut jehn im neuen Jahr, Iilgi, bleib jesund und— denk jaanich mehr an das, was dir Mutter eben jesaacht hat." „Tu ich schon jetzt nicht mehr, Vater." „Na, denn is man jut." „Danke, Mutter." Gilgi küßt Frau Krön auf die Schläfe. „Iefalln dir die Sachen, Kind? Der Stoff is dekatiert. Was sagste zu der Tasche?" „Wunderschön, Mutter." Gilgi hält die Tasche in der Hand. Die Mutter guckt so ängstlich und erwartungsvoll, man muß noch
JH, giiqi. trink. Gilgi! nicht, da schiebt sich ein Riegel vor, fester, immer fester...„Ich— also— wunderschön, wirklich... also, ich— bin so froh, Mutter— wirklich." Ufff, Gilgi sinkt aus den'Stuhl. Wo andre Leute nur immer im richtigen Augenblick die richtigen Worte her- nehmen mögen?
„Iß. Iilgi , trink Iilgi." Iß, Gilgi, trink Gilgi. Sie würgt am Napfkuchen, hat keinen rechten Appetit. Iß, Gilgi, trink, Gilgi! Ver- flucht anständig von den Leuten. Haben mir einundzwanzig Jahre hindurch Woh- nung gegeben, Essen und Trinken. Haben mich was lernen lassen. Der Mann da, der da die Zeitung liest und den ich eigentlich nichts angehe, schenkt mir jedes Jahr fünf- zig Mark. Warum? Die dicke Frau da, die hat fünf Nächte lang geheult und nicht geschlafen, damals, als ich Scharlach hatte. Warum? Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Und ich? Womit Hab ich be- zahlt? Verdammt, ich Hab Schulden. „Noch ein Stück Napfkuchen, Iilgi?" „Danke Mutter." Ob ich nächstens mal mit ihr zum Kränzchen- kaffee gehe? Sinnlos verschwendete Zeit. Ob ich jetzt abends immer zu Hause sitzen soll? Sinnlos verschwendete Zeit. Jedes Beisammensein mit euch ist sinn- los verschwendete Zeit. War's, ist's, wird's immer sein. Iß, Gilgi, trink, Gilgi. Also, wenn ich jetzt auch nur eine halbe Träne heule, schlag' ich alles kaputt. (Fortsetzung folgt.)
i'/iof. taramounl.
3)ie drei verbotenen �age Sin kleiner Theater Stückblich
lllaiiarg im IHetropol .Sine.Trau, die weift, trau fie will' • Dies ist zuerst, ist als entscheidend festzustellen: was sich hier begibt, ist in ollem und jedem end- lich einmal ausatmen lassendes Abweichen von trister Schablone. Alfred Grünwalds „Frau, die weiß, was sie will" ist ein nettes Lust- spiel, ist Gesellschoftskomödic alter Schule mit ollen Qualitäten, mit all der sicheren Routine und traditionellen Theaterkultur dieser schon fast aus- gestorbenen Gattung: nicht ohne elegante Leichtig- keit, grazile Anmut, individuelles Parfüm: voll sentimentaler Pointen, die überlegener Zynismus sofort charmant pariert und parodiert: geschickt im Dialog und amüsant im Fluß der Szene, lang- weilig lediglich am Anfang, in der Exposition. Das ist aber immer noch besser als das Um- gekehrte, Uebliche. Musik ist auch dabei. Von Oskar Strauß sogar: Musik, die sich unter- ordnet, die das Spiel nicht aufhalten will und nicht aufhält, die— so wichtig sie in Wirklichkeit ist— ganz zufällig scheinbar und wie absichtslos sich leise wie auf Katzenpfötchen tastend aus dem Orchester auf die Bühne schleicht, halblaute, rafsi- nierte, ganz exquisit instrumentierte Musik, für Kenner und Liebhaber des Chansons eine erlesene Freude. Text, Szene und Musik, all dies ist gleichsam nur ein Mantel, den sich die Favoritin dieses Abends, die M a s s a r y, ganz wunderbar um die Schultern zu legen und zu tragen wußte: ein Mantel, der die Trägerin ob des Geschmacks, mit dem sie ihn gewählt, ebenso ehrt wie die Herren Schneider, die ihn ihr verfertigt. Ihre Partner sind ja sämtlich nur Statisten, ob nun mehr oder weniger im