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BEILAGE

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Vorwärts

Eine von uns?

Wir diskutieren über Gilgi

Als der Vorwärts" im Anschluß an den Roman Gilgi, eine von uns " ein Preisaus­schreiben ankündigte, fragte er: ,, Ist Gilgi eine von uns? Gilgi , das Mädchen, das entdeckt, daß sie die Tochter einer sehr verwöhnten und kaltherzigen Dame ist und daß nur durch eine sehr abenteuerliche Schiebung Kleinbürger ihre Pflegeeltern ge­roorden sind?

Ist dieses Mädchen Gilgi eine von uns, das Arbeit und Zukunft megwirft, um mit einem Manne zusammenzuleben, der seine Sache letzten Endes nur auf sich gestellt hat?

Ist sie eine von uns, wenn sie zurückfindet in die Armee der Werktätigen, als sie sich Mutter fühlt und ahnt, daß sie ihre Pflichten als Mutter an der Seite des von ihr geliebten Mannes nicht erfüllen können wird?"

Er sagte weiter: Die Abonnenten des Vorwärts' sollen das entscheiden. Sie sollen es in aktiver Mitarbeit entscheiden."

Zahlreiche Zuschriften beweisen, daß die Aufforderung auf fruchtbaren Boden gefallen und richtig verstanden worden ist. An der Haltung Gilgis, an der Haltung des Romans

wird heftige, zum Teil leidenschaftliche Kritik geübt.

So wird der Roman einer jungen Autorin, deren soziale Blickrichtung noch nicht ganz sicher ist, zum Erzieher: er fordert zur Kritik heraus, er veranlaßt, ein Problem, das uns alle angeht, zu durchdenken, und wirkt so schöpferisch.

Aber diese schöpferische Kritik soll nicht die Angelegenheit des einzelnen bleiben. Sie soll die Oeffentlichkeit beschäftigen, sie soll an die Autorin herangetragen werden und so ein Bindeglied zwischen Künstler und Publikum schaffen, wie es trotz aller Barone und aller

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Kulturreaktion einem demokratischen Zeit­alter angemessen ist. Sie soll jenes enge Ver­hältnis zwischen Künstler und Publikum schaffen helfen, wie die proletarischen, die sozialistischen Kulturbestrebungen bereiten.

es vor­

Der Vorwärts" beginnt deshalb mit der Veröffentlichung der interessantesten Zuschrif­ten in der Hoffnung, daß sie auch manchem, der sich an dem Preisausschreiben zu betei­ligen wünscht, wichtige Fingerzeige geben.

,, Keine von den Millionen

Sie ist ein ta pferes Mädchen, diese Heldin Gisela, genannt Gilgi , die uns Irmgard Keun in ihrem so erfolgreichen und nun auch im ,, Vor­wärts" abgedruckten Roman vorführt, strebsam und hilfsbereit, die ihren Beruf liebt und ent­schlossen ist, ihr Leben nach ihrem Sinn zu ge= stalten und sich im Kampf ums Dasein zu be= haupten. Sie weiß auch von den Millionen, die wie sie kämpfen und gleich ihr den Willen haben, ,, es zu schaffen". Sie ist auch gar nicht bedrückt, als sie erfährt, daß sie nicht den kleinbürgerlich und behaglich lebenden Krons ihr Dasein verdankt, sondern angeblich das uneheliche Kind einer leinen Näherin ist; sie ist im Gegenteil froh, daß sie von Proletariern abstammt, denn sie hat nie Wert darauf gelegt, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören". Leute, die nichts tun, die albern und verschlafen durch die Tage frotten, fann Bilgi, die so, nüchtern ihrem Erwerb nachgeht, nicht leiden, Sie findet dieses faule Pad aufreizend zum Klassenhaß".

