ZWEITE BEILAGE
FREITAG, 11. NOV. 1932
tCopyri�ht Saiurn- Verlag.)
Hinter ihr ivar Weltlin ins Zimmer ge- treten. Dasselbe Zimmer, in dem er vor einiger Zeit dem Toten gegenübergesessen war. Da stand der Schreibtisch, davor das bequeme Fauteuil, zur Seite der Stuhl, auf dem er gesessen war. Aber— was war das? Am Boden lag Krüger. Ihm zur Seite kniete Erna, ein weißes Tuch, das auf dem Gesicht des Toten gelegen war, hatte sie be- hutsam weggezogen und Weltlin sah in ein übernatürlich weißes Antlitz. An der Schläfe klaffte ein kleines, schwarz umrandetes Loch. Das also genügt, um das Leben entfliehen zu lassen? dachte Weltlin. Und er entsann sich der verflossenen Nacht. Da war er gelegen und hatte selbst an Gleiches gedacht. Die Hand nur hätte er ausstrecken müssen— und er wäre dagelegen wie dieser. Vielleicht wäre Krüger vor ihm gestanden, wie jetzt er vor ihm, vor seiner Leiche stand. Und er fühlte, wie sich ein Krampf in ihm löste, wie seltsame Klarheit sein ganzes Wesen erhellte. Warum tatest du das, sprach eine Stimme in seinem Innern zu dem Toten. Aus Furcht? Aus Ueberdruß? Aus Ekel? Warum? Man hätte dich wohl verhaftet, wie? Man hätte dir den Prozeß gemacht und dich vielleicht auch bestraft? Aber du hättest gelebt! Du wärest im Gefängnis gesessen, hättest Papierdüten geklebt(und Weltlin sah sich selbst im Sträf- lingsgewand dieser Arbeit obliegen), aber du hättest gelebt, du hättest die Sonne gesehen und eines Tages wärest du wieder in Frei- heit gewesen, hättest spazieren gehen können, die herrliche Luft genießen, dich von der- Sonne bescheinen lassen können. Und nun liegst du da und Stille ist um dich und nichts siehst du und nichts empfindest du, weder Freude noch Schmerz, ein Klumpen Erde bist du. empfindungslos, ich könnte mit dem Fuß nach dir stoßen und du fühltest es nicht, während ich hier stehe und bald im Freien in Luft und Helle atmen werde, du dummer, dummer Mensch! Du meinst, daß dieser Zu- stand doch einmal gekommen wäre, auch wenn du ihn nicht selbst herbeigeführt hättest, daß er auch mich einmal erreichen wird— einmal, einmal! Ja, gewiß! Aber bis dahin hättest du gelebt, bis dahin hättest du ge- atmet, gelitten! Hättest Freude empfunden und Kummer, hättest gesehen, gefühlt und geliebt! So lange wirst du nun tot sein, auf die paar Jahre ist dir's angekommen, du dummer, dummer Mensch?! Du bist geflüch- tet— wohin? Ins Nichts, das dir ja doch nicht erspart geblieben, in die Vernichtung, der du doch nicht entronnen wärest! Und wenn ich nun von dir gehe, du armer, dum- mcr Mensch und in der nächsten Stunde tot zu Boden stürze, wenn mich ein Auto über- fährt, ein herabfallender Stein zerschmettert, ein Schmerz mich tötet— diese Stunde habe ich doch gelebt, die habe ich voraus vor dir, ich lebe und du bist tot!" Weltlin riß sich aus seinen Gedanken. Er sah nach Erna. Die hatte sich �erhoben und schritt rasch aus dem Zimmer. So rasch ging sie, daß er Mühe hatte, ihr zu folgen. 