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Abend- Ausgabe

Nr. 472 B 228 49. Jahrg.

Redaktion und Berlag: Berlin   SW 68, Lindenstr. 3 Fernsprecher: A7 Amt Dönhoff 292 bis 297

Telegrammadresse: Sozialdemokrat Berlin  

Vorwärts

BERLINER

E

VOLKSBLATT

DONNERSTAG

6. Oktober 1932

Jn Groß Berlin   10 Pf. Auswärts....... 10 Pf.

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

6.10.- 6.11.!

Von heute in einem Monat fällt die

Entscheidung

=

Bon heute in einem Monat wird gewählt. Inzwischen wirkt sich die Wirtschaftskrise, verschärft durch die Politik der Ba rone, weiter aus; wir gehen, was die Er­nährungsverhältnisse betrifft, einem neuen Kriegswinter entgegen. Infolgedessen steigt die Verwirrung, aber auch Erscheinungen der Müdigkeit machen sich bemerkbar.

Gegen die Müdigkeit stellt sich die Sozialdemokratie mit neuer Aktivi­tät. Der allgemeinen Verwirrung setzt sie ihr Programm entgegen, das einzige flare, zielweisende Programm, über das die deutsche Gegenwart verfügt. Die Träume vom Dritten Reich und von Sowjetdeutsch­land sind ausgeträumt; die Jagd nach ihnen hat zu nichts anderem geführt als zur Auf­richtung einer konservativen Adels­herrschaft, die von den politischen und sozialen Rechten der breiten Massen eines nach dem anderen zu vernichten droht.

Der Kampf um diese politischen und sozi­alen Rechte kann weder von den National­sozialisten noch von den Kommunisten geführt werden. Zu lange haben beide über die Demokratie, über die fozialen Errungen­schaften der Arbeiterflasse gezetert und ge­höhnt, als daß sie heute als ihre Verteidiger auftreten könnten. Nur die Sozialdemokratie fann an die Stelle des neuen Herrenregiments eine mirkliche Boltsherrschaft sezzen! Nur die Sozialdemokratie fann den Weg weisen, der zur Wiederherstellung der zerstörten sozialen Rechte und darüber hin­aus zur Grundlegung einer neuen, sozia listischen Wirtschaftsordnung führt.

Vorwärts zum Angriff gegen das neue Herrenregiment und gegen die Parteien, die ihm bewußt oder unbewußt die Steigbügel gehalten haben! Gegen alle Diktaturapostel für das Recht des Volkes! Gegen den menschenmordenden Kapitalismus, für den Sieg der Arbeit! Für Demo­tratie und Sozialismus!

Verbotene Briefe

Aber Hitler   trifft das nicht

Eine württembergische Landtagsabgeordnete schrieb einem Kameraden vom Reichsbanner, der wegen Landfriedensbruch in Untersuchungs­haft war, folgenden Brief:

,, Werter Genosse!

Die Genossinnen der SPD  . Stuttgarts   nehmen herzlichen Anteil an Ihrem Schicksal, denn sie vermögen das Opfer zu würdigen, welches Sie im Ringen um die Freiheit der Arbeiterklasse zur Stunde bringen. Sie dürfen versichert sein, daß wir uns eng verbunden fühlen mit all den Kameraden, die treu für die Sache der Aermsten des Volkes einstehen. Ich bitte Sie, eine fleine Gabe als äußeres Zeichen unserer Verbundenheit anzunehmen, und grüße Sie herzlich. Freiheit!"

Der Brief wurde durch die Strafkammer des Landgerichts Stuttgart   beschlagnahmt und dem Reichsbannerkameraden nicht ausgefolgt. Wenige Wochen zuvor hatten fünf Natio= nalsozialisten einen schlafenden Kom­munisten meuchlings ermordet. Adolf Hitler   sandte den verurteilten Mördern von Potempa ins Untersuchungsgefängnis folgendes Telegramm:

Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichsten Bluturteils fühle ich mich mit euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre."

Das Telegramm von Adolf Hitler   wurde nicht beschlagnahmt. Man sieht, die Bracht- Regierung hat in Preußen für Ordnung und Gerechtigkeit gesorgt.

Severing   über den 20. Juli

In einer Kreismitgliederversammlung in Lich­ tenberg   sprach in der bis auf den letzten Steh­platz auf der Galerie gefüllten großen Aula des

Zum Kampf deren!

Stolz leuchtet das Freiheitszeichen der drei Pfeile über dem First des Hauses. Unter Ge­fahren haben die Hausbewohner es dort oben befestigt. Es soll ein Wahr- und Wahl­zeichen sein!

Reformgymnasiums, mit Freiheitsrufen begrüßt, Karl Severing   über den 20. Juli.

