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BEILAGE

am

Vorwärts

MITTWOCH, 19. OKT. 1932

Friedrich Engels und Conrad Schmidt

Der Vorwärts " brachte

14. September 1932 eine kurze Würdigung der Persönlichkeit Dr. Con­rad Schmidts. Diese Persönlichkeit war von so hohem geistigen und sitt­lichen Gehalt, daß sie in unserem temperamentvollen Vorfämpfer Friedrich Engels ein lebhaftes Interesse und ein warmes freundschaftliches Empfinden für den jungen Gelehrten Dr. Conrad Schmidt weckte. Schmidt hatte sich am 2. Fe­bruar 1887 von Königsberg in Ostpreußen an Engels in London gewandt und dessen Hilfe erbeten, um tief in das ,, Fabrikwesen" eindringen zu fönnen. Schmidt be= kannte offen seine Unkennt­nis ,, der wirklichen wirt­schaftlichen Welt auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungs­stufe". Und unter der weit­sichtigen Führung des be­rühmten Verfassers der ,, Lage der arbeitenden Klassen in England" ge­dachte er den Weg in diese Welt anzutreten. Engels nahm den sich so ehrlich und so bescheiden gebenden Mann freundschaftlich auf und lud ihn zu seinen Abenden" ein, an denen er in ,, an­spruchslos frisch- burschikosem Plauderton" eine so reiche Fülle sozialistischer Anregungen ausstreute, daß

neuer

dem jungen deutschen Forscher bald eine neue Welt" aufging. Ueber die Abende" bei Engels machte sich Schmidt Aufzeichnungen, und sicher würden wir unsere Kenntnis des intimen Engels wesentlich erweitern, wenn wir unter dem Nachlaß Dr. Conrad Schmidts diese Aufzeichnungen ent­decken würden.

Mehrere Monate hielt sich Schmidt in London auf. Aus der freundschaftlichen Begegnung beider Männer entwickelte sich ein langjähriger Brief­wechsel, der mitunter recht grelle Streiflichter auf die politischen Verhältnisse Deutschlands wirft und manche wertvolle Fingerzeige für das Ver­ständnis Marr'scher Theorien gibt. Vor uns liegen die bisher noch unveröffentlichten Briefe Conrad Schmidts an Fr. Engels und die in den Sozialistischen Monats= heften"( Jahrgang 26, 55. Band, 1920 II) a b= gedrudten Briefe Engels

C. Schmidt.

an

Conrad Schmidt war seiner ganzen Veran­lagung nach wissenschaftlicher Forscher und Ge lehrter, aber er mußte zur Feder des Journalisten greifen und in aufreibender Tagesfron schanzen, da ihm der politisch und sozial rückständige Geist der deutschen Universitäten alle Zu­gänge zu den atademischen Hörsälen rücksichtslos verschloß.

Die gescheiterte Privaldozentur

Dr. Conrad Schmidt schreibt an Fr. Engels unter dem 28. August 1888:

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.. Prof. Elster... riet mir nun sehr, ich solle nach Halle gehen, der dortige Dozent ( Prof. C.) habe sehr tolerante Ansichten, werde meiner Habilitation nicht im Wege stehen, mich auch macker fördern usw. Ich ging auch wirklich nach Halle und machte die Bekanntschaft des be= treffenden Professors, der in der Tat sehr liebens­würdig und entgegenkommend war. An eine Ha= bilitation in Halle war übrigens, wie sich bald herausstellte, gar nicht zu denken, weil diese Uni­versität die letzte streng tonfeffionelle ist, und ich Dissident bin und einer freien Gemeinde angehöre. Nachdem ich im Seminar eine Uebersicht meiner Habilitationsarbeit über das Verhältnis von Profit und Mehrwert" vorgetragen hatte, entspannen sich im Anschluß daran sehr lange und sehr unerquidliche Debatten, die aber insoweit mich interessierten, als sie die boden= lofe professorale Untenntnis von Marr aufdeckten. Nachdem C. so meine Stellung kennengelernt hatte, erklärte er mir, ich würde mich mit dieser Arbeit an teiner preußi= schen Universität auch nur habilitieren fönnen, an Berufung sei selbstverständlich auch nicht im entferntesten zu denken. Alles dieses, trotzdem ich in meinem Aufsatz alle sozialistischen Schlußfolgerungen vermieden und mich streng an das Ihnen formulierte Problem gehalten hatte: Wie sich auf Grundlage des Wertgesezes eine gleiche Durchschnittsprofitrate bilden kann und muß. Das bloße Akzeptieren der Marg'schen Werttheorie ist bei den Herren schon als Staats­nerbrechen angesehen, lieber schwören sie darauf, dah Smith und Ricardo lauter Unsinn geredet,

Zur Geschichte und Theorie der Sozialdemokratie

Conrad Schmidt

als daß sie irgendeinen Saz annehmen, von dem sie dunkel befürchten, er könne irgendwie sozia­listisch verwendet werden."