4. Als Weltlin frühmorgens die Fabrik be- treten wollte, bot sich ihm auf der Straße ein ungewohntes Bild. In kleinen Gruppen standen Arbeiter vor dem Gebäude. Einige grüßten, andere sahen weg, als sie ihn erblichen. Weltlin dachte zunächst an Streik, aber im Betrieb wurde gearbeitet— wie gewöhnlich. Er erkundigte sich bei Hanau , der ebenfalls über die Ursache der Ansammlung nichts wußte und gab dann Auftrag, die Polizei für alle Fälle in Kennt- nis zu setzen. Die eingelaufene Post, die er mit Lechner und den einzelnen Abteilungsvorständen durchsah, war recht erfreulich. Trotz der herrschenden schweren Wirtschaftskrise war der Eingang an Drdres gleichmäßig stark. Die Reisenden und Vertreter berichteten, daß die Konkurrenz nun ganz bedeutungslos geworden sei und kaum mehr Offerten
mache. Dabei war es Weltlin gelungen, mit der gleichen Arbeiterzahl sein Auslangen zu finden und wenn sich die Berechnungen, die Crusius an einer vorzubehmenden Verbesse- rung seiner Erfindung eben anstellte, als richtig erweisen sollten, dann könnten noch mehr Arbeiter entlassen, das Produkt noch weiter oerbilligt werden. Weltlin sah bereits, während er in den Papieren blätterte und Weisungen an seine Mitarbeiter erteilte, all diese Neuerungen durchgeführt, wurde aber von Lechner aus seinen Träumen gerissen. Der Prokurist' wies auf die Geldschwierig-
keilen hin, die eine Hereinnahme all dieser Aufträge zweifellos herbeiführen würde. „Ja, Sie haben recht, merken Sie vor, daß ich dann Krüger anrufe." Lechner sah Weltlin vorwurfsvoll an. Zu oft ereignete es sich in letzter Zeit, daß der Chef nicht bei der Sache, daß er geistes- abwesend war. „Ach ja, Krüger ist tot", sagte Weltlin und vor ihm tauchte eine Vision auf: der tote Krüger ging spazieren, Arm in Arm mit Erna und aus einer kleinen, schwarzumran- deten Wunde floß rotes, dickes, schweres Blut... Der Träumende wurde aufgeschreckt. Er hörte auf sich einsprechen. Es war Lechner. Ein Abnehmer halle geschrieben, daß er an- dere Waren geliefert erhalten, als er bestellt hatte. Der schuldtragende Beamte wurde herbeigerufen, zitternd trat ein langer, schmaler, etwas ältlicher Mensch im abge- tragenen Bürorock ein. Der Fehler wurde ihm vorgehalten, der Beamte suchte sich zu rechtfertigen. Lechner ließ keine Entschuldi- gung zu: der Schaden werde berechnet wer-
den und sei von dem Beamten in monatlichen Raten zu bezahlen. Weltlin stellte fest, daß der Mann von seinem bescheidenen Einkom- men wohl zwei Jahre hindurch an der Ab- stattung werde tragen müssen, doch er mengte sich in die Debatte nicht ein, als be- rührte sie ihn nicht. Es folgten eine Reihe unangenehmer Briefe. Im fernen Osten hatte eine Handels- gesellschaft die Zahlungen eingestellt. Das bedeutete für das Unternehmen einen Verlust von beträchtlicher Höhe. Eine Schiffsladung, die wertvolle Rohmaterialien für die Fabrik führte, war in Genua verbrannt und wenn auch der Schaden durch Versicherung gedeckt war, die Kontinuität der Erzeugung litt empfindlich darunter. Da war das Schrei- ben eines Vertreters, in dem von drohender Zollerhöhung die Rede war, hier eine Zu- schrift der Steuerbehörde, die Vorhalte über angegebenen Umsatz und Erfolg machte und Aufklärung wünschte. Da wurde gemeldet, daß Ware in unbrauchbarem Zustand ange- kommen sei, hier kam die Anzeige einer Bank, daß Rimessen nicht eingelöst worden waren.(Fortsetzung folgt.)