Die Wahlen vom 20. Mai 1928 hatten uns einen starken Zuwachs gebracht, und da sie von uns unter der Parole Heran an die Macht! geführt worden waren, empfahl der Parteiaus­schuß der Reichstagsfraktion die Führung bei der Regierungsbildung zu übernehmen. So entstand das Kabinett Hermann Müller  . Die Regierung des Bürgerblocks stand vor allem unter dem Zeichen außenpolitischer Unfruchtbar­keit. Der Wahlfieg vom 20. Mai brach das Eis, und Hermann Müller   war es vorbehalten, in Genf   eine Tonart anzuschlagen, mit der verglichen Papens Lausanner Reden reinste Limonade sind. Briand   war verstimmt, aber er mußte anerkennen, daß der republikanischen deutschen   Regierung in der Reparationsfrage, aber auch in der Be= sagungsfrage Zugeständnisse gemacht wer­den mußten. Eingeleitete Verhandlungen wurden im Frühjahr 1929 fortgesetzt, es tam der Young­ Plan  , der nicht unser Ideal war, aber einen Fortschritt gegenüber dem Dawes- Plan   dar­stellte. Durch die Ereignisse, die folgten, ist aber in weitesten Kreisen völlig vergessen,

daß durch die Politif des Kabinetts Hermann Müller   Deutschland   wieder Herr feines Bo­dens wurde

und daß zum 1. Juli 1930 der letzte fremde Sol­dat das Rheinland   verließ. Wer spricht noch da­von? Wir Sozialdemokraten sind darin sonder­bare Politiker, daß wir bei uns selber oft den fleinsten Schönheitsfehler sehen, die eigene Leistung aber meist nicht beachten. ( Lebhafte Zustimmung.)

Die Bekämpfung des Young- Planes seßte ein mit dem Volksbegehren der Deutschnationalen und Nationalsozialisten Ein Feldzug der Volksver­dummung begann 107 Nationalsozialisten zogen in den Reichstag  . Sie drohten, die Republik   und die republikanische Freiheit in einem Meer von Blut zu vernichten, und die Drohungen waren durchaus ernst gemeint. Für uns erhob sich die

Eine Rede in Lichtenberg  

Frage: sollten wir die von uns zuvor bekämpfte Notverordnungspolitik Brünings stüzen oder sollten wir die Nationalsozialisten in den Sattel heben? Wir entschieden uns für die Tolerierungs­politit. Sie zwang uns dazu, sehr unpopuläre Maßnahmen zu tragen. Aber was Brüning tat, war wenigstens noch halbwegs erträglich. Durch unsere Schuld durfte die Macht nicht in andere Hände gleiten, die alles zertrümmert hätten. Das sagen wir auch den kommunistischen  Kritikern, die immer von ihrem Sowjetideal sprechen, damit aber nur die Luft erschüttern. ( Sehr richtig!) Was wir taten, geschah aus Liebe zur Arbeiterschaft. Nicht aus Liebe zu Brüning. Was ist aber heute noch Länderpolitik? Wie der Reichstag   ist auch der Preußische Landtag   so gut wie ausgeschaltet. Man regiert durch Notverord­nungen. Gerade das aber ist eine Folge der Wahlergebnisse. In den Wahlkämpfen spielte nicht die Politik der einzelnen Länderregierungen eine Rolle, sondern die Wähler, Beamte, Arbeiter, Mieter und Vermieter wollten ihrer allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck geben. Unter diesem Zeichen stand auch die preußische Landtagswahl. Wohl wurde über Braun und Severing   als Blut­hunde geschimpft, aber über Landespolitik murde fast gar nicht gesprochen. Wer aber den Zusam­menhang zwischen dem 24. April, dem Tag der Landtagswahlen, und dem 20. Juli nicht sieht, der hat auf dem Monde gelebt.( Starke Zustim­mung!)

3m neuen Landtag ftand eine riesengroße Mehrheit gegen die Regierung.

Allein die 162 Nationalsozialisten waren ebenso start wie die bisherige Regierungsfoalition. Da fragt man uns: Warum seid ihr da nicht gleich am 25. April nach Hause gegangen? Das wäre sehr bequem gewesen, aber hätte uns sicher fein Lob gebracht. Einmal waren wir durch unsere Eide bis zum Ablauf der alten Legislaturperiode, bis zum 19. Mai, um Aushalten verpflichtet, dann aber trieben uns auch politische Gründe. Nach den Spielregeln der Demokratie hätte sich eine neue Regierungsmehrheit bilden müssen, die sich nur aus Nationalsozialisten und Zen trum zusammensetzen konnte. Eine nervöse De­

serteurpolitik hätte den Nationalsozialisten bei ihren Verhandlungen mit dem Zentrum alle Trümpfe in die Hände gespielt.