Am 8. Oktober 1888 antwortet Engels auf diesen Brief Schmidts: Die Erzählung Ihrer Habilitationsabenteuer haben mir die deutsche Universitätsmisere wieder einmal recht vor die Augen geführt. So etwas nennt sich Freiheit der Wissenschaft. Es ist die alte Geschichte von Bruno Bauer aus den vierziger Jahren, nur daß wir jetzt weiter sind und es nicht nur theologische und politische, sondern auch ökono= mische Rezer gibt. Nun, ich will hoffen, daß Thufydides( Prof. Roscher. D. R.) menschlich fühlt und Ihnen in L.( Leipzig ) feine Schwierig­feiten macht. Sehr interessant war mir, zu er= fahren, daß es in Deutschland auch noch eine ,, kon= feffionelle" Universität gibt. Was das ,, wieder­geborene Vaterland" noch für sonderbare Dinge beherbergt."

In Leipzig bemüht sich nun C. Schmidt erfolglos um seine Habilitation, und er unter­richtet sich bei Engels über die in- und auslän­dischen Presseverhältnisse, um sich notgedrungen der Journalistik zu widmen. In seinem Brief vom 9. Februar 1889 streift C. Schmidt den gescheiterten Habilitationsversuch Dr. Heinrich Brauns in Jena . Er schreibt an Engels :

,, Braun, der Herausgeber des Archivs", ist übrigens, was Sie intereffieren wird, wie ich von Professor C. in Halle hörte, selbst Sozial­demokrat. Auch er hat einen Habilitationsversuch in Jena gemacht, aber trotzdem der dortige Deko­nom Diersdorf sich mit seiner Arbeit und feinen Leistungen durchaus zufrieden erflärte, murde er bei dem Kolloquium von einem Baar Professoren, die weil zur philosophischen Fakultät gehörig das formale Recht, mit­zuegaminieren, besaßen, zu Fall gebracht, weil seine Gesinnung ruchbar geworden war. Am meisten würde ich mir natürlich eine regel­mäßige Beschäftigung wünschen, die, wenn auch nur sehr bescheiden bezahlt, einem doch die Existenz ermöglicht und gleichzeitig genügend Raum für ökonomische Arbeiten und dergleichen läßt."

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Die Jungen"

Mit dem zur Neige gehenden Sozialistengesetz trat die radikale Unterströmung, die während der ganzen Dauer dieses Gesetzes auf den sozial­demokratischen Geheimkontressen und in den oppositionellen Rundgebungen der Ge­heimorganisation neben der gemäßigten öffent­lichen Politik der sozialdemokratischen Reichstags­fraktion einherlief, fast tumultarisch hervor. Conrad Schmidt stand 1890 mitten in der oppo­fitionellen Bewegung, er redigierte das Blatt der Berliner Opposition: Die Bolfs= tribüne". Engels war unzureichend über diese Bewegung unterrichtet worden und hielt diese für eine ,, Studentenrevolte", meil vielfach junge Aka­demiker in den Blättern der Opposition zu Worte famen. Er wertete die Führer der Berliner Oppo­fition als grüne Jungen, die nichts sehen als ihren maßlosen Eigendüntel", und die doch ,, die Parteitaktit porschreiben" mollen.

Conrad Schmidt äußert sich in seinen Briefen an Engels wiederholt über die oppositionelle Be­wegung. Seine Beobachtungen und Urteile über die sogenannten Jungen" erhalten eine gewisse historische Bedeutung wegen seiner engen Verbin­dung mit den ihm sehr vertrauten Führern. Am 20. Oktober 1890 schreibt er an Engels :

.. Streicht man alles, was leichtsinnige Zwischenträger in dem Streit verschuldet, so bleiben faum wesentliche Differenzpunkte übrig. Was Brinzipielles gegen die bisherige Taktik aufgeführt wird, sigt wohl nur weniger tief. Im allgemeinen scheint es mir mehr Rechtfertigungsgrund als Ur­sache zu sein. Neben dem gegenseitigen Mißtrauen ist wohl noch ein gewisses Unbehagen

an dem Streite schuld, das Unbe= hagen, daß sich bei den heutigen Führern hinreißendes, aufrütteln des Pathos so selten zeigt. Die parla­mentarische Tätigkeit unserer Fraktion erscheint vielen als zu schlicht und wochentäglich. Sie sehen den Nutzen davon nicht."

