Morgen- Ausgabe
Nr. 527 A 258 49. Jahrg.
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Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
V DIENSTAG
8. November 1932
Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts.... 15 Pf.
Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils
Reichspräsident von Hindenburg empfing gestern nachmittag den Reichs. kanzler von Papen zu einer Besprechung über die durch die Wahl gegebene politische Lage.
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In den Kreisen der Regierung hat man gestern von Verbreiterung der Grundlage der Regierung", von Verhandlungen mit Parteiführern" gesprochen. Darin kommt sowohl das Gelüste zum Bleiben zum Ausdruck wie die Sorge um das wankende Fundament. Es scheint, daß sich Herr v. Papen unsicherer fühlt, als er sich nach außen gibt.
In der Berliner Börsen- Zeitung", die mit ihm durch dick und dünn gegangen ist, erschien gestern abend ein Artikel Nationale Einigung notwendig". Es ist bekannt, daß dieser Artikel die Ansichten des Herrn v. Papen selbst wiedergibt. Der Inhalt des Artikels ist ein Angebot an Hitler , eine Aufforderung, sich an einer Regierung zu beteiligen, die den Kurs des Kabinetts der Barone weiterführen soll. In diesem Angebot heißt es:
,, Wir wiederholen, daß hierbei Personenfragen unter allen Umständen von neben
sächlicher Bedeutung sein müssen. Es tommt nicht darauf an, wer Reichsfanzler und wer Reichsminister ist, sondern alles tommt darauf an, eine Regierungsform zu finden, die dem bisherigen Zustande ein Ende macht."
Darin ist nicht nur eine Aufforderung an Hitler zu erbliden, nicht halsstarrig auf Personenfragen zu bestehen, sondern zugleich eine Resignation von Papen selbst.
Unmittelbar nach der Feststellung des Wahlergebnisses hat ein Ansturm gegen den Chef des Kabinetts der Barone eingesetzt, der ihm deutlich zeigt, daß seine Tage gezählt sind. Es ist selbstverständlich, daß ihm Sozialdemokraten und Kommunisten in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Hitler hat unzweideutig zu verstehen gegeben, daß er zu Verhandlungen bereit ist, aber erst nach dem Sturze von Papen.
Die Zentrumspartei hat am Montag einen Aufruf erlassen, in dem Herrn v. Papen auf seinen Ruf nach einem Rechtsblock eine neue Absage erteilt wird. Der Aufruf lautet:
,, Das Votum des 6. November bedeutet eine vernichtende Absage an das jezige System, ein ,, bis hierher und nicht weiter"
Die Barone gegen Grundrechte
Skandalöse Verschlechterung des Schulwesens geplant
Der Chef des Kabinetts der Barone, Herr von Papen, hat in seiner Münchener Rede dem deutschen Volke gnädigst zugestanden, daß es seine Grundrechte behalten dürfe, die im Teil II der Weimarer Verfassung niedergelegt sind. In diesem Zugeständnis lag eingeschlossen die Absicht, dem Bolte die wichtigsten politischen Rechte, die der erste Teil der Verfassung feststellt, zu nehmen.
Das Kabinett der Barone ist jedoch bereits drauf und dran, auch die Grundrechte nach Teil II der Reichsverfassung einzuengen und aus der Welt zu schaffen, und zwar auf taltem Wege.
Die Konferenz der Finanzminister der Länder, die am 20. September in Berlin versammelt waren, hatte einen Unterausschuß über weitere Ersparnismaßnahmen eingesetzt. Das Ergebnis der Beratungen dieses Unterausschusses ist eine Reihe von Entschließungen, auf die das Reich nunmehr die Länder verpflichten Wie die Frankfurter Zeitung " erfährt, handelt es sich dabei vor allem um einschränkende Maßnahmen auf dem Gebiet des gesamten Schulwesens. praktische Maßnahmen kommen dabei in Betracht: die Wiedereinführung privater Borschulen, die Einschränkung der Lehrmittelfreiheit bei den Bolksschulen, die Einschränkung der Boltsschüler an höheren Schulen, der Abbau des Berufsschulwefens, die Aufhebung des akademischen Volksschulganges für die Bolksschullehrer und die Erhöhung der Klassenstärken
sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung der Ausbildung!"
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Artikel 147: Private Vorschulen sind aufzuheben."
