Morgen- Ausgabe
Nr. 501 A 245 49. Jahrg.
Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
SONNTAG
23. Oktober 1932
Jn Groß Berlin 15 Pf. Auswärts....... 20 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils
Braune Parteibuchwirtschaft und Krach
Aus Oldenburg wird uns geschrieben: Im Freistaat Oldenburg , der seit bald vier Monaten eine rein nationalsozialistische Regierung hat, spitzen sich die politischen Dinge außer= ordentlich scharf zu. Das Land befindet sich in einem argen Finanzdalles, der zur Folge hatte, daß an einzelnen Orten den Volksschul= lehrern schon seit Monaten das Gehalt nur teilweise ausgezahlt werden konnte. Darüber hinaus hat die Regierung sämtlichen Beamten am 1. Oktober eine neue Kürzung ihrer Bezüge beschert, die sich, je nach der Höhe des Amtes zwischen 3 und 20 Proz. bewegt. Oldenburgs staatliche und städtische Beamte sind demnach gegenwärtig die am schlechtesten bezahl= ten Beamten in ganz Deutschland .
Und das in einem Lande, wo die Nazis vor ihrer Machtübernahme täglich im Posaunentone erklärt hatten, sobald sie an der Regierung wären, würde sich alles zum Bessern wenden.
"
Auch auf allen anderen Gebieten haben die Nazis in Oldenburg aufs peinlichste versagt. Mit aller Entschiedenheit wandten sie sich noch kurz nach ihrer Machtübernahme" gegen eine eventuelle Schlachtsteuer. Aber kaum waren fie zwei Monate im Amt, als zum Verdruß aller Bauern und Schlächtermeister die erst so verfemte Schlachtsteuer verfügt wurde!
Ganz einseitig ist die Personalpolitik der Regierung. Daß man gleich zu Anfang das aus drei Ministern bestehende Kabinett ganz für sich mit Beschlag belegt hat, ist bekannt. Ebenso daß der Landtag radikal ausgeschaltet wurde. Man fürchtet dessen Kritik an den Dingen. Der einzige im Ministerium beschäftigte sozial= demokratische Angestellte wurde gekündigt. 3wei sonst gutbürgerliche Schulräte wurden aus ihren Positionen entfernt, angeblich weil von ihnen Widerstände gegen den von der Regierung beabsichtigten neuen Schulfurs zu erwarten seien. Und das Neueste ist, daß man, nachdem man schon die Regierungspräsidentenstelle in
Eutin mit einem nationalsozialistischen Abgeord= neten besetzt hat, jetzt auch die Präsidentenstelle in Birkenfeld einem Nazimann zuschanzen will.
Der gegenwärtige Regierungspräsident, der zu den Demokraten zählt, fikt zwar feit zwölf Jahren in seinem Amt; man hat auch nie gehört, daß gegen ihn etwas vorläge, nun aber fommt die Regierung und will dort einen Wechsel vornehmen, um an die Stelle, die einen Juristen erfordert, einen Nazilandtagsabgeordneten, der von Beruf kaufmann ist, zu fetzen.
Das hat nun die Beamtenschaft auf den Plan gerufen. Der Plan war doch allzu durchsichtig. Just die Partei, die sich früher nicht genug tun konnte in der ödesten Schimpferei über die angeblich ,, unhaltbare" Beamtenpolitik des„ verruchten Systems", just diese macht solche Geschichten. Insbesondere sind es die Deutschnationalen, die jetzt Sturm gegen den Ministerpräsidenten, der in seinen Versammlungen gegenwärtig wieder tüchtig auf die Juden het, Sturm laufen. In die Enge ge= trieben, behauptet nun die Regierung, der Birfenfelder Regierungspräsident wäre nicht mehr tragbar, da ein Teil der Bevölkerung ,, arg= möhne", er hätte während der Besatzungszeit in Birkenfeld mit den Franzosen sympathisiert". Natürlich eine ganz und gar unbeweisbare ,, Argwöhnung", die sich ganz gewiß nur auf die dortigen Nazifreise erstreckt, denen Herr Dörr, so heißt der Beamte, schon längst unbequem iſt. Bollends bunt ist die Geschichte geworden durch die Behauptung der Regierung, sie habe zur Zeit feinen geeigneten Juristen zur Hand und müsse darum den Naziabgeordneten Wild, einen Kaufmann(!), dorthin sezen.
