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Morgen- Ausgabe

Nr. 469 A 229 49. Jahrg.

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Fernsprecher: A7 Amt Dönhoff 292 bis 297 Telegrammabreffe: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

MITTWOCH

5. Oktober 1932

Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts...... 15 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise siehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Bartei Deutschlands

Kindermißbrauch am Hitler- Tag Resungültig!

120 Teilnehmer des Aufmarsches mußten ins Krankenhaus

In den Potsdamer Krankenhäusern liegen 120 Kinder, denn am vergangenen Sonnabend und Sonntag hatte die Nationalsozialistische Partei ein Heer von Zehntausenden von Kindern in Potsdam zusammengezogen. Im Alter von 5 bis 16 Jahren waren sie nach Potsdam geschafft worden. Mit der Eisenbahn, auf offenen Lastkraftwagen, zu Fuß, ein wahrer Kinderkreuzzug. Bozu? Als Staffage für eine nichtssagende Rede von Adolf Hitler ! An die Stelle der Masse Volk, die er sonst braucht, um sich zu berauschen, war diesmal eine Masse Kind getreten.

Dieser Kinderkreuzzug nach Potsdam war ein ebenso wahnwigiges, ebenso gewissenloses und schreckliches Unternehmen wie der Kinderkreuzzug des Mittelalters. Man hat die

Kinder mobilisiert als Opfer eines Maffen­wahns.

Die Teilnehmer des mittelalterlichen Kinderkreuz­zuges sind verdorben und gestorben. Und die kind­lichen Opfer des Massenwahns von heute? Jezt wird die schauerliche Bilanz dieses Potsdamer Kindertages bekannt! Man erfährt Einzelheiten, die helle Empörung hervorrufen müssen. 120 Jugendliche im findlichen Alter haben in den Potsdamer Krankenhäusern Aufnahme gefunden. Allein im Städtischen Krankenhaus wurden 30 Kinder in pöllig erschöpftem und be= wußtlojem 3ust and eingeliefert. Weit über die Hälfte der Kinder hat an diesen Tagen nicht.s zu essen erhalten. Mehr als die Hälfte war obdachlos. Sie waren erschöpft von tage­langen Fußreisen, von Lastwagenfahrten bei Kälte, bei Tag und Nacht, ein Teil der in die Krankenhäuser Eingelieferten hat Lungen­entzündungen davongetragen. Niemand wollte die Kinder aufnehmen. In der Luftschiff halle war ein Strohiager als Massenquartier auf­geschlagen. Dort lagen Kinder untereinander von 5 bis 16 Jahren, Jungen und Mädchen, nur fümmerlich mit dünnen Baumwolldecken zugedeckt in falter Nacht, fein Frühstück, feine Gelegenheit zum Waschen, feine Latrine!

Man hat die Kinder zusammengezogen und hat fie sich selbst überlassen. Die Herren Führer sind im Auto gekommen, haben geredet und sind wieder verschwunden. Sie haben sich in ihre Luruslokale zurückgezogen. Mit den Kindern wußte man nichts anzufangen. Man hatte weder für Verpflegung, noch für Obdach, noch für Beschäftigung Sorge getragen. Noch das Ver­nünftigste wäre gewesen, ihnen zu sagen, wir brauchen euch nicht mehr, seht wie ihr nach Hause tommt!

Aber man hat stattdessen

mit den Kindern Militär gespielt. Man hat sie in stundenlangen Märschen auf schlechtem Pflaster bei faltem Wetter und im Regen abgehegt wie Refruten, die von ge= wissenlosen Vorgesetzten auf dem Marsche ge= schunden werden. Augenzeugen fagen er= schüttert aus, wie heruntergekommen, wie restlos erschöpft die Kinder ausgesehen haben, wie mit­leidswürdig, verwahrlost und niedergebrochen namentlich die Mädchen im kindlichen Alter waren. leble Geschäftemacher haben schließlich den Kindern noch die paar Pfennige abgenommen, die, fie bei sich hatten. 120 dieser für einen Massen­wahn mobilisierten Kinder liegen in den Kranken­häusern. Wie viele ungezählte mögen sich bei dem Kinderschinden von Potsdam schwere Krankheit zugezogen haben!