Ueber diese Grundrechte will das Kabinett der Barone ohne weiteres hinweggehen! Das iſt
gegenüber denen, die unserem Volke und seiner Vertretung die Rechte nehmen wollen, ohne die ein gesundes Staatsleben nicht bestehen kann. Der Spruch des Volkes ist für uns Ermächtigung und Aufforderung, auf unserem Weg weiterzuschreiten im Vertrauen auf die Treue unserer Wählerschaft, im Vertrauen auf die Güte der Sache, der wir dienen.
Dem Staat tann nur dienen, wer nicht gegen das Volk, sondern mit dem Volk geht. Die Regierung hat gegen das Volk optiert. Das Volk hat ihr die Ant= mort gegeben.
Auf Grund dieses Volksurteils werden wir jeden verantwortbaren Schritttun zur Ueberbrüdung der 3erreißung zwischen den politischen Lagern und zur Errichtung einer starken volksverbundenen Reichsregierung an Stelle des un= möglichen Zustandes von heute." Als Kommentar zu dieser Stellungnahme des Zentrums liest man groß über der„ Germania " ,, Niemals mit dieser Regierung!"
Unter diesen Umständen fällt es auf, daß die amtliche Mitteilung über den Empfang des Herrn v. Papen beim Reichspräsidenten nichts enthält von der sonst in ähnlicher Lage üblichen Betonung des Vertrauens des Reichspräsidenten .
Schulz, Toni Bfülf, Tony Sender, Margarete Starrmann und Lore Agnes .
Die kommunistische Fraktion zählt 13 Frauen. Beim Zentrum sind von bisher 6 Frauen 5 wiedergewählt worden. Bei den Deutschnationalen werden wahrscheinlich wieder 3 Frauen fein; Bayerische Bolkspartei und Deutsche Volkspartei stellen je eine. Alle übrigen Parteien haben keine Frauen in ihren Reihen. Die Zahl der Frauen im neuen Reichstag dürfte 36 betragen, während im alten Reichstag 37 Frauen gewählt waren.
eine Illustration dafür, wie die Münchener Rede Verkehrsstreit zu Ende!
des Chefs des Kabinetts der Barone aufzufassen ist. Die Grundrechte, die angeblich aufrecht er= halten werden können, sollen auf kaltem Wege beseitigt werden. Was würde erst mit den politischen Rechten des Volkes geschehen, wenn sich nicht eine Welle der Empörung gegen den Raub der Volksrechte durchsetzt!
Unsere Abgeordneten
Außer den von uns bereits genannten Genossen find ferner gewählt worden: Lore Agnes , Brill, Schneppenhorst, Gellert, Tarnow und Völter. Genosse Finke in Westfalen- Nord ist nicht mehr gewählt worden. Es fehlen an dem vierten Mandat in diesem Kreise 6500 Stimmen.
Artikel 143 der Reichsverfassung schreibt vor:„ Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln!"
Artikel 145: ,, Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich."
Artifel 146: Für den Zugang Minder bemittelter für die mittleren und höheren Schulen
Bürgerliche Frauenfeindschaft
Die Frauen sind im neuen Reichstag ungefähr Die ebenso stark vertreten wie im letzten. fozialdemokratische Fraktion zählt
statt bisher 14 jetzt 13 weibliche Mitglieder, nämliche Klara Bohm- Schuch, Marie Juchacz, Marie Runert, Marie Ansorge, Anna Nemiz, Mathilde Burm, Luise Schröder , Anna 3ammert, Berta
Ergebnisloser Abbruch
durch die sogenannte ,, Streikleitung"
Die Nachrichtenbüros melden:
Die zentrale Streifleitung hat in später Abendstunde im Hinblick auf die Tatsache, daß am gestrigen Montag der Berliner Verkehr in sehr großem Umfang wieder in Gang gebracht werden konnte, den Beschluß gefaßt, den Streit mit sofortiger Wirkung abzubrechen.
Die zentrale. Streitleitung" hat also nicht nur nicht mehr erreicht, als die Gewerkschaften erreicht hatten, sie hat überhaupt nichts anderes erreicht, als eine schwere Schädigung der Arbeiterinteressen. Jeder gewerkschaftlich Ge= schulte mußte dieses traurige Ende voraussehen. Und wahrscheinlich hat die zentrale Streifleitung" das aus vorausgesehen. Ihr kam es ja nicht auf den sachlichen Erfolg an, sondern nur auf eine massive Heze gegen die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und den Vorwärts" vor der Wahl! Jetzt, da die Wahl vorüber ist, und leider viele Tausende von Wählern auf den Schwindel hereingefallen sind, besteht bei der famosen Streifleitung fein weiteres Intereffe am Streit. Also sofortiger Abbruch.
