BEILAGE
Vorwärts
Mitten in den Kornfeldern auf dem Grunde der trockengelegten Zuidersee ragen die Bracks der Schiffe, die einst hier untergingen...
Die Magd Mariefen findet immer, daß ihr" Brad das schönste von allen ist, die ringsum schwarz und massig im schlanken, goldenen Korn düstern. Das schönste und das unheimlichste freilich auch. Ein bißchen hat sie Angst davor, sonderlich abends, wenn sie vorm Schlafengehen noch einmal aus dem winzigen Fenster der Magdkammer blickt und das seltsam hohe Heck und den spitzen Bug mit dem Fischleib der Gallons ge= penstisch über die Fenster segeln sieht, denn wahrhaftig, im ziehenden Nachtnebel ist es, als ob es segle, ruhelos, ewig. Und in solchen Augenblicken ist sie froh, daß das wogende Getreidemeer mit dem Schiff darauf nicht ihr gehört, sondern ihrem alten Dienstherrn Straaten.
Aber in der Mittagsonne, bei der Feldarbeit auf dem noch schlickigen Schwarzboden, der heuer zum ersten Male vielfältige Frucht trägt, während noch vor zwei Jahren hier das Wasser der Nord see rauschte, um Mittag magt sie sich manchmal ganz nahe heran an das Wrack der uralten Karavelle. Und gestern gestern stieß sie beim Pflügen auf den Anker! Ja, hatten die denn hier Anker geworfen? Waren denn die hier nicht untergegangen vor Jahrhunderten, mitten in sausender Fahrt? Und überhaupt: wie tam auf den Anker einer alten Brigg die Aufschrift: ,, Made in Germany"?
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Marieken beschloß, beim alten Straaten des Rätsels Lösung zu suchen. Der war ja früher immerhin hier Fischer gewesen. Das heißt, genau wußte sie das nicht, niemand wußte das genau, niemand kannte den alten Straaten besser als sie, die erst seit ein paar Monaten bei ihm bedienstet war; es waren aber alle, die hier in den schmucken Reihenhäusern siedelten, vorher Fischer gewesen, und zudem hatte Straaten die graue Schifferfräse, die listigen Blauäuglein und den wiegenden Gang aller Seeleute. Man durfte wohl fragen.
" Tschä, hm", knurrte aber Straaten und voltigierte das Kaltstück im Munde herum,„ das meiß ich nu auch nich, wie der neumoosche Anker an den alten Kasten kommt."
Es war Feierabend, als sie fragte, fie faßen beide vor der Tür des Häuschens; der Mond schimmerte im glitschigen Holz der Karavelle, und in solcher Stimmung hatte es das hübsche, helle, runde Marieken stets mit der düsteren Phantasie. „ Vielleicht", orakelte sie, vielleicht ist es das Schiff des fliegenden Holländers? Der durfte doch alle sieben Jahre an Land gehen, um alles überholen zu lassen? Dabei fann er doch den Anker gekauft haben?"
,, Ischä", meinte Straaten, opferte das Kaltstück, es flog ins Korn gegen die Karavelle hin, und blinzelte Marieken wohlgefällig an ,,, an Land sollte er sich doch woll eigentlich eine Frau suchen, wie...?"
,, Aber er fand ja teine!" mich Marieken schleunigft aus. ,, Und denn richtig, es ist ja Unsinn. Wenn hier dem Holländer sein Schiff gesunken wäre, dann könnte er ja gar nicht mehr fahren. Meiner Schwester Mann hat ihn aber vor drei Monaten im Kanal noch selbst gesehen. 3wei Tage später ist der Kahn gesunken..." Marieken schüttelte sich.
Jetzt aber sah der alte Straaten plötzlich ganz ernst aus, zum Fürchten ernst. Ganz blaß war er mit einem Male.„ Der Mann deiner Schwester ist ein dummer Junge!" fnurrte er wütend. Und fein Kahn wird auf so' ne verdammte Mine gefahren sein, die da noch vom Kriege her rumschwimmen. Denn was den fliegenden Holländer angeht, der fährt wirklich nicht mehr. Und der alte Rasten hier, ich will dir's man sagen, der ist wirklich seiner."
Woher weißt du denn das?" fragte Marieken in mollüftigem Grauen.
,, Ich weiß es eben. Man weiß manches", erHärte Straaten dunkel
,, Erzähl mir's doch bitte.. bitte!"
