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Rr. 429 49 Jahrgang

3. Beilage des Vorwärts

12]

IRMGARD KEUN  :

Gilgi

eine von uns

Dann stehen sie vorm Dom. Ist der aber groß!" Gerdachen ist voller Bewunderung. ,, Du merfst aber auch alles, Gerdachen", sagt Gilgi   freundlich. Nein, Gerdachen und Irenchen haben beide keinen Beruf, helfen im Haushalt ein bißdjen- und bald werden sie wohl auch heiraten. Tante Hetty ist nicht für die neue Zeit, nur was ihr dran gefällt, pflückt sie sich raus: zum Beispiel, Gerdachen ist sechsundzwanzig und Trenchen dreißig Jahre, und das wäre früher alt gewesen für'n Mädchen, ist's jetzt aber nicht mehr.

Den ganzen Abend sizt Gilgi zu Hause bei den lieben Berwandten. Trenchen und Gerdachen führen ihre Karnevalkostüme vor. Gerdachen hüpft als Rosenelfe durchs Zim­

mer

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- sie hat etwas dicke Beine, ist aber dafür oben herum dünn und Frenchen zappelt in einem nedischen Pierrotgewand feß und selbstbewundernd auf der grünen Plüschsofalehne. Beide Mädels sind zwar nicht so schön, wie Tante Hetty sie findet, aber auch nicht ganz so häßlich und verblüht, wie Frau Kron bei sich feststellt.

Es wäre Zeit, schlafen zu gehen, aber man will Herrn Krons Nachhausekommen noch abwarten. Tante Hetty liegt auf dem Sofa. Sie ist ermattet von der Reise, ihre Füße find geschwollen ,, strengt ja doch an, sone Fahrt". Frau Kron ist ebenfalls müde. Gerdachen und Irenchen hampeln etwas lustlos in ihren Karnevalskostümen herum. Gilgi   hat sich am Morgen eine Reisebeschrei­bung aus der Leihbibliothek geholt fie möchte gern lesen, aber das würde unhöflich gefunden werden. Man ist sich gegenseitig ein bißchen lästig, jeder täte gern etwas an­deres als das, was er gerade tut. Aber man läßt sich nichts anmerken, gibt sich allgemein den Anschein, als wüßte man ungeheuer viel miteinander anzufangen.

Die halbe Nacht kommt Gilgi   nicht zum Schlafen. In den beiden kusinen löst nächt­liches Im- Bett- Liegen das bei Mädchen übliche Mitteilſamsbedürfnis aus. Gilgi   liegt auf der Chaiselongue. Rechts von ihr steht ein Bett links von ihr ein Bett. Rechts liegt Gerdachen links Jrenchen. Die bei­

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Kurz nacheinander kommen die dicke Müller und die kleine Behrend"

Phot. Paramount  

den albernen Kühe schwagen über sie hinweg von Tanzen und Männern und Viertel­verlobungen. Jedesmal, wenn Jrenchen einen gewissen Artur erwähnt, quieft Gerda­chen wie ein Frosch, der gerade überfahren wird. Gilgi   wird verworren aufgeklärt: also Artur ist und Artur war und Artur wird, nein, nein, nein, Reni, nicht sagen!" Bilgi wälzt sich von einer Seite auf die andere. Hält sich die Nase zu: Gerdachen hat sich vorm Bubettgehen ausgiebig mit einer Sommersprossenfalbe eingeschmiert, die

verpestet jetzt das ganze Zimmer mit ihrem Geftant.

Todmüde wankt Gilgi   morgens aus ihrem provisorischen Bett. Frau Kron hat an die Tür geklopft. Der Wecker mußte abgestellt werden, weil Gerdachen und Irenchen ja nicht geweckt werden dürfen. Die sollen schön ausschlafen. Gilgi   macht ihre Turnübungen. hin und wieder wirft sie haßerfüllte Blicke auf die beiden Schläferinnen: man sieht zumpliges, strohgelbes Haar, pappige Ge­fichter, ein bißchen fettglänzig um die Nasen herum. Faules Pack! Aufreizend zum Klassenhaß. Leute, die nicht arbeiten und so idiotisch, albern, verschlafen durch die Tage trotten, tann Bilgi nicht leiden.

Wohl und glücklich fühlt sie sich, wie sie. im Büro antommt. Sie ist nicht mit der Straßenbahn gefahren, sondern die knappe Stunde zu Fuß gegangen. Ihre Kleider riechen nach frischer Luft, und ihr sonst blaß braunes Gesicht ist leicht gerötet.