Wer solche Anschauungen äußert, der müßte doch zu uns gehören, auch wenn er in seinem täglichen Leben noch soviel bürgerlicher Gewohn heiten huldigt, wie das Gilgi immerhin tut. Ja, er müßte zu uns gehören, wenn diese Anschau­ungen tief gingen und nicht nur Tünche wären mie Schminke und Lippenstift, die Bilgi gebraucht. Gilgi weiß nichts davon, daß Anschauungen auch verpflichten. Wäre Gilgi eine von uns und würden diese Bekenntnisse ihr wahres Wesen widerspiegeln, dann müßte sie doch den Weg fin­den zu ihren Schicksalsgefährten und sich einreihen in den Kampf, den Millionen gegen eine unge­rechte Ordnung führen. Trotz der schönen Worte­ahnt Gilgi nichts von den ernsten und großen Problemen, die unsere Zeit erschüttern, selbst die Probleme ihrer engeren Berufsangehörigen bleiben ihr fremd, weil sie in Wirklichkeit immer nur sich selbst sieht und nichts als sich selbst. Die Begegnung mit der älteren Angestellten, die sich vergeblich nach Arbeit umtut und selbst die Hoffnungslosigkeit ihrer Bemühungen erkennt, ruft zwar ihr Mitleid wach, aber sie findet sich inner­lich damit ab, weil sie ja doch nichts ändern kann. Um den sozialen Kampf braucht sich Gilgi ja nicht zu kümmern, denn sie selbst will aufsteigen, mögen die anderen sehen, wo sie bleiben.

Sie selbst ist ja so tapfer: Aber wo bleibt diese Tapferkeit, die wir so bewunderten, als der wirk­lich" Geliebte in ihr Leben tritt? Da wird Gilgi , das moderne Mädchen, das bisher einer etwas naiven Vorstellung von freier Liebe huldigte und sie kühl und fachlich behandelte, von den gleichen Gefühlen hin und her gezerrt wie das Bürger­mädchen von ehedem. Beruf und Zukunft find plötzlich Nebensache geworden, verschwinden im Nebel romantischer Gefühle, und das sachliche Büromädel Gilgi kann ebenso schwänzen und glücklich- unglücklich lieben wie das Bürgermädchen in den Unterhaltungsromanen von gestern.

Und das ist Gilgi in der Tat: die Heldin eines Unterhaltungsromans für junge Mädchen. Schau­platz und Gewand haben sich geändert, weil seit Krakauers soziologischen Untersuchungen über die Angestellten diese Schicht zu einem beliebten Romanthema geworden ist, aber das Spiel ist geblieben, geblieben ist die Unwahrhaftigkeit der Gefühle und der Mangel an seelischem Gehalt.

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anders sehen, als Irmgard Keun sie uns zeigen will. Für uns ist Gilgi teine von uns, feine von den Millionen, die tapfer kämpfen für den Aufstieg ihrer Klasse und für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

Hanna Hertz.

,, Einzelfall..."

Wer ist Gilgi ? Ist sie wirklich eine von uns", ein Mensch der unmittelbaren Gegenwart, eine der unzähligen berufstätigen jungen Frauen und Mädchen der heutigen Zeit?

Meiner Auffassung nach wird man die Frage bejahen müssen, ohne daß damit gesagt sein soll, alle weiblichen Angestellten, geschweige denn

alle berufstätigen weiblichen Jugendlichen der Gegenwart seien wie Gilgi . Was ist typisch an Gilgis Schicksal, an ihrer Einstellung zum Leben?

Sie teilt das Schicksal unzähliger junger Mäd­chen, die aus ähnlichen häuslichen Verhältnissen stammen und ähnliche Gegebenheiten der Berufs­ausübung vorfinden. Das häusliche Mi= lieu, in dem Gilgi aufgewachsen ist: Eine der vielen Durchschnittsehen, die nichts sind als Ge= wohnheit, eine der vielen Familien, die ihren Rindern weder geistige noch seelische Kraftquellen erschließen können. Ein Milieu, das weder bür­gerlich noch proletarisch, sondern ein Mischmasch