Am 20. Juli wurde der Reichskommissar ein­gesetzt,

angeblich, weil Preußen seine Pflicht nicht erfüllt habe. Das ist nicht der wahre Grund. Vorher hat man selbst zugegeben, daß man nicht rechts der Wilhelmstraße eine andere Politik betrieben sehen wolle, als links der Wilhelmstraße. So war es und alles andere ist eitel Schwin= del, ganz gleich, ob der Staatsgerichtshof das anerkennt oder nicht. Wie erfolgte die Ereku­tion? Ich habe zehn Jahre so regiert, daß ich im politischen Freund und im politischen Gegner zuerst den Volksgenossen sah, und ich er­wartete, auch so behandelt zu werden.( 3urufe: Verkehrt, verfehrt!) Severing  ( sehr er= regt): Es war doch richtig! Ueber der poli= die tischen 3wed mäßigteit muß menschliche Anständigkeit stehen. ( Lebhaftes Bravo!) Vor allem für uns Sozial­demokraten, die wir Kulturträger waren und sind. Als man uns rief, behandelte man uns wie Re­fruten. Freilich steht dies Verhalten in der deut­ schen   Geschichte nicht einzig da. Auch Bismard und Stein sind nicht in würdiger Form ent­fernt worden. Ich las jetzt wieder einmal den Wallenstein  , und bei den Zeilen des Reiterliedes: ,, Die Falschheit herrschet, die Hinterlist bei dem feigen Menschengeschlechte" tamen mir mancherlei Gedanken. Auch aus parteigenössischen Kreisen ist uns gesagt worden, wir hätten am 20. Juli eine andere Taktik einschlagen sollen, wir hätten

den Generalftreik proklamieren

und die preußische Regierung hätte mit allen Machtmitteln Widerstand leisten sollen. Ein­mal wäre das eine glatte Verfälschung des Volks­willens vom 24. April gewesen, und dann: wenn man den offenen Kampf aufnimmt, dann muß man mindestens ebenso stark sein wie der Gegner. Vergessen wir nicht, daß die Landes­polizei nach gewissen Bestimmungen der Reichs­

Furcht vor 3eugenbank

Auch Nazi- Kaufmann drückt sich

Eigener Bericht des Vorwärts"

Kiel  , 6. Oktober. Der Gauleiter der Hamburger Nationalsozia­listen, Kaufmann, hat den Verantwortlichen des deutschnationalen ,, Ostholsteinischen Tage­blattes", Heinrich Lühr, wegen Beleidigung verklagt. Da Kaufmann ,, M. d. R." war, erhob die Kieler   Staatsanwaltschaft Offizialklage. Der Klage zugrunde liegt ein Artikel im Ostholstei­nischen Tageblatt" vom 28. Januar 1930. Das ist jetzt also beinahe drei Jahre her. Der Beleidigungsprozeß aber ist trop vieler Versuche bisher noch nicht einmal in erster In= stanz verhandelt worden. Schuld daran ist einzig und allein Nazi- Kaufmann, der Mann, der beleidigt sein will. Es ist der Staats­anwaltschaft und dem Gericht bisher nicht ge­lungen, Kaufmann als Zeugen vor Gericht zu bringen oder auch nur seine kommissarische Ber­nehmung zu erreichen. Kaufmann ist zwar viele Male geladen worden, man hat ihn auch schon einige Male in Ordnungsstrafen genommen, aber erreicht hat man damit gar nichts. Da Kaufmann auch jetzt als Mitglied des Ueberwachungsaus­schusses des Reichstages noch durch Immunität geschützt ist, kann die Staatsanwaltschaft keine fräftigeren Mittel gegen ihn anwenden. Er soll jetzt wieder, da er in dem für den 4. Oktober angesezten Termin nicht erschien, in eine sehr empfindliche Ordnungsstrafe genommen werden.

Das Verhalten Nazi- Kaufmanns in diesem Be= leidigungsprozeß, auf dessen Hintergründe noch etwas näher einzugehen sein wird, paßt in das Gesamtbild dieses famosen und prominenten Ver­treters des Dritten Reichs. Er, dem ein Unter­suchungsausschuß seiner eigenen Partei megen Ordensschwindel, Urkunden­fälschung und doppelten Ehrenwortbruches die Ehrenhaftigkeit für immer abge sprochen hat, fühlt sich dadurch beleidigt, daß eine deutschnationale Zeitung folgenden Satz schreibt:

,, Was soll man bloß zu den hier hervor­tretenden Manipulationen nationalsozialistischer Abgeordneter, die doch sicher den Anspruch er­heben, ernst genommen zu werden, sagen?" Dabei beziehen sich diese Manipulationen nicht etwa auf den Ordensschwindel, sondern auf das Verhalten der Nazis im Geschäftsord­nungs- Ausschuß des Preußischen Land­

tages!

Die Staatsanwaltschaft. die sich jetzt seit Jahren mit dem Verfahren abquält, will Kaufmann als legten Zeugen in der Sache zwingen, Farbe zu bekennen. Sie muß sich ja auch besonders blamiert fühlen, weil sie die vermeintliche Ehre des Ehren- Kaufmann zur öffentlichen Sache machte. Hätte sie ihn, wie es richtig war, auf den Weg der Privatflage vermiesen, so wäre der Prozeß längst auf des Klägers Kosten erledigt worden.