Sie ist die erste. Zehn Minuten zu früh

Leopold Gheri:

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ist sie gekommen. Oh, sie ist öfters zu früh da und nie eine Minute zu spät. Beinahe liebevoll holt sie ihren Stenogrammblock aus der Schublade. Streift die Wachstuch­hülle von der Maschine, bürstet die Typen fauber und spannt ein neues Farbband ein. Neues Farbband ist jedesmal eine kleine Freude.

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Kurz nacheinander kommen die dicke Müller und die kleine Behrend. Mojn" Mojn." Sie figen neben Bilgi. Beide sind nette Mädels, bißchen frech und leichtsinnig, aber nicht bösartig.

Die dicke Müller baut Berge von Butter­broten, eine Thermosflasche mit Kaffee und eine Tasse ohne Henkel vor sich auf. Die fleine Behrend erzählt von gestern abend:

und da sagt mir der doch...", sie flüstert mit der Müller, das stört Bilgi nicht weiter: die beiden sind dick befreundet, und die Behrend hat immerhin Erlebnisse zu be= richten, die für Nur- Kolleginnen nicht ganz gegeignet sind. Manchmal hat man das Ge= fühl, daß die Behrend nur abends was er­lebt, um es am nächsten Morgen der Müller lebt, um es am nächsten Morgen der Müller erzählen zu können. Die ist zu dick und zu bequem, um selbst Abenteuer zu haben, ihr genügt's, davon zu hören die Behrend erlebt eben für sie mit Dolles Ding. Nied­lich mit ihrem frausen, schwarzen Haar und den runden, braunen Augen ein Gesicht wie'n Eichhörnchen. Und immer in Betrieb, wie'n Eichhörnchen. Und immer in Betrieb, immer was los mit ihr, immer den neuesten Schlager im Kopf und im Blut. Jetzt sitzt sie auf dem Bürotisch, baumelt mit den

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Sonntag, 11. September 1932

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hübschen, frechen Beinen:... und wenn die Kapelle dann spielt so ganz süß und schmalzig- und ich bin mit einem, der mir gefällt, also ich weiß nicht, wie's ein Mädel macht, daß dann nachher nichts passiert... Fragend sieht sie auf Gilgi  . ,, Du kannst eben nicht nein sagen", stellt die dicke Müller be= friedigt fest. Die Kleine zieht betrübt eine Schnute, dann lacht sie: ,, Nein, kann ich auch nicht." Sie wirbelt in die Buchhaltung hin­über und flaut ein paar Tintenstifte,... es geht alles vorühüber... ,, denkt mal, wenn man nu' fünfzig ist, und feiner will einem mehr en Ruß geben!" Sie zupft an ihrer Bluse die hat ihr einer geschenkt. Warum soll ihr nicht mal einer' ne Bluse schenken? Schlecht ist ein Mädchen darum noch lange nicht. Sie fann sich nichts kaufen, muß ihr ganzes Gehalt der Mutter geben. Gilgi be= wundert die Bluse. Sie ist sehr elegant- mit Handhohlsaum und paßt so gar nicht zum fadenscheinigen Röckchen und den armen, ausgetretenen Schuhen. Gilgi   hat die nuttige kleine Behrend tausendmal lieber als ihre braven Kusinen. Die ist so flink und fleißig wie eine Ameise und immer vergnügt und gefällig.

Nach Büroschluß geht Gilgi   zu Olga. ,, Gottes willen, Olga, bist du frank?"

Olga liegt im Bett, hat ein nasses Taschen­tuch auf der Stirn und macht melancholische Augen. Ich bin nicht frant, war nur auf einem Maskenball, jest ist mir übel."

( Fortsetzung folgt.)

Lagua mort, der Tole See

Bevor der Apurée sich durch die Hügelkette des Camapuam Bahn bricht, windet er sich durch den dichtesten Urwald mit großen Krümmungen wie eine verwundete Schlange. Baumstämme, die sich im Flußbett festgerammt haben und stellenweise ganze Barren bilden, die für eine Bootsfahrt auf dem Fluß ein großes Hindernis bilden, stauen das Wasser. Und kommen dann zur Regenzeit die wolkenbruchartigen Niederschläge dazu, so treten die gelbbraunen Wasser des Flusses häufig aus ihren Ufern und bilden zahlreiche Curichi ( Lagunen), fleinere und größere Seen und Tümpel, durch enge Kanäle, die sich das Wasser im schlammigen Boden selbst gegraben hat, vom Fluß aus ständig gespeist und die daher auch zur trockenen Jahreszeit nie gänzlich versiechen.

