ZWEITE BEILAGE
MITTWOCH, 16. NOV. 1932
Wie lange er geschlafen haben mochte, wußte er nicht. Als er erwachte, griff er nach feiner Uhr. Sie war fort, auch Hut und Spazierstock fehlten. Besorgt griff er nach seiner Brieftasche, in der er viel Geld hatte. Ja, die war also noch vorhanden, die. Diebe hatten sich mit den leicht erreichbaren Dingen begnügt. Weltlin erhob sich und ging ein wenig unsicher wieder der Straße zu. Er kam sich ohne Hut und Stock wie unbekleidet vor. Auf einer Kirchenuhr sah er, daß es neun Uhr vorbei war. Jetzt mochte wohl auch die polizeiliche Untersuchung schon zu Ende sein— welche Untersuchung, wo? Ob Susi noch aus den telephonischen Anruf wartete? In irgendeiner Seitengasse machte Weltlin halt, er mußte ausruhen. Das Herz machte wieder Schwierigkeiten; er spürte das Schlagen bis in die Halsgegend und mußte sich an eine Wand lehnen. Der Anzug, zer- knüllt, und nun auch noch fleckig und strnibig geworden, klebte an seinem Körper. Er mußte den Kragen lockern, um zu Atem zu kommen... Endlich nach einiger Zeil konnte er wieder weitergehen, er ging aufs Geratewohl, ohne zu wissen, wo er sich befand. Vor ihm tor- kelte ein Mann, zerlumpt, zerfegt, sichtlich betrunken. Weltlin überholte ihn, sah ihm beim Schein einer Straßenlaterne ins Ge- ficht und erschrak zuliefst. Er hatte ihn sofort erkannt, es war der Arbeiter Wenzel Starka, der vierzehn Jahre lang in seiner Fabrik gearbeitet hatte, als sie noch eine Fabrik und keine Teuselskllche gewesen war. Er trat' auf den Mann zu:„Sind Sie der Arbeiter Wenzel Starka?" „Ich glaub, daß ich so heiße", lallte der Mann,„aber Arbeiter bin ich nicht, oh nein!" „Was sind Sie denn?" „Privatier. Man läßt mich ja nicht ar- betten." Weltlin sah, daß er den Mann führen müsse; denn der konnte sich nicht aufrecht halten. Er faßte ihn also unter, doch wurde er von dem torkelnden Schritt mitgerissen. Er entsann sich, daß dieser Wenzel Starka stets ein nüchterner, braver, fleißiger Arbetter gewesen war. der mtt Verachtung auf trin- kende Arbeiterkameraden gesehen hatte. Was mochte mit dem Manne alles vorgegangen sein, was mußte der erlttten haben? Vor- sichtig versuchte er den Mann zum Reden zu bringen; es gelang nicht. Immer hörte er: „Hast du Geld, Bruder, hast du Geld?" Welt- lin nickte und Starka sagte:„Du, ich weiß hier ein feines Lokal, da müssen wir hin- gehen." Sie standen vor einem Branntwein- schank und beim Ueberschreilen der Schwelle schien es Weltlin. als müsse er ersticken: Ein süßlich-widerlicher. betäubender Geruch stieg ihm in die Nase. Mit Starka jedoch war eine Veränderung vor sich gegangen. Der fühlte sich wohl, schnupperte, ging� zum Ladentisch und bestellte. Der Mann am Schatter wollte Geld und Starka wies auf Weltlin. Der grif in die Tasche, fand kein Hartgeld, mühsam knöpfte er die Geheim- tasche auf, förderte das Geldetui zu Tage und Starkas Augen erblickten Banknoten, die in allen Größen und Farben die Fächer füllten und er erschauerte in erhöhter Ach- tung vor seinem Gefährten. „Woher hast du das viele Geld?" Wettlin schwieg. „Ein guter Fang gewesen— he?"— und er stieß Weltlin in die Seite. Auch der hatte nun sein Glas vor sich stehen und er versuchte, an der Flüssigkeit zu nippen. Sie fühlte sich klebrig an. der starke Alkoholgeruch schien Weltlin zu be-
täuben. Er hatte nur den einen Wunsch: frische Luft... Luft! Ohne Besinnung stürzte er das ihm wider- stehende Getränk in seine Kehle. Es würgte und brannte. Schon stand ein zweites Glas vor ihm, er wußte nicht mehr, was um ihn vorging, legte einige Geldmünzen vor sich hin, auf die er nicht achtete. Auch das zweite Glas trank er aus. Sein Kopf schmerzte, er glaubte ersticken zu müssen, sein Herz klopfte, daß es ihm fast den Atem nahm. Nach einer Ewigkeit spürte er. wie er von starken Fäusten geschüttett wurde und der Arbeiter Starka ihn unter den Arm nahm.„Du ver- trägst ja nichts!" lallte der. Plötzlich spürte Wettlin die ersehnte frische Luft. Sie waren wieder auf der Gasse. „Ich möchte nach Hause", brachte er müh- sam hervor.