Und die Nacht sandte ihre Nebel, und wieder war es, als segelte das alte Schiff, es schwankte über den Wogen des Korns, und der alte Straaten erzählte wirklich.
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Also der fliegende Holländer hatte, wie das nach soviel Jahrhunderten ja gar nicht anders sein kann, die Freude an seinem todbringenden Handwerk verloren. Besonders seit dem Kriege machte ihm die Geschichte keinen Spaß mehr. Die Minen, die noch allenthalben umhertrieben, machten ihm Konkurrenz, man mußte sich direkt selbst in acht nehmen vor den Biestern; und das bißchen Rammen mit seinem spizzen Holzbug tat den mo dernen Stahlkästen sowieso nichts mehr und be= schädigte mur den eigenen Kasten. Hingegen waren Anno 1930 allein sechs Schiffe durch treibende Minen in die Luft gegangen.
Jungs", schrie darum der fliegende Holländer seinen wilden Matrosen zu,„ Steuer rum und n: al wieber rein in unsere gute, alte zuidersee! Da gibt's noch zu tun für unsereinen, da wird's, feine Minen geben, da läßt sich's leben."
Und sie fuhren los, und der fliegende Holländer hatte noch nie wieder so eine ingrimmige Freude verspürt seit dem Tage, da er durchaus um Kap Horn rum wollte und er den lieben Gott verfluchte, als es nicht ging, und der Fluch ihn dann traf. Aber kaum waren sie jo'n kleines Stücksken in der ollen ehrlichen Zuidersee drin, da gab's einen Stoß, daß dem Alten das Schnapsglas aus der Hand flog und die Ohrfeige, die er mit der freien Hand gerade dem Leichtmatrosen verab= reichen wollte, den speisenbeladenen Schiffs= foch traf.„ Höh, Räptn, höh!" schrie der Steuermann, was ist denn das hier? Verdammt flach war dies Mistmeer ja immer, aber jetzt ist ja sogar die verfluchte Fahrrinne nicht mehr zu finden. Kreuzhimmeldonnermetter noch zehnmal!"
" Werd' ich mal steuern, du räudiger Hund von einem Steuermann!" meinte der fliegende Hollän= der sanft und steuerte selbst. Aber es half nichts. Immerzu schlitterte die wackere Karavelle über Sand und Schlamm.
Der Alte verschwand in der Kajüte und sah beim Schein der Dellampe( denn es war natürlich Nacht; bekanntlich durfte der fliegende Holländer laut Fluch ausschließlich bei Nacht segeln) die Schiffskarte aus dem Jahre 1453 nach.„ Bombenelement, infame Schweinerei! Hier hat, verflucht nochmal, tausend Fuß Tiefe zu sein! Was ist denn los, was ist denn los...?! Wenn bloß bald der Morgen kommt und wir unsichtbar werden, sonst rammen die noch uns, statt wir sie! Und überhaupt kein Kahn zu sehen... Segel gerefft, sonst verjacken wir noch, Kreuztürken und Mohrendreck!"
Na, und am Morgen, als sie gottlob unsichtbar waren, sahen sie denn die Bescherung. Die Zuidersee war ein Sumpf geworden. Ein Damm schloß sie gegen die Nordsee ab, der hatte nur in der Mitte noch ein leidliches Loch. Und genau da waren sie nächtlicherweile noch hineingefommen. Auf dem Damm aber schufteten Menschen über Menschen, schleppten riesige Kräne Zentnerladungen von Erde herbei und gossen die ins Meer, und das Loch verengte sich fast zusehends. Und ringsum, wo die Karte noch Meer angab, mo auch zweifellos vor inapp fünf Jahren, als man das letzte Mal hier war, noch Meer gewesen war, standen Häuser, tappten eiserne Pferde über Ackerland und vollführten zusammen mit den
Kränen einen mörderischen Radau. Der fliegende Holländer verstopfte sich die Ohren mit Wachs: Flüche konnte er in jeder Lautstärke hören, aber das Knattern der verfluchten neumodischen Maschinen pfui Teufel!
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„ Räpin", sagte der Steuermann leichenblaẞ, ,, hol mich der Teufel und brate mich seine Großmutter extra scharf, wir kommen da nicht mehr raus! Wir figen wie die Razz in der Falle!"
