Abend- Ausgabe
Nr. 550 B 267 49. Jahrg.
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Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
DIENSTAG
22. November 1932
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Bezugsbedingungen und Anzeigenpret; e fiehe Morgenausgabe
,, Strengstes Schweigen"
,, Es verlautet aber..."
Wir müssen uns schnell, noch ehe eine neue Auflage von Herrn Bracht kommt, berichtigen. Die Behauptung, daß sich die neue Regierungsbildung in altbekannten Formen vollziehe, läßt sich nicht länger aufrechterhalten. Eine Regierungsbildung auf dem Wege des Austausches von Geheimdokumenten zwischen einer Parteiführung und dem Büro des Reichspräsidenten ist wirklich noch nicht dagewesen. Man möchte als Untertan nur die bescheidene Hoffnung aussprechen, daß die besagten Geheimdokumente alsbald veröffentlicht werden, denn das Volk, von dem einer Sage zufolge alle Staatsgewalt ausgehen soll, hat vielleicht auch unter dem neuen System der Staatsführung ein Recht zu erfahren, wie seine Regierungen zustande kommen, beziehungsweise nicht zustande kommen...
Zu dem Frage- und Antwortspiel, das zwischen Reichskanzlei und Kaiserhof gespielt wird, meldet klassischerweise TU.:
leber den Inhalt sowohl der Rückfrage wie der Antwort wird amtlich strengstes Stillschweigen bewahrt. Es verlautet aber, daß der Kern der Rückfrage dahin geht, ob der Auftrag Hindenburgs an Hitler bedeute, daß er eine Präsidialregierung mit parla mentarischen Bindungen bilden foll, oder ob er eine parlamentarische Mehrheitsregierung mit Präsidialbindungen zu bilden habe.
Für den gewöhnlichen Menschenverstand find ,, eine Präsidialregierung mit parlamen tarischer Bindung" und eine parlamentarische Mehrheitsregierung mit präsidialen Bindungen" soviel wie gehupft und gesprungen, soviel wie Jacke und Hose oder Regen und Traufe. Die Erfindung solcher feiner Unterschiede kann nur den Zweck haben, die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, um dann für ihr Scheitern dem andern die Schuld zuzuschieben.
Kein Wunder, daß angesichts dieses Standes der Geheimverhandlungen fleißig nach dem nächsten Mann der Vorsehung Umschau gehalten wird. Dabei werden Namen genannt, die wenn man Herrn von Papen in das 17. Jahrhundert einrangiert- etwa bis nach dem 13. zurückreichen. Sollten wir wirklich vor einem neuen Versuch stehen, die Staats- und Wirtschaftskrise der Gegenwart im Zeichen der Ritterromantik zu lösen, so würde diesem zweiten Experiment ein noch schlimmeres Ende sicher sein.
Bracht verbietet
Er kann keine Kritik vertragen Düsseldorf , 22. November. Die„ Düsseldorfer Boltszeitung"- unser Parteiblatt ift famt ihren neun Kopfblättern heute auf fünf Tage verboten worden. Grund zum Berbot gab ein Artikel, durch den der stellvertretende preußische Reichskommissar Dr. Bracht beleidigt worden sein soll. Der Artikel übte unter der Ueberschrift Brachts komödienhafte HauptmannEhrung" Kritik an der Medaillenaffäre. Herr Bracht aber fann kritik nicht vertragen, deshalb läßt er verbieten!
Auch die ,, Rheinische Zeitung " verboten Köln , 22. November.
Der Oberpräsident der Rheinprovinz hat die Rheinische 3 cifung" in köln auf fünf Tage für die Zeit vom 22. bis 26. November verboten. Auch unser Parteiblatt in Koblenz , die Rheinische Warte", ist für drei Tage vom 22. bis 24. november verboten worden.
Ueber das Schreiben Hitlers an Staatsjekretär Meißner erfährt man von ,, zuständiger Seite", daß dieses Schreiben sich in der Hauptfache auf eine bestimmte Rückfrage fonzentriere. Welcher eine Punkt das ist, wird verschwiegen, doch glaubt man, daß Hitler die Zusage verlangt, auch
mit Artikel 48 regieren zu dürfen.
Die Antwort Dr. Meißners soll heute am frühen Nachmittag Hitler übergeben werden. Eine Veröffentlichung ist einstweilen nicht in Aussicht genommen. Man erwartet, daß nach Empfang der Antwort Hitler sich entscheiden werde, ob er den ihm zugedachten Auftrag annehmen will oder nicht.
Ueber die Bedingungen, die der Reichspräsident Hitler gestellt hat, wird mitgeteilt, daß sie allge= meiner Natur seien und nicht Einzelfragen be= treffen. Im übrigen enthielten sie Dinge, die bereits in der Verfassung stehen, und die also lediglich unterstrichen werden. Zugegeben wird, daß Herr von Papen am Sonntag beim Reichs präsidenten gewesen ist, und es wird hinzugefügt, daß der Reichspräsident sich vorbehalte, auch weiter bis zur Lösung der Krise die Ansicht des geschäftsführenden Reichskanzlers zu hören.
