Morgen- Ausgabe
Nr. 533 A261 49.Jahrg.
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Vorwärts
BERLINER
E
VOLKSBLATT
FREITAG
11. November 1932
In Groß Berlin 10 Pf. Auswärts..... 15 Pf.
Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils
Eigener Bericht des„ Vorwärts"
3ürich, 10. November.
Der schweizerische Bundesrat hat beschlossen, auch die Zivilbevölkerung dem Militärstrafrecht zu unterstellen. Dieser Beschluß gilt nicht nur für den Kanton Genf , sondern auch für alle übrigen Kantone, in denen die Regierungen Truppen aufbieten sollten. Außerdem hat der Bundesrat beschlossen, ein Kavallerieregiment in Bereitschaft zu stellen.
Die Arbeiterorganisationen von Laufanne, wo gestern nachts große Sympathiekundgebungen für die Genfer Arbeiterschaft stattfanden, haben heute einen Aufruf erlassen, in welchem sie zu einem Generalstreik für die Dauer von vier Stunden zum Protest gegen die Vorfälle in Lausanne und Genf auffordern. Wie es heißt, sind besonders die Bauarbeiter dem Streikaufruf in großer Disziplin gefolgt.
Die Vorgeschichte Bürgerliche Korruption in Genf
Um die Ursache des Blutvergießens zu verstehen, muß man die Erregung der Genfer Arbeiterschaft und Kleinbürger fennen, die durch eine un geheure Korruption in der von Fami liencliquen geführten Genfer Verwaltung schwer geschädigt worden sind. In den letzten beiden Jahren wurden
zahlreiche große Unterschleife aufgedeckt, bei denen sich die Günſtlinge der Bankiers und reichen Bürgersfamilien auf Kosten des Kanfons und der Stadt die Taschen gefüllt haben. Dann brach die Banque de Genève zusammen, wobei sich herausstellte, daß fast sämtliche Aufsichtsräte große Kredite verspefuliert hatten, an ihrer Spitze der damalige Präsident der Kantonverwaltung Moriaud. Die Sozialistenführer Dider und Nicole, beide Nationalräte, führten einen heftigen Kampf gegen die forrupte Verwaltung, was der Sozialdemokratie bei der Nationalratswahl ein Mandat mehr einbrachte. Indessen mar ihre meist persönliche Kampfesweise nicht immer sehr glücklich. Nicole, als Chefredakteur des Sozialistenblattes Le Travail", murde in verschiedenen Berleumdungsprozessen von der Gen= fer Klaffenjustiz zu hohen Geldstrafen verurteilt, während die Hauptschuldigen an den Korruptions= standalen nach Moriauds Tod ohne Strafe ausgingen.
Eine ungeheure Hege gegen Nicole und Dider wurde von der faschistenfreundlichen und der Bankierpresse betrieben. Auf Mittwochabend hatte die brüchtigte faschistische„ Union nationale" zu einer Berfammlung aufgerufen, in der sie durch öffentliche Anklage aus der Hehe gegen Dicker und Nicole für ihre bisher politisch einflußlose Clique politische Geschäfte machen wollte. Die Vertreter der Sozialdemokratie im Stadtparlament verlangten ein Berbot diefer Versammlung, was die Regierung mit dem Hinweis auf das Bersammlungsrecht ablehnte. Darauf organisierte Nicole eine Gegendemonstra= tion auf der großen Straße nach Carouge , in der das Versammlungslokal liegt. Schon am Dienstag hatte sich die Kantonalregierung in Genf von der Bundesregierung in Bern Truppen ausgebeten.
Am Mittwochnachmittag rückten 650 Mann der Lausanner Rekrutenschule in die Genfer Rajernen, die nahe dem Bersammlungslokal liegen. Am Abend fanden die Demonstranten sämtliche Zugangsstraßen zu dem Versammlungslokal von Polizisten besetzt und mit Ketten abgesperrt. Nicole hielt eine Rede von den Schultern meherer
Parteifreunde, in der er nochmals die korrup tion Revue passieren ließ und zum Halten der Straße gegen die nationalistischen Hezer aufforderte. Ein Kommunist forderte öffentlich zur Revolution auf. Aber außer einigen Versuchen, die Polizisten hinter die Absperrfetten zurückzudrängen, geschah nichts Gewalttätiges. Die Arbeiter machten ihrer Erregung lediglich in Rufen Luft. Die Demonstranten zogen im Ge= genteil meiter vom Saal weg, während eine ungeheure Menge Neugieriger in die schmale Zugangstraße zum größten Plaz Genfs von der Carougestraße abgedrängt wurde. Trotzdem ließ der Chef der Genfer Polizei und Vorsitzende der Kantonalregierung Martin die Truppen alar= mieren. Deren erste Abteilung wurde von der Menge angegriffen. Es wurden den Soldaten
teilweise die Stahlhelme und Waffen entrissen. Die Gewehre wurden zum Teil zerbrochen. Die jungen Milizrekruten sympathisierten zum
Teil mit der Bevölkerung.