Hintergrund, ist gleich: sie stören wenig oder nicht. Ellen Schwannecke, ihre Gegenspielerin, ist zweifellos begabt, für diese Rolle prächtig ausgesucht, immerhin noch<wie die anderen alle, wenn die auch reichlich un- begabter sind): ein Typus. Der Typ des jungen Mädels von heute. Die Massary ober ist mehr als der Typ etwa der reifen-Frau im Widerstreit von Lebenshunger und Verzicht, von Fraulichem und Mütterlichem, Anmut, Wehmut: sie spielt individuelles Theater, einfacher noch, sie spielt Theater und spielt nicht sich selbst...(irgendwo freilich aus der Ferne doch wieder sich selbst). Mit wachem Bewußtsein, reifem Intellekt, mit souve- räner Virtuosität baut sie ihre Rolle aus aus tausend Kleinigkeiten, die wie geschliffene Facetten funkeln, balanziert sie das Spiel, setzt sie Lichter auf und dunkelt nach— kein Wunder, däß sie gefeiert wird, wie auch Berlin es selten nur erlebt. Arnolck Walter.
Polyhymnia in Gestalt von Frl. M a y o s, Geigen- virtuossin mit einem Schuß Gymnastik: Euterpe mit angreiserischer Augenblickslyrik, durch Elli G l ä ß n e r im Stil„Alt, aber gut" gebracht, und Terpsichore gleich in doppelter Ausfertigung: I o n i n a und L a z a r o w, Tänzer nicht von dem seltsamen Orte Nivenau, wie das Programm wollte, sondern wirklich von Niveau, und die 16 Glazarosss, bei denen die Tänze dekora- tiver waren als die Dekorationen. Dann sogar Klio , als nämlich Emanuel Steiner , im
übrigen durch geradezu grauenerregende Rechen- kunststücke verblüfsend, auch sein Geschichtswisjen unter Beweis stellte. Schließlich jene zehnte Muse, die eine unklassische Zeit sich erst neu erfinden mußte: durch den sehr jungen und sehr wendigen Gustl Stark-G stettenbau er, durch die vorzüglichen Artisten Presco u. Campo und durch den Illusionisten A r c a n o dreimal ver- treten. Bis hierher eine Folge ausgezeichneter Nummern, die man in solcher Einheitlichkeit der Qualität selten sah. Hingegen schien Polyhymnia
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Wunder um Ter dun
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Sleutlches Theater
ein neues Wabarell Dos Theater am Kurfürstendamm wurde zum Kabarett erklärt und auf den Namen Apollo getauft. Apollo selbst ließ durch Walter Rilla fein Fernbleiben entschuldigen: auch ohne- dies wäre dos Fehlen des Herrn der Musen be- merkt worden, der dos wirre Programm hätte ordnen können: man vergaß das Rezept der Hoch- zeit.zu Kana und bot zuerst den guten und dann den schlechten Wein. An Musen waren erschienen:
Während blankgeputzte Stahlhelmleute den Krieg als glorreiche Parade feiern, während der wilde Adolf seine Gelbhäute exerziert, während Generäle, die das Sterben befehlen, aber nicht gestorben werden, und deklamierende Frackhemden von Berlin bis Washington neu und rosig die Rüstungen schminken, kommt demütig und leise singend, schluchzend und vom Grauen geschüttelt der Dichter und schlägt und hämmert des Krieges furchtbaren Rhythmus: Massengrab und Toten- tanz. Der Dichter wird zur Stimme Gottes und die Schaubühne zum Weltgericht. Sehet, das ist der Krieg: Die Verwesung von Millionen, die starben, ehe sie reiften. Der Dich- ter springt vor die Front der konventionellen Lügen, stößt in die Posaune der Wahrhaftigkeit und spaltet die Gebirge der Hügel, stürzt die Wälder der Kreuze, bläst mit donnerndem Odem die Erde fort und ruft sie herauf, die vom Wahn Ermordeten, die sinnlos Erschlagenen, die Durch- stochenen, die Erwürgten, die Vergifteten. Sie kommen wieder, sie