Nr.441 49. Jahrgang
1. Beilage des Vorwärts
Drachen
männer wider Willen
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Groteske Bilder zeichnen diese Herbsttage in Berlin : da stehen auf den ebenso zahlreichen roie ausgedehnten Freiflächen an der Peripherie der Reichshauptstadt Männer- erwachsene Männer, keine Kinder- und starren in die Luft. Nach den ellenlangen schmalen Beuteln zu urteilen, könnten es Angler sein, die dort stehen, aber seit mann wird auf Wiesen geangelt? Zudem stecken in den Beuteln keine Stöcke oder Ruten, sondern Flugdrachen. Denn einen Drachen von Anno dazumal lassen heute vielleicht noch Achtjährige steigen, jene Dinger mit dem aufgemalten knallroten Mondgesicht und dem flatternden Schwanz bunter Papierstücken. Männliche Personen im Alter von zehn Jahren aufmärts üben sich heute vielmehr in der schicklicheren Kunst der Segelfliegerei. Die arbeitsHinsicht zu erstaunlichen Leistungen: eben haben sie noch einen etwas unförmigen Stock aus dem leinenen Etui gezogen, da steht nach ein paar Handgriffen schon das fertige Flugzeug im Wiesengras und wippt zum erstenmal ein wenig die kattunenen Tragflächen im Winde. Denn mit papier bespannten Tragflächen wiederum geben sich vielleicht noch Zwölfjährige ab. Aber was ist das für eine Zeit, in der Familienväter auf der Wiese stehen und Drachen steigen lassen, nur um die Zeit totzuschlagen! Denn zu Hause einsam auf dem Küchenstuhl sitzen und Jahr um Jahr vor sich hinbrüten, das ist noch schlimmer. Auf der Wiese, in der Herbstsonne fühlt man das Klopfen des unruhigen Herzens nicht so sehr.
find so leer wie die Langzüge. Die eiligen Fahrgäste von 1928 stehen heute auf der Wiese und lassen ihre Drachen steigen. Sonst find noch ein paar Kinder da, die Fußball spielen, ein paar, die im Handstand wetteifern, und die Bemitleideten mit den altmodischen Papierdrachen haben vorsorglich ihre Mütter mitgebracht, damit sie in Ruhe gelassen werden. Es ist nur gut, daß die Sonne scheint, sonst wäre die Wiese noch trauriger.
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Karriere einer Wiese.
Dabei haben diese Nonnendammwiesen eine schwungvolle Karriere hinter sich. Hier hockten bereits zu den Zeiten Albrechts des Bären wendische Fischer, und ein Jahrhundert später genau 1239 gingen die Nonnendammwiesen in den Besitz des Span dauer Jungfrauenklosters über. Das Klosterarchiv dieser Spandauer Nonnen wurde nachmals ein Opfer der Reformationsfriege, und wie die Urkunden jener Tage seitdem in alle Winde verstreut find, so ist es für die Geschichte unserer Tage schließlich ohne Belang, festzustellen, wessen Kühe sieben Jahrhunderte hindurch die Nonnenwiesen fahlgefressen haben. Der große Schicksalstag der Nonnenwiesen jedenfalls fiel in die Zeit um die letzte Jahrhundertwende, als die stürmische Entwicklung der Starkstromindustrie die Siemens u. Halste A.-G. zwang, ihre Charlottenburger Betriebe aufzugeben und man sich deshalb auf den nahen Nonnendammwiesen jenseits der Spree 540 Morgen sicherte. Dabei blieb es allerdings vorerst: einmal war der Baugrund zu moorig, dann lehnte die Reichsbahn ein Anschlußgleis nach den zu bauenden Fabriken ab, 1903 war das Geld beinahe so fnapp wie heute, und erst nach der Fusion von Siemens und Schudert beginnt 1905 die fyftematische Erschließung
Sonntag, 18. September 1932
des Nonnendammgeländes. Ein Wert nach dem anderen entsteht, bis ein Jahr vor dem Weltbrand das Verwaltungsgebäude des Siemens- Konzerns die aus den Sumpfwiesen emporgewachsene Fabrikstadt krönt. Dieser Fabrikstadt wird am 4. September 1913 auf einstimmigen Beschluß des Magistrats der Stadt Spandau der Name Siemensstadt zuerkannt. Von Jahr zu Jahr steigen die Belegschaftsziffern in den Werken am Nonnendamm: 1905: 7404 Arbeiter und Angestellte; 1910: 12 839; 1914: 20 883; 1920: 30 303; 1925: 47 718 und 1929 auf dem Gipfel der Konjunktur nicht weniger als 57 247 Männer und Frauen! Um so jäher in den folgenden Jahren der Krise der Abstieg. Und wo sonst die Rauchfahnen an diesem Nordweststreifen der Groß- Berliner Peripherie in den Wind stiegen, sind es heute dünne Fäden, die in fast unwirklicher Entfernung einen bunten Drachen festhalten.
Die Aviatifer des Spreetals.