„Wo wohnst du?" Weltlin wollte antworten, konnte es aber nicht. Er vermochte sich nicht an die Gasse zu erinnern, in der sich seine Wohnung be- fand. „Mtt dir will ich gehen. Nimm mich mit", brachte er mühsam hervor. „Ich Hab' keine Wohnung", sagte Starka und schleifte Weltlin hinter sich her. Endlos dauerte der Weg. Nun waren sie bei einem Fluß angelangt, gingen Stiegen hinab, unter einem Brückenbogen lagerten Leute am Boden. Wie ein Stein fiel Weltlin hin und lag bald in tiefem Schlafe. Als er wieder er- wachte, hörte er Starka neben sich sagen: „Glück haben wir gehabt! Keine Polizei! Aber nun müssen wir laufen." Weltlin er- hob sich, starke eiserne, zentnerschwere Ringe verspürte er um seinen Kopf, er griff hin, aber er fühlte nur die Schwere seiner Hand. Er sah auf seinen Anzug, der über und über mit Schmutz und Erde überzogen war. Wenn ich mich nur waschen könnte, dachte Weltlin und dieses Gefühl wurde so mächtig in ihm, daß er die Böschung hinabkletterte und seine Hände in den Strom tauchte. Mtt müden, zitternden Händen befeuchtete er sein Ge- ficht. Was nun? dachte er. Wo bin ich? Ich muß in die Fabrik. In die Fabrik? Wer hat eine Fabrik? Dorthin will ich nicht mehr — nein, nein! Dort ist der Teufel! Oh, hier
Monsieur Mirat war der glückliche Besitzer einer kleinen Villa in einem netten Städtchen MiUelsrankreichs und ich war sein nach Ruhe und Einsamkeit dürstender Sommergast. Etwa zweihundert Schritt vom großen Obstgarten ging der Fluß vorbei, der übrigens sehr fischreich war, und ich konnte mich also nach Herzenslust an meinem Lieblingssport vergnügen. Denn es gibt doch nichts Ruhigeres als die Fischerei in selbstgewählter Einsamkeit. Bereits am ersten Morgen meines Urlaubs befand ich mich voll Eifer beim Angeln. Rings- herum war vollständige Ruhe,.ich sah keinen Men». schen und erst als ich abends den zweiten Fisch- sang erfolgreich bendete, knackte es hinter mir im Gebüsch. Ich blickte mich um und erblickte ein dürres altes Herrchen, mit Angel und Blechbüchse bewaffnet, das mich, wie es schien, nicht sonder- lich erfreut ansah Wahrscheinlich hatte ich einen fremden Angel- plag usurpiert und stammelle Entschuldigungen. „Macht nichts. Werde mich ein wenig weiter niedersetzen!" Sprach's und ging. An den darauffolgenden Tagen sah ich ihn oft und nach und nach entspann sich zwischen uns so eine Art Gespräch. „Sie wohnen bei Mirat?" „Ja." „Soso, hmhm!" Das war alles. Er murmelte in seinen Bart und verschwand. Am nächsten Tage fing er wieder an: „Mirat ist wohl Ihr Freund?" „Nicht so ganz. Ich kenne ihn erst fünf Tage. Aber ist er der Ihre?" „Mein Freund? Nein, das nicht. Aber ich kenne ihn gut. das heißt, ich kenne ihn schon sehr lange, schon gegen 40 Jahre!" „Er scheint ein braver Mann!" „Scheint er das? Möglich. Aber nicht immer schien er es." „Was bedeutet Ihr Reden?" „Ich war früher Staatsanwalt, mein Herr, und hatte vor dreißig Jahren eine Mordanklage gegen Mirat erhoben." „Mord? Das ist ja entsetzlich! Er wurde selbst- verständlich freigesprochen?" „Wo denken Sie hin. Wenn ich die Klage ver- trat. Er wurde selbstverständlich verurteilt, aller- dings nur auf Grund schwerwiegender Indizien,