auferstehen: die Toten des Massengrabes. Schon stehen sie in Reih und Glied, noch schlotternd und frierend, jetzt aber von der Trommel ergrissen und fortgerissen in die wiedergewonnene Welt hinein, in den Som- mer, in die Ernte, in die Heimat. Ein Wunder ist geschehen: die Toten von Verdun marschieren. Marschieren gerade zur rechten Stunde, denn heute feiert der Erdball ihr Gedächtnis: Minister, Priester, Professoren weihereden, schwören ewiges Gedenken, geloben Sicherung des Sieges oder Rache für die Niederlage. Die Toten von Ver- dun marschieren, marschieren mitten hinein in die süße Gewöhnung der Lebenden, in die Schlaf- stuben der wiederverheirateten Witwen, an ihre längst neu besetzten Arbeitsplätze, zu den fetten Stammtischen der einstigen Notkameraden. Die Toten van Verdun marschieren und die Perücken wackeln, die Bürokraten rechnen und zittern: wenn sie alle auferstehen wollten, die teuren Gefallenen, dreizehn Millionen Tote, die wieder lebendig wurden: was geschähe mit der Ordnung, mit der Statistik, mit dem soliden Haushalt. Die Toten von Verdun marschieren, und die guten Bürger, die soeben noch Kränze stapelten, schreien um Hilfe: Rettet die Lebenden vor den Gespenstern! Der Völkerbund tagt: die Aujerstandenen von
Verdun dringen ein. Sie hören von akuten For- derungen der Landkarte, von Lebensfragen der Vaterländer: die Herren lechzen nach neuem Krieg, nach neuen Toten— mit den alten können sie nichts anfangen. Im Namen der Nation und des Kreislaufes der Gerechtigkeit, im Namen der lebendigen Erde und des unsterblichen Himmels werden diese ersucht, sich wieder in ihre Gräber zu begeben. Die Toten von Verdun marschieren, die Trommel voran, zum zweiten Male erschlagen, zersetzt, erwürgt, vergiftet... So sah es der Dichter, ein jugendlicher, früh verstorbener, nicht ausgegorener Dichter, aber ein Dichter, ein Vulkan, Hans Chlumberg . Ein Held. Ein Verkünder der Wahrheit, zugleich ein Zweifeln- der, vielleicht schon ein Verzweifelter. Dennoch ein Hofsender: schauet den Totentanz des Krieges, höret das Getöse der Knochen... Haltet Frieden. Mit der Vorführung dieser Dichtung hat Karl Heinz Martin eine neue Spielzeit des Deutschen Theaters eröffnet. Martin war mutig, aber nicht mutig genug. Pfiffe und Stink- bomben fürchtend, hat er vieles gemildert, manches umgebogen und allzu deutlich verdeutscht. Was aber wichtiger ist: War Martin auch klug, bühnen- klug? Die Wirkung der Aufführung war geringer, als das Erlebnis des(bei S. Fischer erschienenen) gedruckten Buches es ist. Das darf nicht ver- schwiegen werden. Ergibt sich solche Abschwächung aus mangelnder Gestaltungskraft Martins? Viel- leicht ein wenig aus der Willkür, mit der er verfuhr: er strich mehr als ein Drittel des Textes, auch Gelenke, auch Geistiges, Apokalyptisches, er verschachtelte, er tat hinzu. Doch das alles ist nicht das Entscheidende. Entscheidend mußte sein, daß das Schönste von des jungen Chlumberg Dichtung lyrisch entschwebt, daß der noch uner- fahrene Schriftsteller Chlumberg viele abgebrauchte Borbilder nutzte, die nun von der Bühne her langweilen, und daß das Stück, wie es schließlich (wohl nach schwerem Gebärkampf) geworden ist, zwei Probleme durcheinander mischt, einmal die Folgen, die es haben würde, wenn unvermutet die Toten, auch die zivilen, wieder Lebensrecht for- derten, zum andern: Krieg dem Kriege! Das Wunder von Verdun wäre hinreißender, wenn nicht bürgerliche Bagatellen den Herzstoß seiner Anklage ablenkten. Ködert Lreuer.