Inzwischen beginnen zum taufendsten Male die Aviatiker der Spreewiesen ihr Lied von den satten 29er Tagen. Damals war F. noch in Italien und trug, wie er jegt, zwischen den anderen auf der spärlichen Grasnarbe sigend, erzählt, monatlich seine 450 M. nach Hause. heute gibt es nichts mehr zu montieren, und wie alle anderen hält er am Friedrich- Kraufe- Ufer feine Stempelfarte hin. E. tut desgleichen, seitdem es nichts mehr zu verfrachten gibt: da haben sie mal in Erfner ein paar Tonnen Pech verladen, in Wuster hausen ein bißchen Kohle und in Hennigsdorf ein paar Bleche; solche Geschäfte macht der Chef allein, dazu braucht er feine Angestellten mehr. M., der war nur immer Sonnabends gekommen und blieb über den Sonntag bei seiner Frau. Montags in aller Frühe dampfe er dann wieder ab in die Mart, wo er auf einer Ziegelei arbeitete, was ja, wie fich inzwischen herumgesprochen hat, beinahe das unsicherste Brot sein soll, das es gegenwärtig zu essen gibt. Wenn fein Mensch baut, hat auch niemand Ziegel nötig, und so ist M. mit von der Partie und läßt den Drachen steigen. Zeiten sind das!
Aber am schlimmsten geht es R. Er ist natürlich arbeitslos wie jeder andere auch, aber ihn hat es getroffen, schwer und hart: er hat ein Haus geerbt. Das wäre allerdings das Schlimmste, was einem Arbeitslosen passieren könnte, ein Haus oder ein Auto erben. Er hätte nicht einmal das Benzingeld von der Siemensstadt nach der Frankfurter Allee , geschweige die Steuer und das Garagengeld. So war R. mit Sad und Back in das ererbte Haus gezogen, ein altes einstöckiges Vorstadthaus ist es, und kaum hatte er sich seine 10 Mark Wochenunterstützung geholt, da kam schon der Schornsteinfeger und wollte 1,50 Mart Fegegeld haben. So behielt einer nach dem andern die Klinke in der Hand, der eine will Zins und der andere will Steuer, aber R. hat mit Weib und Kind nur 10 M. in der Woche und ist jetzt der ärmste Mann, obwohl er Hausbesitzer ist.
Das erzählen sich so die Drachenmänner auf der Wiese, und wenn R. den Fez mit seinem Haus schildert, dann lacht alles, daß die Drachen wadeln.
losen Feinmechaniker und Modelltischler bringen es in dieser Zurück zur Sachlichkeit und zum Recht/ Berlin kann selbst handeln.
„ Es
,, Es langt nur zur Streu."
Es sieht traurig genug auf den Nonnendammwiesen aus. Schlote sind genug ringsum, aber wenn sie nur qualmen würden, dann ständen die Männer nicht hier und spielten mit ihren bunten Drachen. An einer Stelle steht noch das Schild:
Das Betreten dieses Geländes ist verboten! Direktion der Städt. Markthallen.
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Die Berliner Berfassungs- und Verwaltungs-| insbesondere doch wohl auf Grund unseres rechtzeitigen reform ist im Fluß. Die Beratungen im Magistrat wie die Alarms- der Anschlag auf die städtische SelbstverErörterungen in der Presse zeigen es. Sie ist eigentlich überhaupt waltung, der sich in keiner Weise in diesem Rahmen zwängen noch nicht zur Ruhe gekommen, erst recht nicht nach der Verabschie- ließ, fortgeblieben ist. Aber hier jezen nun die noch undung der Novelle des Vorjahres, über deren Unvollkommen bekümmerteren politischen Einpeitscher ein. Sie gehen aufs Ganze. eit feine Meinungsverschiedenheiten bestanden. Und es ist durchaus Sie stellen gar nicht mehr die Frage nach irgendwelchen gesetzlichen folgerichtig, daß nunmehr, nach der Neugestaltung der Zentral- oder verfassungsrechtlichen Bekleidungsstücken. Sie wollen bewußt verfassung, über deren Zweckmäßigkeit erst die Zukunft entscheiden und mit klarer Absicht die kräftigen Isolatoren, die seit mehr als wird, die Frage der Bezirksreform das Feld beherrscht. Um einem Jahrhundert die Selbstverwaltung gegen politischen Kurzdie sachliche Berechtigung und noch mehr um die gefeßliche schluß sichern, zerschlagen. Die Vorschläge überſtürzen sich förmlich: von der Auflösung der Gemeindeparlamente bis zur AusGrundlage dieser Reform geht die Diskussion. Sollte sie gehen. Aber die Zeiten sind einer sachlichen Erörterung feineswegs schaltung der Magistrate, vom Staatskommissar bis zur Beseitigung günstig. Ueberall mischen sich die politischen Gschaftlhuber des Wahlrechts der Stadtverordneten. Und was die Berliner Verhinein. Verfassungsartikel und Geseze sind diesen Politikern" nur fassung im besonderen anbetrifft, so machen sich auch hier die Gummiwaren, die man auf ihre Dehnbarkeit prüfen muß. Reaktionäre um das Recht der Selbstverwaltung, um Verfassungsund feiner fragt danach, wo das Zerren aufhört und das Zerreißen und Gesetzesbestimmungen nicht das geringste Kopfzerbrechen. anfängt.