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Wieder einmal ist mit den Interessen einer be
drängten Arbeiterschicht in skrupelloser Weise Schindluder getrieben worden. In welcher Weise das geschah, zeigt mit durchschlagenden Argumenten eine ausführliche Sach darstellung des Ge jamtverbandes, die wir an anderer Stelle veröffentlichen.
Papens parlamentarische Regierungsbasis" hat sich durch die Reichstagswahl ge= waltig verbreitert. Aus 7 Proz. der Wähler sind 10 Proz. geworden, gewissenhafte Statiſtiker berechnen sogar eine Regierungsbasis von 10,5 Proz. und schließen mit eherner mathematischer Folgerichtigkeit daraus, daß dieses Wachstum eine Verbreiterung der Regierungsbasis auf das Anderthalbfache, also um 50 Broz. iſt.
Allerdings kann keine Mathematik über die Tatsache hinweghelfen, daß 10 Proz. der abgegebenen Stimmen nur ein Zehntel find, und daß diesen 10 Proz. das Neunfache an gegnerischen Stimmen entgegensteht. Aber nicht umsonst ist Herr Papen der Schöpfer jener sinnvollen Theorie, die da behauptet: das ganze deutsche Volk stände hinter der autoritären Staatsführung, es wüßte das nur noch nicht. Auf dieser Basis fortarbeitend, schafft die papenfromme Presse der autoritären Staatsführung neue Heere unsichtbarer Anhänger. Wie macht man das?- Das macht man so: 79 Proz. der Wähler haben gewählt, also haben 21 Proz. der Wähler nicht gewählt. Warum? Dafür gibt es selbstverständlich nur einen Grund: um Herrn Papen seine volle zustimmung auszudrücken. Das ist kein Spaß. So schreibt die ,, Kreuz- Zeitung ":
Die Regierung tann auch mit größter Wahr scheinlichkeit die Stimmen der Nichtwähler in Anspruch nehmen, und sie fann viel= leicht darüber hinaus mit der stillen 3u= stimmung zahlloser Wähler rechnen, die aus Tra dition ihrer Partei die Treue halten, da es ja eine Möglichkeit des offenen Bekenntnisses zum Regierungsturs nicht gab.
Der stille Wähler" ist ein neuer Faktor der Politif. Die Kreuz- Zeitung " sollte sich diesen Einfall patentieren lassen. Der Mann wählt aus alter Anhänglichkeit kom munistisch, sozialdemokratisch, nationalsozialistisch, Zentrum aber gemeint hat er Papen! Die ,, Kreuz- Zeitung " ahnt, daß die Wurzeln der Bapen- Macht nicht weit von den Wurzeln der Brachtschen Zwidelei zu suchen sind: bei den Stillen im Lande.
Herrn Papen sollte es trotzdem allmählich flar werden, daß die grotesken Versuche seiner Presse, die gänzliche Wurzel- und Anhangslosigkeit dieser Regierung in allgemeine Sympathie umzudeuten, ihn und seine Regierungstaktif dem Fluch der Lächerlichfeit überliefern. Troy der Gedächtnisschwäche unserer Zeit dürfte es noch einige Leute in Deutschland geben, die sich erinnern, was die gleiche Presse bei früheren Gelegenheiten nach dem Rücktritt republikanischer Regierungen schrieb, wenn diese zwar über knappe, aber immerhin vorhandene parlamentarische Mehrheiten verfügten. Damals war es eine beliebte Redensart, daß solche Mehrheiten, die ,, mit dem Rechenstift" errechnet seien, nicht gelten. Ueber das Preußenkabinett Braun ist die gleiche Presse in den Jahren 1924 bis 1928 wie wild hergefallen, weil ihm zwei Stimmen an der Mehrheit im Landtag fehlten.
Diese gleiche Presse aber müht sich mit dem Versuch ab, der Welt darzutun, daß sage und schreibe 10 Broz. der Wähler sich als Mehrheit des Volksmiliens ausdeuten ließen. Da rechnet sie der Regierung die Nichtwähler zu und konstruiert sogar den stillen Wähler", der, um die Regierung zu unterſtügen, gegen sie stimmt! Was hätte wohl die gleiche Presse gesagt, wenn Braun und Severing sich die preußischen Nichtwähler oder vielleicht die deutschnationalen