Ein zweiter Hilferuf brachte dann eine stärkere Truppenmasse vor die große Ausstellungshalle. Etwa 50 von den 80 Soldaten, die in der Menge steckten, konnten sich zu ihren Kameraden zurückziehen. Sofort wurde mit einem leichten tragbaren Maschinengewehr eine Salve über die Menge ab= gegeben, ohne jede Ankündigung, sowie etwa 100
Schuß aus Infanteriegewehren. Die Menge mar völlig überrascht und glaubte zuerst, es handele sich um Feuer mit Plazpatronen. Aber zwei Tote blieben sofort auf dem Platze und im nahen Kantonshospital starben im Laufe der Nacht und des Mittwochvormittags noch zehn Verlegte.
Die Erklärungen des Bundesvorsitzenden Motta, der das Vorgehen des Militärs deckt, sowie die fraftstrogenden Proklamationen der Genfer Regierung nehmen jeden Zweifel darüber, daß man in Genf ein Erempel gegen die Arbeiter statuieren wollte.
Die Genfer Kantonalregierung hat sämtliche Bersammlungen verboten, auch jede Ansammlung von Menschen auf den Straßen wird strengstens bestraft. Das Militär ist in Alarm zustand versetzt, d. h. die Soldaten bleiben in ihren Woh nungen und müssen sich auf Alarm hin sofort in Ausrüstung und Waffen an die Sammelpläge be= geben.
Die Sozialistische Partei des Kantons Genf hat beschlossen, am Sonnabend einen allgemeinen Trauertag für die Opfer abzuhalten, bei dem man mit einer ungeheuren Massenbeteiligung rechnet. Die Ausrufung des Generalstreiks wurde vermieden, da man weiteres Blutvergießen und vergebliche Opfer verhindern wollte. Von den Toten ist einer Anarchist, einer Kommunist und einer Sozialdemokrat. Die übrigen Toten und Verwundeten find sämtlich Neugierige.
Der Parteiausschuß der Sozialdemokratischen Partei beschäftigte sich am Donnerstag nach einem Referat von Otto Wels mit der durch den Ausfall der Reichstagswahl geschaffenen politischen Lage. Es herrschte volle Ueber. einstimmung darüber, daß es für die Sozialdemokratie nur schärfsten und rücksichtslosesten Kampf gegen die jetzige Reichsregierung und ihre volksfeindlichen Pläne gebe. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wird am Donnerstag, dem 17. November, zusammentreten und weitere Beschlüsse für ihr Vorgehen im Reichstag fassen.
Die Reichsregierung hat die Absicht, den Reichstag zum fpäteffen Termin einberufen zu laffen, der nach der Reichsverfaffung möglich ist. Das ist der 6. Dezember. Von anderer Seite wird die fofortige Einberufung des Reichstags verlangt. Der Herrschaft der Papen- Barone foll so schnell wie möglich ein Ende gemacht werden. Das ist besonders das Ziel der Sozialdemotratie.
Aber die Einberufung des Reichstags ist erst möglich, wenn die Zusammensehung des Reichstags amtlich feststeht. Bei dem Verhältniswahlrecht dauert das mindestens drei Wochen. Zunächst muß das Ergebnis in den einzelnen Wahlkreisen und in den Wahlkreisverbänden festgelegt werden. Dann erfolgt die Zuteilung der Size auf der Reichsliste. Da viele Kandidaten in mehreren Wahlkreisen aufgestellt sind, so muß auch erft ermittelt werden, welches der auf fie entfallenden Mandate sie annehmen. Alles das erfordert viel Zeit und ist bisher niemals vor Ablauf von 21 bis 25 Tagen möglich gewesen. Der frühefte Termin zum Zusammentritt des Reichstags liegt also Ende November bzw. Anfang Dezember.
Die Sozialdemokratie wird ihre politischen Entschlüsse ohne Rücksicht auf den Termin tischen Entschlüsse ohne Rücksicht auf den Termin des Reichstagszusammentritts fassen. Nachdem am Donnerstag bereits der Parteiausschuß zur politischen Lage Stellung genommen hat, wird die neue sozialdemokratische Reichstagsfraftion am fommenden Donnerstag, dem 17. November, zu ihrer ersten Sigung zusammentreten. Die Sozialdemokratie wird den Kampf gegen das Präsidialkabinett Papen , für die Wiederherstellung der Demokratie und die Rechte des Parlaments energisch fortsetzen. Besonders wird dafür Sorge getragen werden müffen, daß durch ein Ausführungsgefeh zum Artikel 48 dem Mißbrauch der Berfaffung endlich Einhalt geboten
wird.
