ZWEITE BEILAGE
FREITAG, 21. OKT. 1932
ein— und vergiß nicht den Zahnarzt!" Schon an der Tür — läuft Gilgi noch einmal zurück, küßt Martin hastig auf Nacken und Hals und Augen—„nein, halt' mich nicht fest, Liebling— leb' wohl— bis heut' mittag...!"
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(ÜLML V&H UMS
Wie ich dich liebe, weil du so bist— wie ich dich liebe, weil du so bist... so hat er noch nie gesprochen, so noch nie. Da muß man wohl etwas Unrechtes getan haben, damit ein Mann so spricht.„Martin, du— ich hatte sehr viel neue Zärtlichkeiten für dich— und du, Martin, du hast doch auch viele Frauen gehabt. Aber mag einer auch tausend Frauen gehabt haben— wie wenig müßte man sein, wenn man nicht trotzdem wenigstens ein Wort aus einem Mann herausküssen könnte, das noch keine andere gehört hat— und auf dieses eine Wort kommt es dann an— auf — dieses— eine— Wort— du"— drückt fester den Kopf in seinen Schoß, schließt die Augen— Virginiatabak— Hyazinthenduft — ein Lied, ein Lied— Musik— Duft singt sich ins Blut— die wache Müdigkeit, das Leben hinter geschlossenen Lidern— in der heißen Hand glitzernde Steine, glühende Steine— aber sie leben nicht von allein, ich mache sie lebendig...„Martin, ich habe meine Mutter nicht nach meinem Vater ge- fragt— ich habe es einfach vergessen, denk' dir. Aber es ist mir egal— es kommt nicht viel dabei raus, wenn man seine Familie kennen lernen will... ja, Martin, ja— ich weiß, ich wollte nicht hingehn damals— nun bin ich gegangen— der Hans mußte doch Geld haben..." Gilgi springt auf— taumelt — steht fest—„Ich muß fort, Martin.. Er packt sie am Arm— ist kreideweiß, seine Stimme heiser—„Das hast du für einen andern getan! Um Geld gebeten! Wie sehr mußt du den lieben." „Gott , Martin, Martin..." Ein Karussell im Kopf— ich hätte nicht trinken sollen— jetzt bin ich betrunken— man muß erklären, kann nicht erklären— wirre Worte, die alles nur schlimmer machen, noch mißverständ- licher..... Ich muß gehn..." „Ich will, daß du hier bleibst, Gilgi— hörst du, ich will." „Du hast nichts zu wollen, Martin"— Hertha — die kleinen Kinder...— „Ja", sagt Martin und läßt ihren Arm los — mit schwankenden, kleinen Schritten geht Gilgi zur Tür... Martin sieht ihr nach, hat den Kopf auf die Hände gestützt—„Recht hast du, Gilgichen, ich Hab' nichts zu wollen — geh' nur, kleines Mädchen, geh' nur." „Nein, nein, nein, Martin— ich gehe nicht." Gilgi stürzt zu ihm hin, ist wie von Sinnen. „Du wirst verstehen— das ist so lächerlich alles— du— ich bleibe bei dir, ich bleibe hier— ich liebe dich— es geht mich nichts an. wenn der Hans ins Gefängnis kommt, ich hasse ihn, Martin, weil du durch ihn traurig geworden bist— du glaubst mir jetzt, daß ich dich liebe, nicht wahr? Du mußt es mir glauben.." Du— die rote, heiße Wolke— die Sonne — immer näher— Hyazinthen, Hyazinthen in schwarze Vasen— deine Hände auf meiner Brust— deine Lippen— deine Augen im Licht, der liebe Schmerz in deinen Augen... du— die Ringe— sind auf die Erde gefallen— laß sie liegen— meine Hände— die brauche ich jetzt für dich... Dünnes graues Morgenlicht schleicht ins Zimmer. Gilgi wacht auf— hebt den Kopf. Der schmerzt, als wenn lausend Messer einem ins Hirn stechen. Ein Blick auf Martin— er schläft, Gilgi schiebt schnell und entschlossen die Beine unter der Decke hervor. Fühlt sich müde und zerschlagen. Sie geht ins Eß- zimmer— neben dem Diwan liegen die Ringe. Gilgi liest sie auf, hält sie Minuten- luNg stumm auf der flachen Hand, betrachtet sie abwesend. Sucht vergeblich zu dem erleb- nisgesüllten Gestern eine Beziehung zu