Diese Kindermobilisierung, diese Zusammen­führung von Zehntausenden von Kindern unter solchen Bedingungen, noch dazu in einer Zeit, in der gefährlichste Kinderkrankheiten graffieren, ist das verbrecherischste Schauspiel, das die Dema­gogen der NSDAP . jemals aufgezogen haben! Das ist ihre Sorge um die deutsche Jugend! Sie ist ihnen Mittel zum Zwed, Objekt ihres Machtwahns, lediglich Instrument einer faltherzigen unmenschlichen Regie. Worte sind nicht stark genug, um diese Versündigung gegen die Kinder, diefen Gipfel der Gewissenlofig feit anzuprangern. Das Kinderschinden von Potsdam wird auf immer die geistliche und sittliche

Keine Konferenz in London !

Frankreich lehnt ab

Paris , 4. Oktober.

Eigener Bericht des Vorwärts" Der englische Außenminister Sir John Simon, der am Dienstagvormittag auf dem Luftwege in Paris eintraf, hatte zu Beginn des Nachmittags mit Herriot eine 1½stündige Unterredung über das Abrüstungs problem, die von großer Wichtigkeit gewesen zu sein scheint. Beide Staatsmänner lehnten jede Erklärung über den genauen Gegenstand und das Ergebnis ihrer Aussprache ab, aber aus ihren ernsten Mienen war deutlich zu erkennen, daß ihre Besprechung keinen befriedigenden Ber­lauf genommen habe. Es wird allgemein be= hauptet, daß Herriot und Simon über den Plan Macdonalds gesprochen haben, nach London eine Konferenz zur Prüfung der deutschen Forde­rungen einzuberufen.

Eine derartige Konferenz, die bekanntlich schon kurz nach der Ueberreichung des deut­fchen Memorandums angeregt wurde, lehnt die französische Regierung nach wie vor ab oder sie stellt zum mindeffen für ihre Beteiligung Bedingungen, die zum Teil nicht erfüllbar sind.

Eine dieser Bedingungen soll die Teilnahme Ameritas sein. Man kann also annehmen, daß Herriot dem englischen Außenminister den Standpunkt Frankreichs noch einmal auseinander­gesezt hat und daß Sir John Simons Versuch, Herriot umzustimmen, gescheitert ist.

Herriot fann an feinem Standpunkt um so mehr

festhalten, als er in dieser Frage das ganze französische Bolt hinter sich weiß. Die bürger­lichen Parteien sind gegen eine Konferenz in London , weil sie befürchten, daß Frankreich dort isoliert sein und Macdonald den deutschen Forderungen zu weit entgegenkommen könne, um die Wiederteilnahme Deutschlands an der Ab­rüstungskonferenz zu erleichtern. Die Arbeiter= klasse dagegen lehnt die Londoner Konferenz ab, weil sie in ihr ein Manöver Macdonalds gegen Henderson erblickt, das dazu be= stimmt ist,

Henderson die Lorbeeren für eine etwaige glücklichere Lösung des Konflikts zu entreißen. Das hat der Generalsekretär des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes, Jouhaug, auf der gegen­wärtigen Tagung des Landesausschusses des Bundes mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht.

Der Landesausschuß billigte einstimmig die Erklärungen von Jouhaug und erklärte sich mit feinem weiteren Verbleiben in der Ab­rüstungskonferenz einverstanden.

Englands Einladung an Deutschland Der britische Geschäftsträger in Berlin , Newton, hat gestern der Reichsregierung den Vorschlag Macdonalds einer Fünfmächtekonferenz, die in London in der nächsten Woche stattzufinden hätte, offiziell übermittelt. Diese Einladung ist natürlich zunächst nur grundsätzlicher Art und sezt das Einverständnis der übrigen Mächte vor­

Verwahrlosung der NSDAP . wie den Wahnsinn unserer Zeit fennzeichnen!