Da fam er aber schlecht an. ,, Was? Wir da nicht raus? Heute nacht stoßen wir durch, sage ich euch! Und mir sollen zeitlebens die Ohren wackeln und die Büren schlottern, wenn wir nicht raustommen! Eine Landratte will ich werden, wenn wir nicht noch heute nacht im Kanal sind!" ,, Räptn", meinte der Steuermann,„ das gibt eine zweite Verfluchung!"
Der Alte mischte ihm eine, daß er über Boro flog. Und als die Nacht sank, nahm er selbst das Steuer. Der Wind stand günstig. Mit vollen Segeln rasten sie auf das Loch im Damm zu. Aber das war inzwischen zugeschüttet worden bis dicht unter die Oberfläche des Wassers. Uno es gab einen mörderischen Krach, und die fürchterlichsten Flüche verhallten ungehört im Splittern der Masten, im Einrauschen des Wassers, im Zerreißen der Takelage-; der fliegende Holländer saß fest.
Seine wilden Mannen stürzten sich in panischem Schrecken ins Wasser. Wer schwimmen konnte, schwamm an Land. Wer nicht schwimmen konnte, entdeckte, daß man schon waten konnte. Nur der Alte selbst saß noch an Bord. Melancholisch blickte er über das schlammige Wasser und vergaß das Fluchen, vergaß es ein für allemal. Es war kein Grund mehr zum Fluchen, denn die Welt mar allzu traurig geworden. Es war zu Ende mit dem herrlichen, wüsten Segeln und Schiffe= rammen. Die Minen behaupteten allein das Feld. Und ab morgen würde sein gutes Schiff, würde er selbst sichtbar sein. Sie saßen ja auf Land... Was fing man seinen Fluch durchLand. Was fing man nun an mit der ganzen Unsterblichkeit? Nun konnte der liebe Gott sehen, mie er seinen Fluch durchführte.
Aber der liebe Gott hatte selbst, mie der Steuermann richtig vermutet hatte, einen anderen Fluch ausgesprochen, der kein Fluch war, sondern ein Segen. Der Alte wußte es nur nicht; denn die
Wenn man über die karstige Fläche der dreieckigen Hochebene hinaufsteigt zu den gewaltigen Trümmern des Euryelos, überschaut man von diesem höchsten und am weitesten landeinwärts gelegenen Orte den ganzen Umfang des einstigen Syratus. Hier saß Johann Gottlieb Seume am Ende seines„ Spazierganges nach Syrakus "; wie er erlebt wohl jeder die ,, Melancholie, die für die Menschheit darin ist", angesichts der Nichtigkeit historischer Größe unter einem Himmel, der so leuchtend blau und sonnenstart ist, wie zu Zeiten Homers und des Archimedes. Nirgends anders, taum auf den Trümmern Karthagos, empfindet man so stark die tragische Unvernunft der Geschichte. Der Blick vom Euryelos zeigt ringsum eine weite Landschaft von klassischem Bau; Land mit langgedehnten Höhenzügen, Jonisches Meer und seine berühmten Buchten, in nördlicher Ferne die ebenmäßige Flachpyramide des schneegekrönten Aetna, übersät von den Teppichen einer kaum be= bauten Wildnis- das ist heute die Wirklichkeit. Und auf der anderen Seite eine ungeheure Stadt, von West nach Ost in sieben, von Nord nach Süd in sechs Kilometer Länge sich hinziehend, also in dem Umfang, wie Groß- Berlin oder Wien sich um 1900 darstellten: das war einmal, vor zwei Jahr tausenden, eine ebenso unmittelbare Wirklichkeit, von der wir nur Trümmer der riesigen Stadtmauern und der uneinnehmbaren Feste Euryelos erblicken, die sich Dionysios I. hier erbaute, als 3wingburg der stolzesten Stadt des Altertums, die es mit Rom und Karthago aufnehmen durfte.