die Witwe Borez und ihr Kind ermordet zu hoben. Es war ein vollständiger Sieg des öfsentlichen Anklägers. Ich will Ihnen die näheren Umstände und all die Einzelheiten ersparen. Mirat wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe ver- urteilt. Kam nach Neu-Kaledonien . Dann setzten die Angriffe gegen das Urteil, gegen den Richter und gegen mich ein.' Mirat fei unschuldig ver- urteilt worden. Und richtig, es fand sich ein Töter, der auf dem Sterbebette die Mordtat vor ein- wandsreien Zeugen gestand. Das Urteil wurde aufgehoben. Mirat kam zurück und ich wurde pensioniert. Jedenfalls lebt Mirat seicher als geachteter Mann in unserer Mitte, er hat einen wohlhabenden Verwandten beerbt und genießt seine Renten. Die Geschichte ist vergessen, die meisten Zeugen sind gestorben und selten wird noch der Fall Mirat erwähnt." „Entsetzlich! Unschuldig ins Zuchthaus nach Neu-Kaledonien . Sie halten ihn doch selbstver- ständlich für unschuldig?" „Ich muß wohl! Meine vorgesetzte Behörde befahl es. Man brachte mir Beweise, aber..." „Aber?" „Auch ich brachte einstens Beweise seiner Schuld. Konnte nicht der Sterbende ein falsches Geständnis abgelegt haben? Tote haben von der irdischen Gerechtigkeit nichts zu fürchten. Als ich ihn anklagte, hielt ich ihn für schuldig. Jetzt..." „Jetzt?" „Jetzt muß ich ihn für unschuldig halten, denn das Justizministerium dekretierte seine Unschuld." „Aber Ihre eigene aufrichtige Meinung?!" „... ist, daß ein Leben, daß dreißig Jahre vorübergegangen sind!" Er warf den Köder an der langen Schnur weit in den Fluß und bedeutete mir so, daß er das Gespräch für beendigt hielt. Ruhe und Einsamkeit ist auf die Dauer lang- weilig. Aus dem alten angelnden Staatsanwalt war nichts weiter herauszubringen, also versuchte ich es mit Herrn Mirat. Eines Tages brachte ich ihm eine Portion Hechte, und er nahm sie unter der Bedmgung an, daß ich seinem Weinkeller alle Ehre antun würde. Beim Essen und Trinken taute er aus. „Sie haben sich mtt Herrn Lebrun, dem Staats- anwalt, angefreundet!" „Ja. er angelt oft neben mir und wir sprechen hie und da miteinander. Auch von Ihnen!" „Kann mir's denken, daß der Staatsanwalt
gibt es keine Konferenzen, keine Kassiere, Prokuristen und Oberingenieure, keine Käufe und Verkäufe, keine Maschinen und keine Sabotage. Ich selbst betreibe Sabotage! Er lachte laut und gellend auf. „Was lachst du denn?" fragte Starka. „Bist du krank?" „Nein, bloß gut aufgelegt", erwiderte Weltlin. Sie frühstückten in einem kleinen Volkskaffee und gingen dann in einen Park. Der Weg führte sie an einem Haus vorbei, vor dem viele Menschen dichtgedrängt standen. „Was ist denn das?" fragte Wettlin. „Das ist das Stempelamt! Lauter Gauner! Durch sechs Monate zahlen sie einem die paar Märker und dann ist's aus! Dann kannst du verrecken, krepieren— kein Hund kümmert sich um dich! Alles Bande, alles eine dreckige Lausebande." Weltlin sah die lange Kette der Warten- den. Männer. Frauen mit Kindern standen da mit blassen Gesichtern, aus denen Not und Entbehrung sprachen.' „Müssen die Leute da lange stehen?" fragte er „Ja. Mensch, warst du denn nie stempeln?! Bist du einer von der Bande? Gehörst du selbst zu denen? Hast ja Geld wie Mist! Bist du kein Einbrecher— bist du selbst ein Schieber?" lFortsetzmrg folgt.)