aus

beiden Welten ist. Bürgerlichkeit, das hat in dieser Häuslichkeit wie in Gilgis Wesen allerdings nicht mehr das geringste mit der in der Aufklärung und im Weltbürgertum ver= wurzelten bürgerlichen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts zu tun, sondern sie ist nichts als ein wenig äußerliche Behaglichkeit, etwas Spießbürgertum ohne jede Geistigkeit, ein bißchen Moralität, die in der Luft hängt und deshalb von Gilgi so wenig ernst genommen wird, wie von vielen Jugendlichen der Gegenwart. Kein Wun­der, daß Gilgi die Familie, in der sie weder seelisch noch geistig verankert ist, nichts be­deutet, daß sie ihr entflieht. Auch diese Ein­stellung zur Familie ist typisch für viele junge Menschen der Gegenwart. Aber die prole= tarischen Züge dieses Milieus sind unecht, ver= waschen. Nirgends ein Funke von Klassenbewußt­sein! Vorbild der Lebensführung ist vielmehr auch für Gilgi das, was man vom Bürger­tum erhaschen kann, ohne sich geistig anstrengen zu müssen, das Aeußerliche, in die Augen Springende: Firlefanz, Sekt, Toiletten, das Auto. Gilgi selbst hat zwar Ansätze von Solidaritäts­gefühl, aber sie entspringen nicht etwa der flaren Erkenntnis politischer und wirtschaftlicher Ge­gebenheiten, sondern ihrem mitleidigen Herzen, ihrer Hilfsbereitschaft, find also durchaus indi­viduell begründet.

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So macht sich diese junge, nirgends verwurzelte, haltlose Gilgi auf ihren Lebensweg. Nach der Schulentlassung wird sie, wie Millionen andere, ins Erwerbsleben gestoßen, in mechanische, öde Arbeit. Ihre Kindlichkeit hatte niemals Zeit und

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DIENSTAG, 18. OKT. 1932

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Ruhe, wirklich auszuschwingen. Wo bleiben alle schöpferischen Kräfte, wo bleibt geistige und see= lische Vertiefung, wo ist Freude an den Dingen, an der Natur? Nichts oder sehr wenig ist vor= handen. Das bißchen Sport und Gym­nastik muß der Großstädterin die Weite der großen Natur ersetzen, weder die Musik noch geistige Tätigkeit in irgendeiner vertieften Form wird in dieses enge Leben aufgenommen. Das Lernen fremder Sprachen, das Gilgi aufnimmt, steht einzig und allein unter dem Gesichtspunkt des Zweckmäßigen( ,, was nüzt mir das für mein Fortkommen?"), feineswegs aber der Freude an geistiger Tätigkeit. Gilgi selbst spürt diese Enge, die teilweise in ihr selbst begründet liegt und so sucht sie den Gegenpol: Olga, die Freundin, kommt aus der künstlerischen Atmo­sphäre, ebenso wie Martin. Hier schlägt Gilgi Wurzel, muß sie Wurzel schlagen, ob sie will oder nicht, denn hier rundet sich der Kreis. Auch die sehr frühen erotischen und seruellen Bindungen Gilgis und selbst das Erlebnis mit Martin- auch dies alles typisch für viele Ju­gendliche sind in dieser häuslichen Atmosphäre, in der Art des Berufslebens und in dem Mangel an tieferen geistigen Interessen irgendeiner Art begründet. Die Beziehung mit dem anderen Ge­schlecht muß alle negativen Seiten dieses unaus­gefüllten, nicht nur materiell, sondern auch geistig armen Lebens ausgleichen. So ist Martin für Gilgi nicht nur der Geliebte, sondern gleichseitig die Verkörperung aller lebendigen Kräfte, alles dessen, was schön, beglückend, nicht zweckmäßig" ist. Durch das Erlebnis mit ihm wird sie sich der unendlichen Werte des Lebens schlechthin bewußt. Der sympathischste Zug ihres Wesens ist ihre Ehrlichkeit gegen sich selbst. Sie wehrt sich gegen jede Verfälschung ihres Wesens, und so konnten sie weder die frühzeitigen Be= ziehungen mit jungen Männern noch das große Erlebnis mit Martin noch das Bewußtsein der Mutterschaft zerbrechen. Und selbst an dem schwersten, entscheidendsten Wendepunkt ihres Lebens, als sie sich von Martin löst, ist sie ganz ehrlich gegen sich selbst, wenn sie die Trennung nur als vorübergehend ansieht. Sie weiß, thr inneres Gesetz verlangt ebenso gebieterisch nach eigener Lebensgestaltung wie nach der Ergänzung.

So scheint es mir, daß der Roman Gilgi" einen Einzelfall aus der Wirklichkeit wiedergibt, der selbstverständlich nicht für alle, aber für eine bestimmte Schicht jugendlicher Men­schen typisch ist. Ich glaube, daß man den Roman nicht von literarischen Gesichtspunkten aus, son­dern als Zeitdokument betrachten muß. Dr. Else Möbus.