Der stärkste Stoß gegen die Papen - Regierung aber wird durch eine im Reichstag selbst erhobene Krifif an ihrer lediglich von Mißerfolgen reichen Politik geführt werden. Selbstverständlich wird die Sozialdemokratie sich auch weiterhin bemühen, das Los der Opfer der Wirtschaftsfrife zu beffern. Wiederum werden Anträge auf Erhöhung der Unterstützung der Arbeitslosen gestellt werden. Durch Anträge auf Aufhebung der Sondergerichte und Erlaß einer Amnestie für die Opfer einer ungerechten Justiz muß das verlette Rechtsgefühl wiederhergestellt werden. Auch die bereits im letzten Reichstag gestellten Anträge auf Umbau der Wirtschaft werden neu eingebracht werden.
Verhältnis 3: 1
New York , 10. November. Die legten Ergebnisse der amerikanischen Ron= greßwahlen sind: 309 Demofraten, 110 Republikaner, 3 Farmer- und Arbeiterpartei gewähltt; zweifelhaft find noch 13 Rongreßsize.
Novemberſtürme
Sozialdemokratie vorneuen Aufgaben Von S. Aufhäuser
,, Um die Partei einheitlich auf die ihr erwachsenden neuen Aufgaben geistig und organisatorisch einzustellen, beantragt der Bezirksparteitag beim Parteivorstand die baldige Einberufung eines Reichs= parteitages."( Außerordentl. Bezirksparteitag SPD., Berlin , 8. Oktober 1932.) Das Wahlergebnis vom 6. November ist der Protest eines ganzen Volkes gegen die autoritäre Staatsführung und gegen die kapitalistische Verelendung der Massen. Die Wählerschaft hat sich durch den Familienstreit Papen - Hitler nicht täuschen lassen. Sie hat deshalb nicht nur die Regierung ohne Volk gelassen, sondern gleichzeitig dem Verfallsprodukt der kapitalistischen Reaktion, dem Faschismus, eine empfindliche Niederlage beigebracht. Auf der anderen Seite wird der wahlmäßige Erfolg der Kommunisten nicht etwa als das Bekenntnis der Wähler zur Moskauer Parteipolitik ausgelegt werden können, sondern als eine radikale Demonstration gegen die augenblickliche Herrschaft in Staat und Wirtschaft. Ohne Hitler fein Papen ohne Papen feine hundert Kommu nisten im Reichstag.
Der faschistischen Rebellion vom 14. September 1930 ist die kommunistische vom 6. November 1932 gefolgt. Aber Rebellion. ist nicht Revolution, und aus der gefühlsmäßigen Aufwallung sozialer Verzweiflung läßt sich weder das Dritte Reich, noch ein Sowjetdeutschland schaffen. Es kommt nach dem 6. November mehr denn je darauf an, eigenen positiv sozialistischen Tatwillen zu gestalten. Darum wäre es verfehlt, unser Handeln in nächster Zeit lediglich von dem Verlauf des von der Reaktion eingeleiteten Kuhhandels über die neue Regierungsbildung abhängig machen zu wollen. Die antimarristischen Kräfte sind seit dem Wahltag erneut vom bolschemistischen Bürgerschreck befallen; sie blasen zur ,, nationalen Konzentration". Hitler hat sich zwar erneut feierlich gegen den Reichskanzler als Person erklärt, doch hat er feine Kriegserflärung gegen dessen System abgegeben. Die Feindschaft gegen die Arbeiterklasse wird auf der Gegenseite alle Schwierigkeiten personeller Art überwinden lassen und schließlich ist außer Papen und Hitler auch General Schleicher noch da. Das Zustandekommen einer parlamentarisch vom Zentrum bis zu den Nationalsozialisten getragenen Regierung seht die Mitwirkung Hugenbergs voraus, und es wäre eine Illusion, in einer solchen Rechtskoalition noch eine Heimstätte für die Demokratie suchen zu wollen. Die autoritäre Regierung ohne Reichstag wäre Herrendiktatur, die autoritäre Regierung mit parlamentarischer Rechtsmehrheit ist Klassenherrschaft. In beiden Fällen geht es um die Verfassung, das Volksrecht und die Rettung des Kapitalismus auf Kosten der breiten Massen.
Die klaffenmäßige Zuspizung, die mit dem Signal vom 20. Juli bligartig aufgeleuchtet hat, wird die Sozialdemokratie veranlassen, ihre Kampfmethoden und Kampfmöglichkeiten zu überprüfen. Die Arbeiterbewegung muß an dem geschichtlichen Wendepunkt von heute die Kraft und die Freiheit haben, sich auf die ihr erwachsenden neuen Aufgaben einzustellen und sich, soweit notwendig, organisatorisch und geistig umzustellen.
Das äußere Zeichen der völlig veränderten politischen Situation war die Berdrängung aller Vertrauensleute der Arbeiterschaft aus dem Staatsapparat, insbesondere