Lebrun von mir spricht. Wir sind alte Bekannte, der Herr Staatsanwall und ich." „Ich hörte auch von der entsetzlichen Geschichte. Sie Aermster, was müssen Sie gelitten haben?" Mirat war gar nicht verlegen oder traurig, er lachte: „Dachte es wohl, daß Sie davon gehört haben. Hat viel Staub aufgewirbelt, die Sache damals. Auch in Paris , nicht?" „Auch in Paris ", gab ich zu. „War eine komische Geschichte. Als ich zurück- kehrte, war es wie ein Triumphzug. Die Oppo- sition wollte es politisch ausnützen, ich sei ein Opfer der Regierung. Ich winkte ab, in Neu- Kaledonien hatte ich Aufregungen genug gehabt, jetzt brauche ich Ruhe. Hier wich man mir aus. Es kümmerte mich wenig. Zettungen und Parteien grifsen mich an. andere Zettungen und andere Parteien verteidigten mich. Dann starb mem Vetter und hinterließ mir einiges Geld. Damit ebbte die Aufregung ab� Das war wieder komisch. Als ich arm war, galt ich manche» als Verbrecher, der wohlhabende Mirat war selbstverständlich ein Ehrenmann. Haha! Dann wurde ich sogar eine Art von Märtyrer, eine Sehenswürdigkeit der Stadt. Fremde wollten mich kennen lernen. Back- fische bettelten um Autogramme. Dann kam wieder ein Umschwung. Man flüsterte sich zu, ich wäre ein schlauer Fuchs und hätte der Gerechtig- keit ein Schnippchen geschlagen. Aber das ver» größerte sogar die Achtung meiner Mttbürger, und eines Tages", da sing sein verrunzeltes Gesicht zu strahlen an,„wollten sie mich sogar als Maire haben. Ich lehnte ab, und sie waren gekränkt. Dann ist die Sache allmählich eingeschlafen." Ich war eigenllich befremdet über die Gleich- gültigkeit, die Mirat der ungerechten Verurteilung, dem Aufenthalte im Zuchthause entgegenbrachte. Er schien keinen Funken Groll gegen die Gesell- schaft zu hegen, die an diesem entsetzlichen Er- eignis Schuld trug. Und sonderbar, niemals hatte er mir gesagt: ,Jch bin unschuldig!" Während drei Monaten versuchte ich die Schuld- frage in unseren Gesprächen immer wieder auf- zurollen, er wich aber geschickt aus. Erst vor meiner Abreise fragte ich dixekt: „Her Mirat, sagen Sie mir aufrichtig, waren Sie damals ganz und gar unschuldig?" Ein ironisches Lächeln glitt über sein Gesicht: „Wissen Sie, Herr Capus, es such dreißig Jahre her. und es ist heute gleichgültig, ob ich oder ein anderer den Mord begangen hat. Mir hat man zuerst bewiesen, nur ich könnte der Mörder sein, dann bewies man der Welt, ich sei unschuldig. Wie es wirklich war, ich weiß es nicht mehr!" Damit verabschiedete er sich, ich fuhr nach Paris und sah chn niemals wieder. (Berechtigte Uebcrtragung voll R. Geerling.)