Die Kleinkindforschung

Vier Gruppenkämpfen/ Von Henny Schumacher

Auf dem öffentlichen Kongreß für Kleinkinder­erziehung nahmen mehrere psychologische und pädagogische Verbände zur Frage der Kleinkind­not unserer Zeit Stellung: der Deutsche Fröbel­Verband, die beiden Montessori - Vereinigungen Deutschlands , der Internationale Verein für In­dividualpsychologie und die Deutsche Psycho­ analytische Gesellschaft .

Der Deutsche Fröbel- Verband be­ruft sich auf die Gedankenwelt Fröbels und hat damit eine mehr als einhundertjährige Tra­dition für

oder gegen sich. Die psychologische Tatsache der kleinkindlichen Totalität und die Not­wendigkeit, in der psychologischen Situation diesem ganzheitlichen Wesen Rechnung zu tragen, sind Grundgedanken der Fröbelschen Seelenlehre, die der modernen Psychologie durchaus ent­sprechen. Mit ihnen hängt der Gedanke der

Lebenseignung" zusammen, der, richtig aufgefaßt, eine große sozialpädagogische Be­deutung hat. Der Mensch steht in dem großen Zusammenhang Natur, Gott und Menschheit, und die Erziehung hat die Aufgabe, ihm diese Ver­bindung bewußt und für ihn fruchtbar zu machen. Die Entwicklung des Menschen vollzieht sich in Stufen, von denen jede einzelne voll durchlaufen werden muß, wenn die nächstfolgende zu reiner Ausbildung kommen soll. Um dies Ziel zu er= reichen, bedarf es der Tätigkeit, die für jede Ent­wicklungsstufe verschieden ist, im Kleinkindesalter Darstellung des Innern durch freies Spiel be­deutet. Hat das Kleinkind weder Zeit noch Ge= legenheit, im frei darstellenden Spiel seine Kräfte zu üben, so wird es auf der nächstfolgenden Stufe des Schulkindes auch nicht fähig zur Arbeit wer­den.

Fröbel ist nicht, wie Pestalozzi , ein Vater der Armen" gewesen. Er hat die soziale Not seiner Zeit anscheinend nicht gekannt. Wenn er zur Gründung eines allgemeinen deutschen Kinder­gartens" für alle Kleinkinder aufruft, so leitet ihn nicht die Erkenntnis von der Not der Arbeiter­bevölkerung, sondern die Einsicht in Erziehungs­notstände in allen Bevölkerungsschichten. Sein Hilfsmittel für Elend und Not ist nur Erziehung! Von der Macht wirtschaftlicher Umstände weiß er wenig.

Daran ändert auch der Schluß nicht viel, der vielleicht nach Meinung der Verfasserin den Aus­blic zeigen soll, daß Gilgi doch noch den Weg zu den Ihren findet, weil sie sich von dem Freunde, von dem sie ein Kind erwartet, loslöst und fern von ihm wieder zu ihrer Arbeit zurückfinden will. Maria Montessori ist Aerztin . Im Dieser Ausblid ist sehr schön ein modernes Gegensatz zu dem intuitiv vorgehenden Fröbel happy- end-, aber es bleibt doch, daß wir- Gilgi arbeitet sie wissenschaftlich analytisch. Ihr ist das

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Kleinkind wesentlich ein ernsthafter Arbeiter, so daß das freischöpferische Spiel zugunsten einer intellek= tuell entwickelnden Beschäftigung zurücktritt. Die Ehrfurcht vor der Kindesseele hindert sie, dem Kinde etwas aufzuzwingen. Sie überläßt ihm die freie Wahl der Beschäftigungen und greift nur dort ein, wo es das Wohl der Gemeinschaft verlangt. Die innere Disziplinierung des Kindes erzeugt nach ihr die äußere Ruhe und Ordnung.