finden. Fühlt sich leer und ausgepumpt. Sieht das gebrauchte Kognakglas auf dem Tisch und verzieht leicht den Mund in müdem Ekel. Kommt sich uralt und halb gestorben vor. ist sich zuwider und weiß nicht warum — und ist tausendmal zu müde und gleich- gültig, um nacb einem Warum zu suchen. Sie gähnt. Möchte umfallen und liegen bleiben— für immer— gibt sich plötzlich einen Ruck und geht ins Badezimmer. Läßt minutenlang die kalte Dusche auf sich nieder- prasseln. Kleidet sich dann scbnell und inner- bald voll zehn Minuten an. Geht zu Martin. setzt sich zu ihm aufs Bett und fährt ihm leicht mit der Hand übers Gesicht, schiebt ihm sehr sanft die Lider über die Auaen hoch— „Wach' auf, Martin! Hör' zu, Liebling, es ist gut, wenn du bald aufstehst— um neun bist du beim Zahnarzt angemeldet, und nach- ber wolltest du zur Bibliothek." Müde leiert sie die Worte runter— ein dumpfer, beklemmender Druck auf der Brust nimmt ihr fast die Kraft zum Atmen. „Bist du traurig, Gilgichen, geht es dir
nicht gut?" fragt Martin— noch halb im Schlaf und tastet nach ihrer Hand. „Ach, ich Hab' so eine dumme Angst und ein schlechtes Gewissen, Martin— das wird aber gleich besser werden. Ich geh' jetzt zur Friesenstraße und bring' das Geld und die Ringe hin— ich Hab' doch eher keine Ruhe, Verstehst du. Liebling, das hat jetzt nichts zu tun mit Mitleid und Gefühl und sowas— ich muß nur einfach mein Versprechen halten — sonst werde ich krank. Ich verlange und wünsche so stark, daß man mir ein gegebenes Wort hält— ich möchte das Recht auf diesen Wunsch nicht durch mich selbst verlieren,.." Martin setzt sich aufrecht im Bett—„Natürlich, Kleine— tu' nur, was du für richtig hältst. Wie dumm sind wir doch gestern ge- wesen! Hab' ich dir ganz unnütz Kummer gemacht, nicht wahr? Ich werde mich schnell anziehen, und wenn du willst, komme ich mit dir..." „Laß nur, Martin, ich möcht' lieber sofort gehen— da kann jetzt jede Minute wichtig sein. Und warte nicht erst auf mich, ich werd' gleich von der Friesenstraße aus zum Arbeits- amt gehn. Und sei pünktlich heute mittag zum Essen da— ich koch' was besonders Schönes. Wiedersehn, Liebling— schlaf nicht wieder
Cr pa(M fie am Arm.., Friesenstraße. Vor dem Haus, in dem der Hans und die Hertha wohnen, stehen Leute, sind anscheinend durch irgend etwas aufgeregt — sprechen, gestikulieren— Gilgi beachtet sie nicht, öffnet die Haustür— ein Klumpen Weiber im Treppenflur— raschelndes Schwatzen... Gilgi bleibt stehen, zieht aus dem Handtäschchen ein blaues Briefkuvert mit
den sieben Hundertmarkscheinen, nimmt die Ringe— sind doch noch alle da? Ach, wie froh werden sie sein, die da oben! Immer zwei Stufen auf einmal genommen— wie das Herz klopft, den Atem schnürt's einem ab. Warum bin ich denn traurig? So eine wehe Traurigkeit in allen Knochen... ich hätte gestern abend hier- hergehn sollen, dann brauchte ich mich nicht so bedrückt fühlen— ach, Unsinn, das ist ja übertriebene Gewissen- haftigkeit— ist ja jetzt auch noch nicht zu spät. Die Tür vom Man- sardenzimmer ist halb geöffnet. Ein fremder Mann kommt aus dem Zimmer.— Gilgi prallt fast mit ihm zusammen. Der Mann hat eine Mütze in der Hand— der Mann sieht Gilgi an— der Mann macht den Mund auf— schwarze Zahnlücken. aus denen Worte kriechen...„Wollen Sie zu denen da. Die find tot. Vor einer halben Stunde hat man sie fortgebracht. Tot. Alle vier. Gas. Einen Brief hat der noch geschrieben— vorher-- der hat's satt gehabt. Ich hab's auch bald satt. Guten Morgen." Der Mann setzt die Mütze auf. Langsam verhallt sein schwerer Schritt auf der Treppe... (Fortsetzung folgt.)