Belogene Kinder

Um die Stimmung der gequälten Kinder zu heben, wurde auf dem Zeltlager und im ,, Angriff" die Nachricht verbreitet, Hitler selbst habe in einem Zelt mit übernachtet und so etwas sei überhaupt in der Welt noch gar nicht da gewesen. Obwohl diese Behauptung lächerlich ist, denn zahlreiche sozialdemokratische Parteiführer haben in den Zeltlagern unserer Jugendlichen mit übernachtet, war die auch vom ,, Angriff" unter allen Anzeichen der Unterwürfigkeit verbreitete Nachricht erlogen. Hitler hat gar nicht daran gedacht, in dem Zeltlager zu übernachten. Der ,, Völkische Beobachter", der weiter vom Schuß erscheint als der ,, Angriff, schreibt selbst:

In der Sonntagsfrühe gegen 7 Uhr trifft Adolf Hitler in dem phantasti­schen 3eltlager auf dem kleinen Egerzierplatz ein, in dem über 30 000 Hitler- Jungen Unter­funft gefunden haben, und geht rund durch die gewaltige 3eltstadt, ob­wohl er erst gegen 4 Uhr früh Ruhe gefunden hat, da er sich noch in der Nacht genauen Bericht über die Unterkunftsmöglichkeiten seiner Jungen geben ließ und sich große Sorgen um ihre Ruhe machte."

,, Große Sorgen" hat er sich um die frierende und hungernde Jugend gemacht, aber mit ihnen im Zeltlager zu übernachten, daß ist ihm gar nicht eingefallen, das wurde der Jugend nur Dorgelogen.

Ebenso wurde mit der Zahl der Teilnehmer umgesprungen, der Angriff" meldete 110 000, die Festleitung 90 000, der Völkische Beobachter" 70 000, in Wirklichkeit waren es zwischen 40 000 und 50 000 aus dem ganzen Reiche zusammen­getrommelte Kinder samt Zuschauern. Dafür lügt jetzt die Nazipreffe 300 000 Teilnehmer auf dem Wiener Gumpenteich. Warum nicht gleich drei Millionen.

aus. Die Reichsregierung hat ihr grundsäglich zugestimmt, jedoch unter der Bedingung, daß Frankreich und England ihren bisherigen Stand­punkt, wie er in den kürzlich bekanntgewordenen Antwortnoten der beiden Mächte zum Ausdruck kam, revidieren, weil sonst eine solche Konferenz zwedlos wäre.

Im übrigen hängt die endgültige Antwort Deutschlands Don der Stellungnahme Frankreichs ab, und da nach den Pariser Meldungen von gestern abend eine Einigung zwischen Herriot und Sir John Simon nicht erzielt werden konnte, dürfte damit auch die Einladung an Deutschland hinfällig sein.

Dollfuß will notverordnen

Wien , 4. Oktober.

Eigener Bericht des Vorwärts" Die Regierung Dollfuß hat auf Grund einer Notverordnung, die sie mit Hilfe des Kriegsgeseges vom 24. Juli 1917 begrün­det, ein an sich bedeutungsloses Gesetz erlassen, durch das die Schuldigen am Zusammenbruch der Kreditanstalt für den Schaden haftbar gemacht werden sollen. Der Parteivorstand der Sozial­demokratie ist noch in später Nacht zusammenge­treten, um gegen diesen Mißbrauch eines Kriegs­gesetzes, das vor der Ausrufung der Republik in Desterreich Geltung hatte, scharfen Protest ein­zulegen. Der Parteivorstand hat einen Aufruf an die Arbeiter Desterreichs erlassen, in dem er sich scharf gegen diesen Mißbrauch wendet, und ange­sichts der bestehenden Gefahr eines Miß= brauchs des Notverordnungsrechts für Mittwoch alle sozialdemokratischen Abgeord­neten zu einer außerordentlichen Sizung einbe= rufen.