Es war an einem entseßlich heißen Tage. Ich tam in meiner Canoa ein gutes Stück den Fluß : hinabgefahren, der hier einen überaus düstern Eindrud machte. Zahlreiche Lagunen bildeten ein wahres Dorado für Wasserwild und natürlich auch für Alligatoren, ohne die man sich hier fein größeres Wasser denken darf. Dichte Schilf und Bambuswälder umfäumten diese Tümpel und Sümpfe. Ganze Neze von Lianen hingen von den Aesten dieser Riesen der Wildnis wie grüne Teppiche herab und hüllten die Ufer in düsteres Dämmerdunkel. Zahlreiche Kanäle leiteten das Wasser des Flusses in Lagunen, die im Dunkel der Wälder in weltferner Einsamkeit schliefen und träumten.

In einen der größten Kanäle lenkte ich mein Canoa. Geräuschlos glitt mein Boot dahin. Grünes Laubdach wölbte sich dicht über meinen Kopf. Schilf und undurchdringliches Dickicht von Bambus umfäumten beide Seiten des Kanals, daß ich kaum imstande war, meinen Kahn durch diese Wildnis hindurchzuzwängen. Dabei floß mir das Blut von Gesicht und Händen aus den Stichwunden der Sacudos( einer Moskitoart), die in dichten Schwärmen über mich herfielen. Endlich lichtete sich das grüne Laubdach über mir. Noch zwei, drei Stöße mit der Ruderstange in den schlammigen Untergrund und ich war aus dem engen Kanal glücklich in eine große, unbe weglich stille Wasserfläche von tintenschwarzer Farbe gelangt. Kein Laut ringsum. Bis fast an den Rand des Horizonts, wo Himmel und Erde sich umschlungen halten, dehnte sich diese schwarze Wasserfläche aus.

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Unbeschreiblich einfam fühlte ich mich in dieser Wildnis, unter deren dichtem Blätterdach ewiges Schweigen lautlos zu wandeln schien. Die Riesen ven Bäumen standen da, ihre knorrigen Aeste in die schwarzen Wasser des Sees tauchend. Ur­waldriesen, Kraftgestalten, festgewurzelt seit Aeonen. Ungebeugt trotz all der Stürme, die sie jäh zu stürzen wähnten. Und von ihren Armen umschlungen ruhte der See, die schwarze Lagune, sommermüde, traumverloren.

Einen wunderschönen Gegensatz zum Tinten­schwarz der Lagune bildeten die zahlreichen grünen Inseln, die das Düfter des Gewässers

Alle Arbeiter und Angestellte haben das Recht auf Befreiung von der Mitgliedschaft bei einer Pilichtkrankenkasse(§517RVO.) durch übertritt zur

anmutig unterbrachen. Aber feine Eilande, mit Bäumen und Sträuchern bewachsen. Es waren die großen Blätter der Nymphäen( Victoria regia  ), die zu Tausenden auf dem See herum­schwammen und gruppenweis Inseln bildeten. Zwischen diesen riesengroßen Blättern tauchten schneeweiße, rosig angehauchte Blütenköpfe auf und lachten wie Kinder mit rosigen Wangen die Sonne an. Es waren die Blüten der königlichen Seerose, dieser Riesenblume der brasilianischen Gewässer mit milchweißen, wie Marmor glänzen­den Blumenkronen, die im Innern rosenrot an­gehaucht und mit violetten Tupfen geziert sind.

Aber der See war nicht tot, wie man auf den ersten Blick glauben konnte. Betrachtete man die Riesenblätter der Seerosen genauer, so bemerkte. man die mächtigen Stelzvögel, Reiher, Jabirn und Marabus, unbeweglich, wie aus Holz ge­schnitt, den Kopf zwischen den Schultern ver= steckt und schlafend.

Ich war der erste Weiße, der die Ufer dieses Sees betreten hatte Lagua mort, toter See, hatte ich ihn getauft und dieser Name blieb ihm.

,, Wie ist dieser See entstanden?" fragte ich und Raginou, mein indianischer Scout gab Ant­wort: Einst bedeckte diesen Plaz Wald, mächtiger Urwald und nur in einer Lichtung standen Hütten. Zuckerhutförmige Hütten aus Zweigen und Baumrinden. In diesem Dorf wohnte ein wilder Stamm, gefürchtet von allen Nachbar­stämmen der Wildnis. Denn es waren Kanni­ balen  . Ihr Dorf war zum Schutze gegen feind­liche Ueberfälle mit Palisaden umgeben, auf deren Spigen gebleichte Menschenschädel stedten. Der Stamm hatte förmlich Menschenjagden ab­gehalten und dabei die Dörfer der friedliebenden, harmlosen Nachbarstämme überfallen. Die Ge= töteten wurden an Ort und Stelle aufgefressen, die Gefangenen aber ins heimatliche Dorf ge= schleppt, um gemästet zu werden, und dann bei festlichen Gelegenheiten verspeist zu werden.