3)er tRaum i|l nirgends leer! Reife sunt Wehls/ Von Qeorg Qrau
Als Otto von Guericke am 8. Mai i65i den Regensburgern seine luftleeren Halbkugeln vorführte, die von 16 Pferden nicht auseinander- gerissen werden konnten, glaubte das Volk, daß hier der Teufel seine Hand im Spiele hätte. Aber es war nur eine Saugpumpe. Daß dieses einfache Phänomen des Luftdrucks ein der- artiges Erstaunen auslöste, erscheint eigentlich merkwürdig, denn die Grundlagen des atmo- sphärischen Drucks waren längst vor Guericke be- kannt. Schon A r i st o t e l e s wußte um sie, und 1643 hatte T o r r i c e l l i in Florenz die un- regelmäßig schwankende Wirkung des Luftdrucks auf eine Quecksilbersäule entdeckt. Das Verdienst Guerickes bestand darin, daß er die technischen Folgerungen aus den vorliegenden Theorien schuf. Heute im Zeitalter der Atomtheorie kann jeder Schuljunge das Barometer ablesen. Er weiß auch, daß die Luft auf jeden Ouadratzentimeter mit dem Gewicht von einem Kilogramm lastet und daß Piccard in der luftarmen Stratosphäre von künstlichem Sauerstoff leben mußte. Ucbrigens hat uns Piccard aus jenen Regionen nichts Neues mitgebracht. Seine Feststellungen waren uns durch Registrierballons längst bekannt. Und was bedeuten seine 17 Kilometer Höhe gegen die fast S60 Kilometer starke Lufthülle, die unsere Erde umgibt? Könnte man Berlin vom Erdboden abheben, so wäre dies ein Weg von Tempslhof bis nach Tegel . Aber wir wollen ein- mal diese Strecke entlangspazieren und dann noch ein Stück weitergehen, um die Veränderungen der Atmosphäre zu beobachten. In Tempelhof enthält die Lust noch 21 Proz. Sauerstoff, ihre Moleküle trommeln mit einem Barometerdruck von 766 mm aus unsere Lungen, und die Temperatur ist milde(etwa 18 Grad). Am Halleschen Tor sinkt das Thermometer bereits aus Null Grad, und am Oranienburger Tor herrscht die unertragbare Kälte von 56 Grad. Die höchsten Wolken, die Cirrus-Wolken lasten wir hinter uns, und die Stratosphäre be- ginnt. Wir sind jetzt in Tegel , an dem Punkt, den Piccard erreichte. Aber unser Phantasieballon soll uns jetzt weitertragen. In einer Höhe von 5 6 Kilometer erleben wir etwas Sonder- bares. Wie Dr. T h i e m e vor einiger Zeit in der„Umschau" ausführte, beginnt jetzt die Tem- peratur wieder zu steigen, um in einer Höhe von 56 Kilometer ungewöhnlich warm zu werden, nämlich plus 35 Grad. Diese hohe Temperatur ist die Folge von chemischen Umsetzungen infolge der Sonneneinstrahlung. Aber dieses warme Bad dauert nicht lange, und bald beginnt wieder die Eiseskälte. Aber uns interessiere» ja die Luftdruckoerhält- nisse. Rapide sinkt die Quecksilbersäule. Am Oranienburger Tor ist sie nur noch 265 mm hoch und in der warmen Ozonschicht in 56 Kilometer Höhe nicht mehr als einen halben Millimeter. Auch der Souerstoffanteil ist hier auf die Hälfte gesunken. Reisen wir jetzt weiter bis zum ersten H u n d e r t k i l o m e t e r st e i n. so ist es mit dem Sauerstoff fast ganz zu Ende, und der leichtere Wasserlwsf wird vorherrschend. Der
Barometerdruck beträgt nur noch 6,667 Millimeter. Wir sind an der Schwelle der Heavisideschicht, im Reich, wo die Polarlichter erglühen. Die äußerst dünnen Wasserstosfgase werden hier durch ein» fallende elektrische Strahlen sowie durch das Kraftfeld der Erde zum Leuchten gebracht. In einer Höhe von 15 6 Kilometer ist der Anteil des Wasserstoffs über 99 Proz. Wir sind jetzt nicht mehr im luftarmen, sondern bereits im luftleeren Bezirk. Jedenfalls nach unseren physikalischen Begriffen. Jener Luftdruck von 6,6661 mm in 156 Kilometer Höhe entspricht ungefähr dem„Hochvakuum" in unseren Röntgenröhren. Die Lust dort oben ist also noch dünner als in unseren Glühbirnen. Was wir aber unter luftleer verstehen, ist noch lange nicht luftleer. Wir werden zum Schluß einen kleinen Abstecher in die unermeßlichen Räume zwischen den Sternen machen und dabei sehen, daß der sogenannte leere Raum überhaupt ein Märchen
ttaUer Itleckauer: Jlrabifche Xegende In einer Wüste, so erzählt die arabische Uebcr- lieferung, begegnet einst ein Weiser einer alten Frau, die in der einen Hand einen Krug Wasser und in der anderen Hand ein Gesäß mit glühen- den Kohlen trug.„Wohin gehst du?" fragte sie der Weise,„und was willst du mit dem Wasser beginnen?" Da erwiderte die Frau:„Mit dem Wasser will ich die Hölle auslöschen, damit keine böse Tat aus Furcht vor Strafe unterbleibe, sondern um ihrer selbst willen." „Und was willst du mit dem Feuer?" „Mit dem Feuer will ich das Paradies an- zünden, auf daß aus Erden ferner kein Gutes geschehe in der Hoffnung des Lohnes, sondern weil Allah es gewollt!" 3>er Wunderdoktor! Ein Doktor wohlgelahrt und gut Braucht einen spitzen Doktorhut, Den muß er hau Auch eine Brillen ins Gesicht, So liest er sein eigen Gesudel nicht, Die muß er hau. Auch eine Spritzen darf nit fehlen, Womit sollt er die Menschen quälen? Die muß er han. Und auch ein Messer und ein Haken, Ein Wasserglas und ein weiß' Laken, Die muß er han. Und ist er also ausgericht'. In Stadt und Land ein jeder spricht: So'n Doktor woll'n wir han. lNochdichtung aus dem Altdeut- scheu von Walter M c ck a u e r.)