Es ist kein müßiges Sentiment, hier drängt sich eine übergroße Vergangenheit der Anschauung felber auf, viel stärker als in Rom . Dessen Gegenwartskraft hat sich durch alle Jahrtausende durchgesetzt, heute aufdringlicher denn je. Goethe hat mit seinem durchdringenden Blick die an sich unglückliche und dumpfe Situation der Weltmetropole in der Tiberniederung sehr gut gesehen: in Syratus wird auch dem ungeschulten Beobachter die Bedeutung einer geographisch glücklichen Lage offenbart, und ein Blick auf die Karte genügt, um den wahren Mittelpunkt des Mittelmeergebietes an der Ostküste Siziliens und von dieser wiederum den Brennpunkt in dem ftrategisch ungemein günstigen Syrahus zu erkennen. Aber der Geist der Weltgeschichte scheint nicht die allzu offenbaren Mittelpunkte zu lieben, er hat seine Atzente an den Ostrand des Mittelmeeres verlegt, nach dem Nildelt und dem Bosporus , von
mo Aegypter, Berjer, Griechen, Byzantiner die Welt beherrschten, und dann an zwei Orte, die in einem halb toten Winkel lagen: Karthago und Rom ( bis er ihn dann gänzlich an die Nordsee verlegte). Sizilien aber, dieses paradiesische Zentrum, bestimmte er zum Zankapfel aller Eroberer= völker von drei Jahrtausenden. Schon Homer hatte, wie Seume sehr nett sagt ,,, einen etwas bösartigen Tick gegen die Insel", an der sein Odysseus nichts wie Ungelegenheiten erfuhr, und im historischen Verlauf zeigte sich die ganze Tücke des Schickfals: ausnahmslos alle Eroberer des Altertums, Mittelalters und der Neuzeit haben ihren Wahn, ein friedliches Paradies zum Herrscherthron der Welt umzuschaffen, mit schwerem Leid für sich und alle Betroffenen gebüßt.
Diese Tatsache, die auch aus der kürzesten Unterrichtsstunde unabweislich hervorgeht, ist es, die hier auf den Riesenquadern der Tyrannenburg Euryelos sich in konzentrierter Form aufdrängt und zu bitterer Melancholie verführt. Und diese Mischung berauschender Naturschönheit mit dem Andenken an menschliche Torheiten und die Vergänglichkeit irdischer Größe macht den Zauber der syratusanischen Landschaft aus, die sich schlechterdings mit nichts vergleichen läßt.
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Man sollte den Spaziergang" des trefflichen Seume lesen, wie ein modernes Buch; es lohnt fich in jeder Beziehung, ſein Gehalt und seine Sprache ist von unvergänglicher Frische. Die zwei Dutzend Seiten über Syrakus , das noch heute für fast alle Reisenden genau so wie für ihn( im Jahre 1802) Reiseziel und Umkehrhafen ist, enthalten alles, was man über diese ewige Kulturstätte aussagen kann. Wir finden zum Glück auch noch das, was er sah und beschrieb, in dem nämlichen Zustand wieder: die Papyrusdickichte des merkwürdigen Flüßchens Kyane, wie die sonderbare Verbauung des frühantiken Athene- Tempels in die Schrullen des heutigen Barockdoms und das Wunder der dicht am Meeresufer hervorbrechenden Arethusa Quelle, auf der Stadtinsel Ortygia, die undergeßliche Herrlichkeit des griechischen Theaters und die Ruinenromantit des römischen Amphitheaters, die Einmaligkeit der antiken Latomien- Steinbrüche, mit ihrer füdlichen Pflanzenüppigfeit, ihren Seilziehern, dem„ Ohr des Dionysios" und dem Froschgequate aus dem Duntel der ftillen Höhlenteiche heraus, wie die Mystik der frühchriftlichen Unterkirche San Giovanni und ihrer Ratatomben,
SONNABEND, 12. NOV. 1932
Menschen erkennen immer nur, wenn sie das Schicksal verflucht, aber sie schreiben es eigenem Verdienste zu, wenn es sie segnet. So tat auch der fliegende Holländer. Hinaus kann ich nicht, dachte er sich. Und an meinem Schiff hänge ich. Im Lagerraum liegt noch Gold aus meiner Brigantenzeit. Ich werde damit an Land gehen und das Land hier von der Regierung faufen. Und dann muß man eben Landratte werden und Kartoffeln bauen. Was hilft's schon...? Und also tat der fliegende Holländer...
,, Und das da", schloß der alte Straaten und mies auf die Karavelle, die dunkel im Dunkeln ragte ,,, das da war sein Schiff." Und er ging ins Haus, und seine Schritte schwankten wie die eines alten Seemanns.
Marieken aber konnte diese ganze, unheimliche Nacht lang nicht schlafen. Sie lag zitternd im Bett und wußte nicht, was sie halten sollte von ihrem Dienstherrn. Und plötzlich fiel ihrs jäh in die Seele, daß ja der fliegende Holländer in seinem irdischen Sein der Kapitän van Straaten gewesen war. Und der Alte nannte fich Straaten.. Da beschloß sie, noch am andern Morgen zu fündigen.