Notverordnung

kann die Gewerkschaften nicht binden!

Die Verordnung zur Verord­nung über den Lohnabbau, die der Reichsarbeitsminister Schäffer seit Tagen ankündigte, ist jetzt im Reichs­gesekblatt" erschienen. Sie enthält in ihren entscheidenden Paragraphen fol­gende Bestimmung:

Die Erfüllung des Arbeitsver­frags nach Maßgabe der Verordnung vom 5. September 1932 gilt als dem Tarif­vertrag entsprechend. Kampfmaßnah­men einer Tarifvertragspartei gegen die Durch­führung der Verordnung durch eine andere Bertragspartei oder eines ihrer Mitglieder gel­ten als Berlegung des Tarifvertrags. Zum Ueberfluß wird diese ,, Verordnung zur Verordnung" mit rückwirkender Kraft ab 15. September versehen.

Da die Gewerkschaften eine Rechts­grundlage für die Auffassung des Ministers nicht anerkennen können, be= streiten sie die Rechtswirkjam= keit der neuen Ausführungsverordnung, die auch in der Notverordnung vom 4. September selbst keine Stütze findet. Es ist daher nicht anzunehmen, daß die neue Verordnung auf die Haltung der Gewerkschaften von Einfluß sein wird.

*

Dazu schreibt uns ein hervorragender Kenner des Arbeitsrechts:

Der Zweck der 3. Durchführungsverord­nung ist offenkundig. Die Gewerkschaften haben unmittelbar nach Erlaß der Verord­nung vom 5. September 1932 der Auffassung Ausdrud gegeben, das Recht zur Kürzung der Löhne und Zahlung untertariflicher Ver­gütungen bewege sich allein auf der Ebene des individuellen Arbeitsverhältnisses, wäh­rend der Tarifvertrag durch die Be­fugnis des Arbeitgebers, untertarifliche Löhne zu zahlen, nicht beeinträchtigt werde. Die Gewerkschaften haben die Ansicht proklamiert, daß die tarifliche Friedenspflicht entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Reichs­gerichts und des Reichsarbeitsgerichts sich lediglich auf den Tarifinhalt beziehe, den die Tarifparteien festgelegt haben. Durch den Abschluß eines Tarifvertrages überneh­men die Gewerkschaften die Verpflichtung, auf ihre Mitglieder einzuwirken, sich tariftreu zu verhalten. Durch den Abschluß des Tarifver­trages übernehmen die Gewerkschaften nicht die Verpflichtung, auf ihre Mitglieder einzu­wirken, daß diese Arbeitsbedingungen dulden, die dem Tarifvertrag widersprechen.

Dieser von den Gewerkschaften festgelegten Auffassung haben sich prominente Arbeits= rechtler, der Altmeister des Arbeitsrechts Potthoff, der bekannte Berliner Anwalt Georg Baum, der jahrzehntelang Bor­fizender des Berliner Gewerbegerichts ge­wesen ist, angeschlossen. Auch auf Arbeitgeber­seite konnte man sich der Richtigkeit dieser Argumentation nicht entziehen. Der einzige Rechtsstreit, der bisher über die Streitfrage ausgefochten ist, endete in Weißenfels mit einem Erfolg der Gewerkschaften.

Zwar hat das Reichsarbeitsministerium in einigen Verlautbarungen die entgegengesetzte Auffassung über den Inhalt der Notverord­nung vom 5. September zum Ausdruck ge­bracht. Wie die 3. Durchführungsverordnung erfennen läßt, hat das Reichsarbeitsministe­rium inzwischen aber offenbar selbst einge­sehen, daß die von den Gewerkschaften ver­tretene Ansicht die einzig richtige ist. Andern­falls wäre der Erlaß der 3. Durchführungs­verordnung, die nichts anderes ist als ein Eingeständnis der Unrichtigkeit des bis­her eingenommenen Standpunkts, unver ständlich.

Durch die 3. Durchführungsverordnung soll den Gewerkschaften die Haftung