Die proletarischen Führer der Berliner ,, Jungen", Werner, Wildberger, Ba= ginski, Eugen Ernst usw. erhoben ihre heftigen Anklagen gegen die sozialdemokratische Fraktion, weil diese mit ihrer sozialreformerischen Parlamentspolitik die revolutionär- sozialistische Endzielspropaganda überwuchert hätte.

Die materialistische Geschichtsauffaffung

Ein Wortführer der Jungen, Paul Ernst , handhabte sehr schematisch und oberflächlich die materialistische Geschichtsauffassung. Deshalb schrieb Engels an C. Schmidt:

,, Auch die materialistische Geschichtsauffassung hat deren heute eine Menge, denen sie als Vor­wand dient, Geschichte nicht zu studieren. Ganz wie Marg von den französischen Marristen der letzten siebziger Jahre sagte: Tout ce que je sais, c'est que suis pas marxiste."( Alles, was ich weiß, ist, daß ich nicht Marrist bin.) Ueberhaupt dient das Wort ,, materialistisch" in Deutschland vielen jüngeren Schriftstellern als eine einfache Phrase, womit man alles und jedes ohne weiteres Studium etikettiert, das heißt diese Etikette aufflebt und dann die Sache abgetan zu haben glaubt. Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, fein Hebel der Konstruktion a la Hegelianertum. Die ganze Geschichte muß neu ſtudiert werden, die Daseinsbedingungen der verschiedenen Gesell­schaftsformationen müssen im einzelnen untersucht werden, ehe man versucht, die politischen, privat­rechtlichen, ästhetischen, philosophischen und reli­giösen usw. Anschauungsweisen, die ihnen ent­sprechen, aus ihnen abzuleiten. Darin ist bis jetzt nur wenig geschehen, weil nur wenige sich ernst­lich daran gesetzt haben. Darin können wir Hilfe in Massen brauchen, und wer ernstlich arbeiten will, fann viel leisten und sich auszeichnen. Statt dessen aber dient die Phrase des historischen Ma­terialismus( man fann eben alles zur Phrase machen) zu vielen jüngeren Deutschen nur dazu, ihre eigenen relativ dürftigen historischen Kenntnisse( die ökonomische Geschichte liegt ja noch in den Windeln!) schleunigst systematisch zurecht­zukonstruieren und sich dann sehr gewaltig vorzu­tommen."

Conrad Schmidt pflichtet dem Urteil Friedrich Engels über die damaligen Vertreter des histo­rischen Materialismus völlig bei. Er schreibt näm­lich an Engels unter dem 20. Oftober 1890:

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,, Was Sie in Ihrem letzten Briefe, für den ich Ihnen herzlich danke, über die heutigen Vertreter des historischen Materialismus schreiben, stimmt ja leider sehr. Paul Ernst , über dessen Einseitigkeiten wie ich aus ich mich oft geärgert, ist indes feinem Briefe ersehe, durchaus nicht so verblendet, als es scheint. Sein kunstgeschichtlicher Aufsatz in einer der letzten Nummern der Tribüne"( der ,, Berliner Volkstribüne". D. Red.) zeigt bereits ein entschiedenes Einlenken: das Geständnis, der Materialismus verflüchtige sich ohne ge= naueste Kenntnis des Tatsachen= materials allzu leicht zu einem bloßen Sche­matismus..."

er

Conrad

Paul Barth als Anreger Mit gespanntem Interesse hatte Schmidt das Buch Paul Barths: Die Ge= schichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Mary und Hustmann" studiert. Am 20. Otto­ber 1890 äußerte sich Schmidt gegenüber Engels über dieses Buch: Das Hauptargument Barths liegt darin, daß die Einwirkung nicht­ökonomischer( insbesondere politischer) Prozesse auf die ökonomische Grundlage historisch nachweiſen zu können meint. Dies wäre freilich kein Einwand gegen die materialistische Geschichtsauffassung, wenn diese nichtökonomischen Prozesse selbst wieder ökonomisch abgeleitet werden könnten. Denn dann würde die Einwirkung derselben auf die Deko­nomie selbst wieder ökonomisch begründet ſein, und alles wäre im Grunde auf wirtschaftliche Agentien zurückgeführt. Aber eben das, meine ich, müßte Barth gegenüber nachgewiesen werden. Ist das nicht möglich, so würde die Marrsche Ge= schichtsauffassung in ihrem strengsten Sinne doch nicht zu halten sein. Die Dekonomie wäre nicht mehr der einzige vormärtstreibende Faktor, andere selbständige, aus ihr nicht abzu­leitende Prozesse mürden den wirtschaftlichen Ent­widlungsgang beeinflussen, während doch bei Mary gerade die Selbständigkeit solcher beein­flussenden Prozesse als Illusion hingestellt und geleugnet werden."