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Daß es in Deutschland schon zwei Montessori­Vereinigungen gibt, die durchaus nicht überein­stimmen, zeigt die Eigengesetzlichkeit jeder Be­wegung gegenüber ihrem Ursprung. Allem An­schein nach wird es hier noch zu schweren Kämp­fen kommen. In Italien kann heute eine ernst= hafte Persönlichkeit nur Faschist oder Antifaschist sein. Maria Montessori neigt der faschistischen Bewegung zu. Damit wird die Situation für die deutschen Montessorianer kritisch. Der ein­seitige Intellektualismus der Gründerin Don ihr als Italienerin verständlich hatte zur Folge, daß in Deutschland vorwiegend die jüdische Bour­geoisie sich dieser Bewegung anschloß, wie ja auch in den deutschen Kinderhäusern die jüdischen Kin­der das Hauptkontingent bilden. Nun ächtet aber der deutsche Faschismus die Juden. Die Be­grenztheit auf das nationale Kind, die sicher bei Maria Montessori vorhanden ist, kann von außer­italienischen Ländern kaum übernommen werden, es sei denn, daß z. B. in Deutschland die Natio= nalsozialisten diese Bewegung für sich annettierten, was aber hinwiederum völlig ausgeschlossen ist, da sowohl die Idee der Freiheit als die starke rationale Einstellung und Erziehungsmethode von Maria Montessori der Gedanken- und Tatwelt des Nationalsozialismus widersprechen. Es liegt also hier eine Bruchstelle vor, die früher oder später vermutlich zu einer Trennung zwischen der italienischen und deutschen Montessoribewegung führen wird. Jedenfalls war es von gewisser Seite aus verfehlt, die Montessori - Richtung für das Proletariat in Anspruch zu nehmen. Sicher liegt die Betonung einer freiheitlichen Kindes­entmidlung und die Anerkennung der Gemein­schaft als notwendiger Sozialfituation in der Rich tung einer sozialistischen Erziehung. Aber ein enger Nationalismus ist ihr Todfeind. Die Individualpsychologie, deren Führer der Wiener Arzt Alfred Adler ist, hat das Geheimnis, das über der menschlichen

Charakterbildung liegt, zum Teil gelüftet. Sie zeigt als zentrale Kraft im Seelenleben des Menschen das Streben nach Macht und den Ge= meinschaftstrieb. Die menschliche Gemeinschaft hat sowohl nach der entwickelnd fördernden Seite als auch nach der hemmenden und falsch leitenden Seite eine wesentliche Bedeutung. Viele Fehl­entwicklungen des Menschen, ergeben sich aus der Ueber oder Unterordnungsregelung innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Minderwertigkeits­gefühle sind die Folgen. Mangelnde Lebens­meisterung ist die traurige Nacherscheinung. Die Individualpsychologie ist insofern durchaus opti­mistisch eingestellt, als sie nicht an unabänderliche Erbanlagen glaubt, sondern der Ueberzeugung ist, daß die Anlagekräfte nach jeder Richtung hin entwicklungsfähig sind, es also darauf ankommt, ihnen in frühester Jugend die Richtung auf Selbständigkeit, Mut und Lebenstüchtigkeit zu geben. Für die Praxis hat die Individualpsycho­logie eine große Bedeutung.

Die Psychoanalyse war zuerst eine Be= handlungsmethode für neurotische Störungen" und wurde erst allmählich zu einer Forschungs­methode. Siegmund Freud, der Begründer dieser Richtung, hat das Verdienst, nachgewiesen zu haben, daß es schon eine infantile Pu­bertät" gibt, die sich in der Kleinkindzeit deut­lich offenbart. Wenn ein affektbetonter seelischer Vorgang in diesem Alter nicht zum Abklingen bzw. zum Abreagieren gelangt, wird er ins Unterbewußtsein verdrängt und stört von hier aus die normale Entwicklung. Unter den Ver­drängungskomplegen des Unbewußten spielt bie Segualität eine bedeutungsvolle Rolle. Objekte der infantilen Sexualität sind der eigene Körper und die Eltern, wobei die Verdrängung der Trieb­kräfte, die sich auf die Eltern richten, den Dedipus­fomplex erzeugen.

Auch innerhalb dieser psychologischen Richtung wird die Wichtigkeit frühkindlicher Entwicklung und Führung uns besonders klar. Die Not des Klein­findes ist so unendlich groß, daß es nicht darauf ankommen kann, das Verschiedenartige der je= meiligen psychologischen Forschung voranzustellen, sondern darauf, Mittel und Wege zu finden, wie auch in unserer Krisenzeit dieser Not abgeholfen merden fann. Gelingt dies, so ist schon viel getan!