Dies erregte den Zorn Bacacamacs, des großen Geistes und Herrn der Erde. Er sandte feinen Sohn Pimahualta zu diesem Volk, ihm mit seinem Zorn zu drohen, wenn sie nicht von solchem Kannibalismus abließen. Und Pima­

hualta erfüllte den Auftrag seines Vaters, des großen Geistes; er stieg von der Anden schnee­gekrönten Gipfel herab und kam in das Dorf ter Menschenfresser. Dort stellte sich der göttliche Pote in den Schatten eines mächtigen Drachen­baumes, nahm von seinem Hals die Pfeife aus rotem Ton, stopfte sie, zündete sie an, blies den Rauch gegen den Himmel und die Erde und nach den vier Windrichtungen und sprach zum ver­sammelten Stamm:

Bacacamac, mein Vater und Herr der Erde, dem alle guten und bösen Geister dienen müssen, hat satt eures Blutvergießens und eures Menschenschlachtens. Hat mein Vater euch nicht zahllose Fische in den Strömen und Seen ge­geben und Wild in den Wäldern? Braucht ihr da das Fleisch eurer Brüder. den Hunger zu

stillen? Und hat euch mein Vater nicht gelehrt, die Ananas zu pflanzen und den Mais, aus dessen Körnern ihr das Pucumic bereitet, den Trant, der euch berauscht, der euch erquickt, wenn ihr müde heimkehrt von der Jagd? Ihr armen Kinder: Hört auf die warnende Stimme Pima­hualtas, der euch liebt als seine Brüder, als die Kinder seines Vaters Pacacamac! Laßt ab von eurem Blutvergießen und den Menschenjagden auf eure Brüder, die mein Vater als seine Kinder ebenso liebt wie euch. Folgt ihr aber nicht den Worten meines Vaters, der seine Stimme mir gegeben, zu euch zu sprechen, so wird Pacacamac, der Herr der Erde, sein An­gesicht von euch abwenden und ihr sollt verflucht sein und untergehen.

So hatte Pimahuaita, der Sohn des großen Und die Geistes, zum Stamm gesprochen. Aeltesten und Krieger hatten seine Worte gehört, denn sie hatten ihr Ohr geöffnet seiner Stimme. Und sie saßen stumm im Kreise um Pimahualta und schwiegen beschämt.

Da trat aus der Hütte, die abseits vom Dorfe am Rande des Urwaldes stand, ein alter Mann. Sein Haupt schmückte eine Krone bunter Federn von Papageien; sein Körper war nackt wie der aller Bewohner der Wildnis und mit seltsamen Figuren bemalt. Sein Hals war mit Schnüren behangen daran die Eckzähne des Jaguars, des Kaimans und des Brüllaffen hingen. In der rechten Hand trug er eine Lanze, die verziert war mit den Federn der Nachtschwalbe, des Caracarai und des Caoha, jener Geierarten, die ihrer flagenden Stimme wegen als Boten der Verstorbenen hoch verehrt werden. Dieser Mann, der schon drei Menschenalter gesehen, war Taba­manunu, der Zauberer des Stammes.

Da richtete sich das Auge Pimahualtas auf den Zauberer, und er rief ihn an: Was suchst du hier unter meinen Brüdern, du Sohn des Nani­gogigo!( Der böse Geist der Nacht, der den Menschen Schaden bringt.) Weiche von hinnen, denn meine Brüder wollen nicht mehr deine Stimme hören!"

Da ergrimmte Tabamanunu in Zorn, und er schrie den Gottesboten an: Wer bist du, du grünes Holz, daß du so zu mir zu reden wagft?" Und er schleuderte eine Lanze auf Pimahualta. Und das Wurfgeschoß, dem der böse Geist Nani­gogigo Zauberfräfte verliehen, durchbohrte den Gottesboten und heftete seinen entseelten Leib an den Stamm des Drachenbaumes, unter dem Bimahualta gestanden hatte.

Da ging durch die Lüfte ein graufiges Rollen, wie das Grollen fernen Donners. Und urplötzlich fegte ein Windstoß daher, und ein zweiter, und rüttelt an dem Drachenbaum, daß er zusammen­bricht, den toten Leib des Pimahualta unter sich begrabend. Und Windstoß folgte auf Windstoß, und im Walde   krachte es von brechenden Bäumen, die der Sturm wie dürre Aeste nieder­schmetterte. Finstere Nacht senkte sich herab. Noch ein Windstoß, der die Hütten des Dorfes wie

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