Aber am andern Morgen saß der alte Straaten graufräsig, rotbackig und bligblauäugig am Frühstückstisch und war nichts als ein ehemaliger Fischer und nunmehriger, Bauer. Er mies auf eine Notiz in der vor ihm liegenden Zeitung: ,, Die englische Admiralität teilt mit, daß es mit der Minengefahr endgültig vorbei ist. Die Minen, die noch treiben, zünden nun nicht mehr, nach vierzehn Jahren... Da könnte man den fliegenden Holländer eigentlich wieder brauchen." Er trat ans Fenster und sah auf sein Feld, mo noch immer das Gold aus dem Bauche der Karavelle zu strömen schien, aber es war das lebendige Gold des Kornes; wo noch immer der Wind Wogen vor sich hin trieb, aber es waren die trockenen Wogen der Aehren, mit dem lichten Schaum des Roggensamens. ,, Aber dies hier", sagte Straaten langsam, ,, dies hier iſt besser."
,, Geschieht dem fliegenden Holländer ganz recht!" ereiferte sich aber nun Marieken ,,, daß er keine Frau fand, die den Fluch löste. Was soll eine mit so' nem wilden Fluchekerl, der um nichts und wieder nichts ums Kap Horn rum will und friedliche Schiffe in den Grund bohrt? Ja, wenn er ein Bauer wär, der anständig sein Feld bestellt und-"
Da wandte sich Straaten um und blizte Mariekens Rundungen aus fröhlichen Augen on. ,, Denn so, Marieken", sagte er bedächtig ,,, denn so kann ich woll die Trauscheine besorgen.
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die die schönsten und so gar nicht unheimlichen Beispiele spätantifischer Begräbnislabyrinthe unter der Erde sind, von unschuldsvoller und geheimnisvoll malerischer Annut.
Man sieht: Syrakus ist mehr als eine unermeßliche Trümmerstätte antifer Herrlichkeit; früh= christliche und mittelalterliche Gesinnung hat an seiner Physiognomie mitgearbeitet, und das übrige hat die ewig junge Natur dieses fruchtbaren Landes getan, die die schrecklichen Freiluftkerker der Latomien zu einem Paradies von Orangen, Mandelbäumen, Zypressen, Rosen, Wassermagnolien, Blütenkatarakten überwältigend umgewandelt hat. Auch hier das Doppelspiel von Natur und Menschenwitz: die Steinbrüche, haustief mit senkrechten Wänden in das Kalksteinplateau eingesenkt, dienten den Syrakusanern und ihren Tyrannen als unentrinnbare Verließe für Gefangene, heute sind es Fruchtgärten, in denen Leib und Seele sich am Atem einer blühenden Natur erquicken. Was man aber nie vergessen kann, ist das grauenhafte Schicksal Zehntausender von Griechen, die hier ihr Ende fanden, als die Erpedition der Athener 413 v. Chr. vor den Mauern von Syrakus gescheitert war. Immer noch hört man die Unseligen in dieser Felsentiese ihren Leichtsinn bejammern und erlebt die rührende Anekdote, die Thukydides berichtet: wie sich einige der gefangenen Athener durch Rezitation von tragischen Versen des Euripides in Licht und Leben emporgerettet haben. Es gibt Episoden, in denen sich der Geist der Menschlichkeit auch unter grausamen Verhältnissen offenbart, und die darum wie Symbole eines höheren Daseins auf uns wirken; die Sage von den Armen, die sich ihren Feinden durch Dichterzitate als gleicher Kultur, gleicher Weltanschauung angehörig empfahlen und wirklich ihre Freiheit errangen, gibt uns einen tröstlichen Begriff von der Macht des Geistes über die Brutalitäten der Politik und des Menschenhaders.
Leider ist das Eriebnis der einzigartigen Stadt nicht ganz ungetrübt. Seit dem Ende des Altertums hat sich das Stadtwesen auf die kleine Injel oder Halbinsel Ortygia im Südosten jenes ge= waltigen Plateaus zurückgezogen, die auch die erste ursprüngliche Griechenansiedlung gewesen ist, von wo aus sich Syrakus auf das Festland verbreitet hatte. So war es bis zur Neuzeit geblieben: die hat nun mit Hafen- und Bahn= anlagen, mit Ausbau rechtwinklig sich freuzen= der Straßen wiederum die Hand über den Ver= bindungsdamm nach dem Festland ausgestreckt und damit eine Zwischenregion von wenig erfreu lichem Anblid geschaffen.