Dabei gibt es in Oldenburg Duhende von höheren Beamten, die sich für diesen Posten eignen. Freilich sind sie nicht Mitglieder der Kazipartei. Ueberhaupt find die mittleren wie die oberen Beamten im Freistaat verhältnis
Thomas Mann für Sozialismus
Bekenntnis vor den Wiener Arbeitern
Eigener Bericht des Vorwärts"
Im großen Saal des Wiener sozialdemokrati schen Volkshauses sprach heute abend der deutsche Dichter Thomas Mann vor sozialdemokratischen Arbeitern. Er erklärte: Es geschieht zum erstenmal, daß ich, der bürgerlich geborene Schriftsteller, vor einem sozialdemokra tischen Arbeiterpublikum spreche. Ich empfinde das als epochemachend für mein ganzes
Wege der Ordnung, Vernunft und Gesundung vorgeschritten werde.
Das erste Bekenntnis des großen deutschen Dichters zur Sozialdemokratie wurde von den Wiener Arbeitern, die in gewaltigen Massen zu seinem Vortrag gekommen waren, mitjubeln dem Beifall aufgenommen.
Leben. Meine Ausführungen sollen nichts anderes Kabinett de Broqueville
jein als ein
Bekenntnis der Sympathie für Ihre fozialistische Sache.
Mann erklärte dann weiter in seiner Rede: Sozialismus ist nichts anderes als der pflichtgemäße Entschluß, den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Bedürfnissen und Forderungen zu verstecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Menschen= sinn geben wollen.
Der geistige Mensch muß sich sagen, daß es in den wichtigsten Staaten Europas beffer stünde, wenn in ihnen statt der bürgerlichen oder feudalen Regierungen Arbeiterregierungen am Ruder wären, daß dann ein gutes Stüd auf dem
Eigener Bericht des ,, Vormärts" Brüffel, 22. Oktober.
Das neue Ministerium de Broqueville besteht fast ausschließlich aus stark verblaßten GröBen früherer fatholisch- liberaler Ministerien, darunter nicht weniger als vier Ministerpräsidenten, und zwar de Broqueville selbst, Jaspar, Poulet und Theunis. Außenminister ist Hymans( liberal).
Der 3med dieses großen Aufgebots ältester Staatsmänner ist sehr durchsichtig. Es soll den ausländischen Bankierkreisen einen günstigen Eindruc madjen und die große Auslandsanleihe,
mäßig zurückhaltend gegenüber dieser Partei geworden.
Sie ahnen einmal, daß es mit der nationalsozialistischen Herrlichkeit nicht allzu lange Zeit währen wird; zum andern stoßen sie sich an der emigen öffentlichen Schimpferei des Ministerpräsidenten Röver, die bereits in weiten Kreisen einen Umschwung herbeigeführt hat.
Das jüngste Beispiel ist der Streit Rövers mit der evangelischen Landeskirche, der damit endete, daß der Oldenburger Oberkirchenrat Klage gegen den Ministerpräsidenten eingereicht hat. Der Streit nahm seinen Ausgang von dem Vortrage eines schwarzen Missionspredigers, der, aus Afrika stammend, in deutscher Sprache auf Veranlassung der obersten Kirchenbehörde in Nordwestdeutschland kirchliche Vorträge hielt. Der Ministerpräsident belegte diese Haltung der verantwortlichen firchlichen Personen mit den schärfsten Ausdrücken und Drohungen.
Die Sozialdemokratische Partei Neumünster erhält fortgesetzt zuschriften aus nationalsozialistischen Kreisen über die unhaltbaren zu stände in der SA . Die, wie man in nationalsozialistischen Kreisen jagt, ,, aristokratische Führung" hat unter den Angriffen der SA. schwer zu leiden, zumal die Kassenver= hältnisse in einer unglaublichen Unordnung sind und mit sehr beträchtlichen Unterschlagungen gerechnet werden darf.