Friedrich Engels hat der durch Paul Barth hervorgerufenen Interpretation der materialiſti­schen Geschichtsauffassung einen sehr ausführlichen Brief( den Brief nom 27. Ottober 1890) gewidmet,

Wir heben aus diesem nur einige sich auf die Politif beziehenden Ausführungen Fr. Engels' hervor Ausführungen, die auf die Rückwirkung der allerdings begrenzten Selb = ständigkeit der Staatsgewalt auf ihre ökonomische Grundlage hinweisen. Engels schreibt also:

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,, Die Gesellschaft erzeugt gemeinsame Funktio­nen, deren sie nicht entraten kann. Die hierzu ernannten Leute bilden einen neuen Zweig der Teilung der Arbeit innerhalb der Gesell= schaft. Sie erhalten damit besondere Inter­effen auch gegenüber ihren Mandataren, sie ver­selbständigen sich ihnen gegenüber und der Staat ist da. Und nun geht es ähnlich wie beim Warenhandel und später beim Geldhandel.

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Die neue selbständige Macht hat zwar im ganzen und großen der Bewegung der Produktion zu folgen, reagiert aber auch kraft der ihr inne­wohnenden, das heißt ihr einmal übertragenen und allmählich weiter entwickelten relativen Selb­ständigkeit wiederum auf die Bedingungen und den Gang der Produktion... Die Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung fann dreierlei Art sein: Sie kann in derselben Richtung vorgehen, dann geht's rascher, sie fann dagegen angehen, dann geht sie heutzutage auf die Dauer in jedem großen Volk kaputt, oder sie kann der ökonomischen Entwicklung bestimmte Richtungen abschneiden und andere vorschreiben. Dieser Fall reduziert sich schließlich auf einen der beiden vorhergehenden. Es ist aber klar, daß in Fällen 2 und 3 die politische Macht der ökono= mischen Entwicklung großen Schaden tun und Kraft und Stoffvergeudung in Massen erzeugen fann."

Diese lezten Ausführungen Engels ' haben in unseren Tagen eine direkt aktuelle Bedeutung erlangt. Sie beleuchten die faschistischen und bolschemistischen Experimente unserer Zeit sehr eigenartig.

Der originelle Denker Conrad Schmidt veröffentlichte 1889 seinen großzügigen theoretischen Versuch, das kapita­listische Gesetz von der Durchschnittsprofitrate mit der Marrschen Werttheorie in Einklang zu bringen. Engels sieht in Schmidt einen geistes­verwandten Förderer der marristischen Theorie. Er schreibt am 17. Oftober 1889 über die ihm zugesandte Schrift Schmidts: Die Durchschnitts­profitrate auf Grundlage des Marrschen Wert­gesetzes an diesen selbständigen jungen Forscher: ,, Lieber Schmidt, durch Ihre Schrift, für deren gütige Zusendung ich Ihnen bestens dante, find wir einander so viel näher gerückt, daß ich mich nicht überwinden kann, Ihnen gegenüber die her= gebrachten Titulatoren anzuwenden, und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so behandeln Sie mich desgleichen. Wenn ich auch nicht gerade sagen kann, daß Sie das fragliche Problem gelöst haben, so berührt sich doch Ihr Gedankengang und der des 3. Bandes Kapital in manchen und selbst in wichtigen Punkten in einer Weise, daß Ihnen die Lektüre dieses dritten Bandes ganz besondere Freude machen wird...( Der dritte Band des Kapital erschien erst 1893/94.)... Mir persönlich hat die Schrift noch ganz besondere Freude ge= macht durch den Beweis, daß wieder einer mehr da ist, der theoretisch denken fann."

Wir können unserem Conrad Schmidt nichts Ehrenvolleres in das Grab rufen als das Wort des immer so kritischen Friedrich Engels : Schmidt war einer, der theoretisch denten kann". Kampffmeyer.

P.

... stets vorzüglich

stets bekömmlich

Engelhard

ENGELHARDT

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