nicht
ist, daß es eine absolute Luftleere gibt. Zunächst sei aber eine Abschweifung gestattet. Wir können technisch kein vollständiges Vakuum herstellen. Zur Tause eines Flugzeugs wurde kürzlich in Amerika (die Sektflasche zu diesem Zweck ist bekanntlich verboten) ein Gefäß benutzt, in dem die Luft bestmöglichst ausgepumpt war. Es handelte sich uin eine Glaskugel von 12,5 Zentimeter Durchmesser, und der innere Druck betrug nur wenig mehr als ein Hundert- Millionstel des Atmosphärendrucks. Das Vakuum war also vollkommener als in unseren Radio- oder Röntgenröhren. Trotzdem enthielt dieses kleine Gesäß noch gegen 376 Billionen Gas- Molekeln! Eine phantastische Summe, die wieder einmal zeigt, wie winzig die kleinsten Teile der Materie sind. Das absolute Vakuum ist also eine Utopie, vorläufig jedenfalls. Wir wollen jetzt unsere Reise fortsetzen. Die Gashülle der Erde liegt hinter uns. Die Schwer- kraft unseres Planeten hat ihre Macht verloren und nur wenige Gasmolekeln tummeln sich noch im Raum. Aber das Spiel hört nicht auf: der Raum ist nirgends leer! Diese Entdeckung von S l i p h e r, die noch jün- geren Datums ist, beruht auf einer Erscheinung im Spektrum. Er beobachtete, daß sich die eine Kalzium-Linie im Gegensatz zu den anderen stabil verhält. Sie verschiebt sich nicht mit den Be- wegungen der Gestirne. Er schloß daraus, was von anderen Forschern bestätigt wurde, daß zwischen den Sternen Gasmassen von geringer Dichtigkeit existieren müssen. Freilich sind diese Kalziumdämpfe von so geringer Dichtigkeit, daß unsere Vorstellung nichts mit ihnen ansangen kann. Aus 166 666 Kubikkilometer Raum kommt vielleicht ein Milligramm Stoff, oder nach einer Hypothese von Eddington: ein Atom könnte sich sieben Jahre lang fortbewegen, bevor es mit einem anderen zusammenstößt. Es würde dabei eine Strecke zurücklegen, die größer ist als vom Jupiter zur Sonne. Die Materie zwischen den Sternen ist also so dünn gesäht, daß keine Mücke inehr davon satt werden könnte. Und trotz- dem! Diese einsam umherwirbelnden Atome zeigen, daß es ein Nichts im physikalischen Sinne nicht gibt. Der luflleere Raum wäre demnach eine falsche Hypothese. Der Astronom Ruffel vom Mount-Wilson- Observatorium kommt bei seinen Berechnungen über diese interstellare Materie zu dem märchen- haften Schluß, daß alle zwischen den Sternen ge- lagerten Gosmassen zusammengenommen mehr Materie ergeben als die, die in den Sternen ver- dichtet ist. So gewaltig breitet sich der Raum aus, und solche winzigen Staubkörnchen sind die Ge- stirne. Alles ist nur ein Spiel der Atome. Sie tummeln sich einsam im„Nichts", sie ballen und verdichten sich zu Körpern, sie lösen sich wieder und gehen auf ihre ewige Reise. Einmal sind die Luft, dann Flüssigkeit und dann Körper Sie wechseln dauernd ihren Zustand und bleiben doch immer dasselbe: der llrbaustei» alles Seins.