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auf
Fluch der bösen Tat! Denn die Herren Preußentommissare haben vorsichtig gesprochen die Grenze zum mindesten unsicher gemacht. Nicht nur durch die Tatsache ihrer eigenen Existenz. Nicht nur durch ihre Personalpolitik. Auch ihre erste materielle Leiſtung", die sogenannte Berwaltungs reform, ruht- das ist bisher allzumenig betont worden Ja, das waren noch Zeiten, als jener Plan geschmiedet wurde, nach einer sehr unsicheren juristischen Basis. Sie kann ihre Bedem hier hinaus an den Westrand der Stadt die neue große Zentralrechtigung ausschließlich aus jener tnappen Bestimmung der markthalle gelegt werden sollte. Heute würden die Händler in der alten Alexanderhalle fich schon glücklich preisen, wenn hier wenig stens das Geschäft etwas flotter ginge. Nach dem Spandauer Schiff fahrtskanal hin endet ein Eisenbahngleis. Den Prellbock haben die Leute mit Stacheldraht umwickelt, und die Schienen sind dick mit Rost belegt: es scheint lange her zu sein, daß hier ein Güterwagen So sehen übrigens die verlassenen Bahnstrecken aus, die heute an den polnischen Grenzpfählen enden, dreizehn Jahre sind nun darüber vergangen, daß dort der letzte Zug gefahren ist. Ein alter Mann hebt gerade einen Mauerstein auf, um sein Messer zu wegen, dann bückt er sich wieder, schneidet eine Handvoll Halme meint er ab und stopft sie in den Sack. ,, Nee, nee" ,, zum Füttern taugt das nicht, ich nehm's als Streu für die Kaninchen." Der mißlungene Anschlag auf die Gelbstverwaltung
rollte.
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Dann schultert er den prallen Sad und, auf seinen Knotenstoc gestützt, humpelt er nach Westen der Abendsonne nach. Oben am Bahndamm rumpeln die Ringbahnzüge vorbei; die kurzzüge
Sie
natürlich milde
Reichsnotverordnungen vom 24. August und 6. Oktober des Vorjahres ableiten, die die Länder ermächtigt. ihre Ausgaben im Verordnungswege zu verringern. Und dabei kommt es nach Entscheidung des Staatsgerichtshofes nicht auf die Absicht, sondern auf den tatsächlichen Effekt an. Schon die Ueberschrift, die neben ,, Verbilligung"( mit Recht) von Vereinfachung" der Verwaltung spricht, paßt nicht in diesen engen Rahmen. Und was haben zum Beispiel die Vorschriften über den Vorsitz im Berliner Bezirksausschuß und über die Wahl seiner Mitglieder mit Ersparnissen zu tun? Wie will man jene Bestimmungen, die zum Beispiel in der Kreisinstanz Berteuerungen mit sich bringen müssen, aus dem Er mächtigungsrecht der Reichsnotverordnung ableiten?
Immerhin soll zugegeben werden, daß die Verwaltungsreform sich wenigstens alle ordentliche Mühe gibt, die rechtliche Beziehung zur Reichsnotverordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Daß
NOCH NOCH
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Garant.ceiner Blatt Tabak ohne chem. Zusätze
No 10.10
No 15.15
Um was es geht!
Versuchen wir, die Diskussion auf dem Boden der Sachlichkeit und des Rechts zurückzuführen! Um was geht es eigentlich? Um zwei Tatsachen. Einmal paßt die jetzige Verfassung der Bezirke nicht zu ihrem Aufgabengebiet; die Bezirksämter sollen nicht regieren, sondern verwalten. Dafür eignet sich ein Eintörpersystem nach süddeutschem Muster besser als die Magistratsverfassung. Diese Tatsache ist keine Entdeckung von heute, vielmehr hat gerade die Berliner Sozialdemokratie das immer wieder betont. Sie hat auch schon vor Jahren die Folgerung daraus ge= zogen und dem Landtag einen entsprechenden Gesezentwurf eingereicht. Es würde also nur darauf ankommen, eine solche Verfassungsänderung beschleunigt zum Gesetz zu erheben, damit bereits im Frühjahr bei den fälligen Stadtratswahlen danach verfahren werden kann. Durch Notverordnung ist das nicht möglich, da es sich dabei nicht um Ersparnismaßnahmen, sondern um 3 we dmäßigteits erwägungen handelt. Ganz abgesehen davon, daß das Preußenkommissariat nach unserer Ueberzeugung überhaupt zu feinen Notverordnungen legitimiert ist.
Die Einteilung der Bezirke.
Die zweite Tatsache ist die unvorteilhafte Einteilung der Bezirke. Die zentrale Verfassung Berlins wird zweckmäßig durch eine fleinere Zahl von Großstädten untermauert, die in ihrer Größe und Leistungsfähigkeit aufeinander abgestimmt sind.