Die Meldung, wonach Oldenburg von Januschau , von Berg- Martienen und Herr v. d. Osten zum Reichspräsidenten berufen und bei ihm gewesen seien, wird für falsch erklärt.
Entschieden wendet man sich gegen alle Gerüchte, die den Zweck haben könnten, die Verhandlungen zu stören und ihren ernsthaften Charakter in 3meifel zu ziehen. So 3. B. auch die durchaus unbegründete Behauptung, daß Papen nicht freiwillige, sondern gezwungen durch sehr starke Strömungen im Kabinett zurückgetreten sei. Dem wird entgegengehalten, daß Papen be=
reits am 8. November vor den Auslandsjournalisten seinen bevorstehenden Rücktritt angedeutet habe; da sich die Basis seiner Regierung nicht verbreitern ließ, hat
Papen selbst im kabinett als erster Redner den Rücktritt vorgeschlagen.
Im übrigen wendet man sich von zuständiger Seite" gegen alle., Gerüchtemacherei", die die Atmosphäre vergiften" wolle. Es ist ein schwieriges Geschäft heutzutage, eine zuständige Seite" zu sein!
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Der bedauernswerte Angriff", der seit Tagen nicht weiß, ob er ein zu Vornehmheit verpflichte tes Regierungsorgan ist oder ob er wieder Jauche sprigen darf, wie es seiner Natur entspricht, tröstet sich damit, daß die Klärung noch heute zu er warten sei. Einstweilen stöhnt er über die Bedingungen des Reichspräsidenten :
Wenn man die Vorbehalte genau nachprüft, jo sieht man, daß in ihnen parlamentarische und präsidiale Elemente durchein ander gemischt sind, d. h. die Bedingungen gehen teils von präsidialen, teils von parlamentarischen Voraussetzungen aus, so daß das Ganze völlig undurchsichtig erscheint.
hat, wurden heute vormittag dem Reichspräsidenten vorgelegt.
Ueber den Inhalt sowohl der Rückfragen wie der Antwort wird amtlich strengstes Stillschweigen bewahrt. Es verlautet aber, daß der Kern der Rückfragen dahin geht, ob der Auftrag Hindenburgs an Hitler bedeute, daß er eine Präsidialregierung mit parlamen= tarischen Bindungen bilden soll, oder ob er eine parlamentarische Mehrheitsregierung mit Präsidialbindungen zu bilden habe. Man steht offenbar bei den Nationalsozialisten auf dem Standpunkt, daß für die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung nicht so weitgehende Vorbedingungen gestellt werden dürften, wie das der Reichspräsident getan hat, während für den Fall der Bildung einer Präsidialregierung dem etwaigen zufünftigen Kanzler erheblich weitere Vollmachten gegeben werden müßten, vor allem im Hinblick auf eine etwa notwendig werdende Reichstags= auflösung, da mit dem Gedanken einer Präsidialregierung eine feste Parteienbindung unvereinbar sei.
Aber jest ift Heinz Neumanns Sturz
Früher hat der Angriff" immer auf den Grund der Dinge gesehen und dort den Juden entdeckt, der an allem schuld ist. Aber jetzt ist alles trübe und undurchsichtig. Schlimme Zeiten! Schlimme Zeiten!
Das Frage- und Antwortspiel
Die Rückfragen Adolf Hitlers , die er gestern abend noch an Staatssekretär Meißner gerichtet
Kindesmörderin aus Verzweiflung
Tragödie einer unehelichen Mutter vor Gericht
Es ist immer die gleiche Tragödie der unehelichen Mutter, die sich vor Gericht offenbart. Vor mehr als einem Jahr zog aus dem Lehnigsee ein Angler die Leiche eines zehn Tage alten Kindes heraus. Am 20. Juni d. J. wurde die Hausangestellte Martha N. unter dem Verdacht des Kindesmordes verhaftet. Sie war geständig, das Kindchen ertränkt zu haben.
Martha N. war vor etwa drei Jahren nach Berlin gekommen, aus ihrem schlesischen Heimatdorf. Einmal hatte sie schon ein uneheliches Kind zur Welt gebracht. Die Entbindung fand im Elternhause statt. Der Vater, Gemeindevorsteher, durfte davon nichts wissen. Das Kind wurde am Tage nach der Geburt von dem unehelichen Vater, einem Polen , der Mutter weggenommen. Sie wollte ihm nicht nach Polen folgen. Eine Kollegin der Martha behauptet aber, das Kind sei im Garten begraben worden. Auch in Berlin fam sie bald in andere Umstände. Den Gedanken an eine Abtreibung ließ sie fallen. Ihr Freund ver sprach ihr, treu zu bleiben und für das Kind zu forgen.