Sejim war mein Freund: ich halte ihn in Friska auf einem Arbeitsnachweis kennengelernt, und wir waren zusammen losgetippelt bis runter nach Montcrey und dort hatten wir in der vornehmen Del Monte Lodge Arbeit gesunden. Sejim als Koch für die kalte Küche und ich als Abwäscher. Wir hatten ein Zimmer zusammen, und«die Arbeit war nicht sehr schwer. Manchmal waren über- Haupt keine Gäste da und wir kochten nur für uns selber. Es war im Sommer, die Berge waren grün und der Himmel hatte jeden Tag eine strahlende Sonne. Und wir hatten viel freie Zeit, der Geschäftsführer klagte, es war ein kleiner Mann mit schütterem grauem Haar,„das Personal frißt ja das Unternehmen bankerott", sagte er, aber die vornehmen Autos rollten vorbei, manch- mal blieb eine kleine Gesellschaft zum Lunch, dann pfiff Sejim und schnitt Tomaten und rote Rüben und ich kriegte davon auch immer etwas ab. Die Nachmittage waren frei. Und das Meer lag blau und weit, wir badeten und faulenzten im Sande, bauten Burgen und Kanäle, und die Sonne bräunte unsere Haut. So gut hallen wir es lange nicht gehabt, so satt zu essen, ein Dach über dem Kopf und die Bezahlung war auch nicht allzu schlecht. Wir bauten ein Lager am Strande und verbrachten die Nächte draußen. Wir waren beide noch nicht zwanzig Jahre und konnten der Romantik eines nächtlichen Feuers natürlich nicht widerstehen. Sejim sang traurige Lieder aus seiner Heimat, Liebeslieder, er stammte aus irgendeinem Nest auf dem Balkan , und dann lagen wir wach, und die gelben Sterne flimmerte» in unsere Augen. Wir versuchten, mit der blonden Telephonistin anzubändeln, aber der waren wir zu gewöhnlich, die verkehrte mit dem Oberkellner Und sonst waren keine Mädchen weiter da, aber im Stalle standen zehn Pferde für die Gäste, die auch nicht da waren, sie standen schon lange und schlugen schon fast die Verschlüge entzwei. Und Sejim und ich ritten los. Immer am Strande 'entlang, hopp- hopphopp, und die Tiere waren ganz wild von soviel Weite, und eines Tages flog Sejim aus dem Sattel und knallte in den Sand. Er spuckte etwas Blut, und von den Pferden hatte er genug. Dann machte ich aus Langweile ein paar Gedichte, aber Sejim verstand kein Wort Deutsch , und ich ließ es wieder sein. Es machi eben ohne Publikum nicht den richtigen Spaß. Eines Tages kam Sejim ganz aufgeregt ins Zimmer gerannt.„Eben ist eine wunderbare Frau vorbeigefahren, sowas, solche Augen, und angelacht hat sie mich auch!" Er war sich auf sein Bett und strampelte mit den Beinen...So, vorbeigefahren, na ja", sagte ich und schrieb weiter an einem Briese für ein Mädchen in Deutschland. „Eine Künstlerin ist sie", schwärmte Sejim weiter,„sie malt und in Carmel hat sie eine Villa." Da log er nun aus dem Bett und war in eine Frau ver- knallt, die eine Künstlerin sein sollte und nur vor- beigesohren war. Und auch noch eine Villa, es war ein bißchen unglaubhast. Aber Sejim bestand daraus, der Golflehrer hatte es ihm erzählt, und
er meinte, daß wir etwas unternehmen müßten. Carmel by the Sea war ja nun die nächste Ort- schaft, und ich wußte auch, daß es eine Künstler- kolonie war. Ich war schon mal in der Buchhand- lung dort gewesen und hatte einen ganzen Monats- lohn in Büchern vernascht. Aber ich war immer noch sehr skeptisch.„Wenn du sie gesehen hättest!" sagte er, und tanzte wieder im Zimmer umher und sang und pfiff, daß der misanthropische Shorty wütend an die Wand pochte und Ruhe verlangte. Am anderen Tage schleppte er mich mit zum Bootshaus.„Wir fahren hin", sagte er,„wie die Argonauten."„Du hast ja keine Ahnung von diesen Leuten", sagte ich ihm,„du leidest an einer Zwangsvorstellung,, du bist verrückt, Mann, und überdies ist das Meer in dieser Jahreszeit ge- sährlich." Das Meer lag glatt wie eine himmelblaue Tisch- decken-winzige weiße Schaumkronen huschten manchmal aus, es war allerliebst. Ich schaute in den klaren Himmel und prophezeite einen schweren Sturm.„Es liegt etwas in der Luft", sagte ich, „vor dem Taifun im Gelben Meer war es ge- nau so." „Hier, faß mal mit an", sagte er,„na los, eins, zwei, drei, hopp!" Das Boot schaukelte auf den kleinen Wellen. „Es ist Wahnsinn, Sejim", sagte ich,„du kannst nicht mal richtig schwimmen." Er stieß ab und legte sich in die Riemen. Und es war nur ein kleines Boot und das, worauf wir jetzt ganz lustig schwammen, das war der Anfang des Großen Ozeans. Sejim sang und ruderte. Sein Gesicht glühte heiß und freudig, man kannte dem Kerl nicht böse sein. Aber die Wellen waren doch viel größer hier draußen als man am Strande gedacht hatte, und das Boot schaukelte, und an der Spitze zerbrach das Wasser und machte schwipp. Es war ein böses Geräusch und bedeutete sicher nichts Gutes. Wir mußten ziemlich weit hinausrudern um eine Landzunge herum, die ins Meer hineinragte, und ein' Küstendampfer fuhr ganz in unserer Nähe vorbei. „Ist es nicht herrlich?" fragte Sejim und ruderte mit Absicht in das Kielwasser des Dampfers hinein. Das Boot schwankte, versank in den Abgründen schäumender Wellen und stieg dann wieder empor wie eine Lufstchaukel, daß man es bis tief in den Magen spürte. Ich hielt mich fest und redete kein Wort mehr. Denn das reizte ihn nur zu neuen Tollkühnheiten, und ich hatte keine Lust, hier draußen kurz vor Carmel mit diesem Verrückten zu versinken. Aus den Dünen am Strand ragten jetzt die ersten Häuser, wir waren noch immer weit draußen, und sie sahen wie Spielzeuge aus. Sejim zeigte auf einen einfachen weißen Bau, die großen, breiten Fenster fingen die Sonnenstrahlen auf und warfen sie hinaus aufs Meer.„Dort wohnt sie" sagte er. Er ruderte aus dos 5)aus zu.„Sic ist sicher längst abgereist", sagte ich.„Künstler sind merkwürdige Leute."„Du mit deiner Kurzsichtig- kcit", sagte Sejim,„sie steht am Fenster und er- wartet mich."