Aehnliche Zustände herrschen in Husum , wo dieser Tage eine ganze SA.- Gruppe aus der Nazipartei ausgetreten ist. Dort sollte ein an den blutigen Vorfällen in Altona beteiligt gewesener und jetzt verurteilter SA.- Mann seine Strafe antreten. Da ihn die Führung vollkommen im Stich ließ, ist er und seine ganze Gruppe mit Protest aus der Partei ausgetreten.
deren Abschluß bisher in London mißlungen iſt, unter Dach und Fach bringen. Auch hoffen die Katholiken und Liberalen dadurch für den bevorstehenden Wahlkampf, von dem die Regierungsparteien einen sozialistischen Sieg befürch ten, die Wähler im Interesse der bürgerlichen Barteien zu beeinflussen. Was die Gerüchte von einem noch engeren Zusammenarbeiten mit dem französischen Generalstab und der Festlegung eines neuen gemeinsamen französischbelgischen Verteidigungsplanes anbetrifft, so wird versichert, daß de Broqueville auf Drängen der christlich- demokratischen und flämischen Katholiken auf die Verwirklichung dieses Planes wenigstens bis zum Zusammentritt des neugewählten Parlaments verzichtet hat. Die Neuwahl der Kammer soll am 20., die des Senats am 27. November erfolgen.
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Jubelnde Freude unter den Vlamen hat die Freilassung des Militärdienstver= weigerers Seimones hervorgerufen.
Heraus
zur
Gegen die Reaktion!
Zur Geschichte einer Wahlparole
,, Gegen die Reaktion!" so lautet die nationalsozialistische Parole in diesem Wahltampf. ,, Gegen die Reaktion!" knallt es über die ganze Breite der ersten Seite in den nationalsozialistischen Blättern. ,, Gegen, die Reaktion!" tönt es tausendstimmig aus den nationalsozialistischen Versammlungen.
Ebenso unbedenklich, wie man dem Sozialismus seinen Namen gestohlen hat, entwendet man der Demokratie ihre geschichtlich berühmte Parole. Unter dem Ruf " Gegen die Reaktion!" kämpften im neunzehnten Jahrhundert aufrechte Männer aus dem Bürgertum gegen Kaiser und Könige, Grafen und Barone , gegen Monarchie und Diktatur für Republik und Demokratie, für Meinungsfreiheit, gleiches Wahlrecht und parlamentarisches System.
Wie so viele andere politische Fachausdrücke stammt auch das Wort ,, Reaktion" in seiner politischen Bedeutung aus einem Nachbarlande, das uns in der Entwicklung vorangegangen war und aus dessen Geschichte wir auch heute noch viel lernen fönnen, nämlich aus Frankreich .., Gegen die Reaktion!" das ist die Kampfparole der ,, westlerischen" Demokratie. Gegen die Reaktion spitte ein Daumier seinen Griffel, schlug ein Béranger seine Leier, schrieben die Rochefort und Clémenceau ihre glänzenden Leitartikel. dall dica
Auch in Deutschland haben die bürgerliche Demokratie und der bürgerliche Liberalismus ihren Kampf unter der Parole geführt: Gegen die Reaktion." Das war der Kampf der Börne und Heine, der Laster und Bamberger , der Eugen Richter und Rickert. Besonders pflegte man die Jahre nach der Revolution von 1848 bis zum Anbruch der neuen Aera als die Zeit der Reaktion zu bezeichnen, von ihr handelt Aron Bernsteins, des ,, Bolkszeitungs"-Redakteurs berühmtes Buch:„ Die Jahre der Reaktion."
Die Reaktion aber, die deutsche Reaftion zumal, hielt unter ihren Gegnern genaue Musterung und fand sie ,, undeutsch". Sie behauptete, daß biedere Untertänigkeit und Unterwürfigkeit vor dem Polizeistaat dem deutschen Nationalcharakter entspreche. Den aufrührerischen Ruf ,, Gegen die Reaktion!" betrachtete sie als eine Erfindung von Juden und Franzosen :
Ausländer, Fremde sind es meist, Die unter uns gesät den Geist Der Rebellion. Dergleichen Sünder, Gottlob, sind selten Landesfinder.
Das war nun freilich eine ungerechte Beschimpfung des deutschen Volkes durch die reaktionären Mächte. Denn die Wurzeln der antireaktionären Gesinnung in Deutschland stecken in der klassischen Literatur und in der flassischen Philosophie. Erfreulicherweise ist der Kampf gegen die Rückwärtserei keine von außen her ins Land ge