Unmittelbar jedoch bevor das Mädchen in die Charité ging, zweifelte er seine Vaterschaft an. Man ging in Unfrieden auseinander. Seitdem hat Martha ihren Freund nicht mehr gesehen. Am 10. Oktober gebar sie in der Charitee ein Mädchen. Zehn Tage später wurde sie entlassen. Wohin nun mit dem Kind? Die Fürsorgerin hatte sie nicht belehrt, daß sie es ins Waisenhaus geben kann. Der Vater hatte die Bitte, mit dem Kind nach Hause kommen zu dürfen, mit der Erklärung be antwortet, sie habe kein Waterhaus mehr. Ihre Arbeitsstelle aufzusuchen getraute sich die Verzweifelte mit dem Kind nicht. Sie übernachtete in einem Hotel, das Geld war alle, sie löfte eine Fahrkarte nach Lehnik fie kannte den Ort, da ihr Arbeitgeber hier ein Grundstück besaßlegte das Kind im Steckissen ins Wasser und begab sich an ihre frühere Arbeitsstelle. Das Kind
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habe sie zur Tante gebracht, sagte sie. Zwar fiel es auf, daß sie oft meinte, sie sorge sich um das Kind, ob es bei der Tante gut habe. Als das Jugendamt nach dem Verbleib des Kindes forschte, erklärte sie zuerst, es sei zu Hause bei den Eltern, dann, sie habe es in Breslau im Hotel einer unbekannten Dame übergeben, alles ermies sich als unzutreffend. Da wurde sie verhaftet und legte ein Geständnis ab.
Auch vor Gericht das übliche Bild. Die Angeflagte weint, ihre frühere Arbeitgeberin stellt ihr das beste Zeugnis aus. Wenn die ganze Straße nicht um den Fall wüßte, würde sie sie zurüdnehmen. Der Vorsitzende zeigt für die Unglückliche das größte Verständnis.
Mord aus Rache
Ein scheußliches Verbrechen
In dem Dorf Lone, in der Nähe von Avranches , bewohnte eine Landarbeiterfamilie mit ihrer fünfjährigen Tochter und dem 63jährigen Vater der Frau ein kleines Haus. Zwischen den Ehegatten und dem alten Mann gab es dauernd Streitigkeiten. Am Montag stürzten fich der Landarbeiter und seine Frau auf den alten Mann und erdrosselten ihn. Die fünfjährige Tochter des Ehepaares, die das Verbrechen gesehen hatte, wurde sodann von ihrem Vater in den nahen Wald geführt und an einem Baum erhängt, um dadurch einen unbequemen Zeugen zu beseitigen. Ortsbewohner fanden den Leichnam des unglücklichen Mädchens und benachrichtigten die Polizei, die dann das ganze Verbrechen aufdedte und die beiden Mörder verhaftete.
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Heinz Neumann war bis vor kurzem der mächtigste Mann der Kommunistischen Partei. Jetzt ist er gestürzt, warum darüber hat man nur wenig erfahren. Jetzt aber hat auf dem Berliner Bezirksparteitag der KPD. der Referent Ulbricht einen Zipfel der Geheimnisse gelüftet, indem er folgendes ausführte:
Heinz Neumann war es, der durch eine Vorbemerkung zum Stalin Brief in der ,, Roten Fahne" diesen Brief verfälschte. Der Sinn des Stalin - Briefes war der konse= quente Rampf gegen die Sozialdemokratie. Während der Genosse Stalin
die SAP. als einen Bestandteil des Faschismus,
als zugehörig zum gemäßigten Flügel des Faschismus“ bezeichnete, wurde in der Vorbemerkung Neumanns die SAP.- Politik als eine Politik des Schwanfens zwischen der KPD . und der SPD. charakterisiert, der sozialfaschistische Charakter der SAP. und der linken" Manöver der SPD . wurde von ihm bestritten.
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Der Herrscher Sowjetrußlands hatte tatsächlich vor geraumer Zeit den absonderlichen Einfall, sich in einem offenen Brief mit der SAP.( der Rosen feld - Seydewig- Gruppe) zu beschäftigen, und da er die deutschen Verhältnisse nicht fennt, passierte ihm das drollige Mißverständnis, daß er diese Gruppe als einen Bestandteil des Faschismus" definierte. Natürlich hält sich jeder Deutsche ohne Unterschied der Partei den Bauch vor Lachen, wenn er sich Kurt Rosenfeld , Seydewiz, Eckstein, Ströbel usw. als„ Faschisten" vorstellt. Nur die Kommunisten müssen sich das Lachen verkneifen und, die Hacken zusammenschlagend, bestätigen, daß der große Stalin wiederum wie immer, wenn er den Mund aufmacht, eine unsterbliche Wahrheit gesprochen hat.
Heinz Neumann hatte nicht etwa gegen Stalin polemisiert. Welcher deutsche Kommunist tönnte das tun, ohne in der nächsten Sekunde zu Staub zermalmt zu werden? Er hat nur in der respelivollsten Form den Blödsinn Stalins ein menig abzumildern versucht. Das hat schon genügt, ihm den Kragen zu brechen.
Wer glaubt ernstlich, daß durch ein folches System der geistigen. Knechtung Revolutio= näre erzogen werden? Nein, so kann man nur Gesinnungslumpen erzielen, die bereit find, heute abzuschwören, was sie gestern gepredigt haben. Die ,, Rote Fahne " spuckt sich, indem sie Heinz Neumann preisgibt, selber ins Gesicht, denn alle wirklichen oder angeblichen Sünden, die