Der Junge war ganz hin. Er hatte die Riemen eingezogen und ließ das Boot treiben. Er wurde melancholisch. Seufzte. Leise gluckste das Wasser am Holz des Bootes. Er war am Ziel und wußte nichts damit anzufangen. So eine Dämlichkeit. „Wink' ihr doch schon mal, wenn sie am Fenster steht, vielleicht kommt sie raus." Aber dazu kam er gar nicht mehr. Wir hatten ganz vergessen, daß wir uns in einem Boote be- fanden und ließen es der Länge nach parallel mit dem Strande treiben. Es war ja so still. Und als wir aufschauten von einem plötzlichen Gelöse, stand die große Welle schon wie eine grüne Mauer hoch über uns. Man konnte sich nur noch instinktiv zusammenducken. Das Boot schlug um, ich wurde gefaßt und hinausgerissen und hatte Boden unter den Füßen als ich zum Stehen kam. Das Boot trieb kieloben in meiner Nähe, unsere abgelegten Kleidungsstücke schwam- man zerstreut umher. Ich spuckte und wischte mir das Wasser ans meinen Augen. Eben kam Sejims Kopf zum Vorschein, puuahh, er prustete und schüttelte sich. Wir schauten uns an. Was war denn eigentlich passiert? Das Meer war doch ganz ruhig. Das war ja wie ein schlafendes Kind so friedlich. Sejim warf einen scheuen Blick nach dem Hause. Da kam wirklich jemand die Treppen herabgeeilt, sie hatte sicher alles mitangesehen, unsere Ungc- schicklichkcit, aber das geschah uns ganz recht. Wir zogen das Boot aufs Trockene und erwarteten sie. Auch mein Herz klopfte. Es waren die Schritte einer Frau, die über den Sand kamen. Dann sagte eine Stimme im breiten Alabama -Dialekt, „Pessuh, die Lady wünscht drei Gallonen Royal Scotch für nächsten Sonnabend. Mei, wir ihr naß seid!" Sejim zuckte zusammen. Wir drehten uns um. Wir verstanden kein Wort. Eine ältere Negerin in einer weißen Schürze grinste uns freundlich an. „Es ist schon mal einer hier umgekippt", erklärte sie strahlend,„das ist eine gefährliche Stelle. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr den Whisky bringt." Dann ging sie, breit und schlürfend, und ver- schwand im Hause. Eine Möwe schrie.„Fabel- hafte Frau, Villa, Künstlerin, Scotch Whisky, Moon of Alabama" sagte ich monoton, Sejim war ganz blaß... Wir begannen, das Boot auszuschöpfen. Und kamen wieder zu uns. Es war leck und Sejim stopfte seine Jacke in das Loch. Er arbeitete wie ein Wilder. Und dann hatten wir eine höllische Mühe, das Boot durch die Brandung hindurch zu bekommen. Endlich glückte es, und wir schwammen wieder. Naß und frierend. „Sejim", sagte ich... Er erwiderte mir in seiner Muttersprache. Das klang nicht sehr nett. Aber mit der Zeit wurde er.zugänglicher.„Die haben uns mit ihrem Alkoholschmuggler ver- wechselt, uns!" Er lachte, und dann lachten wir zu- sammen. Es schallte über das Meer. Ganz hinten am Horizont lag ein Schiff. Außerhalb der Bann- meile. das war der Schmuggler. Und Sejim sagte: „Brrrr, die Schwarze! Zum Teufel mit den Weibern !" Er redete wie ein alter Seemann.