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Morgen- Ausgabe

Nr. 565 A 277 49. Jahrg.

Redaktion und Verlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3

Fernsprecher: 7 Amt Donhoff 292 bis 297 Telegrammadresse: Sozialdemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

E

VOLKSBLATT

DONNERSTAG

1. Dezember 1932

B

Jn Groß Berlin 10 Bf. Auswärts....... 15 Pf.

Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Eine aufregende Nacht

Folgendes begab sich, wie uns aus allerbester Quelle berichtet wird, in der Nacht zum Mittwoch und am Morgen darauf:

Am Abend des Dienstag hatte der Oberojaf beschlossen, sich an den Ort der Verhandlungen, ,, nach Berlin " zu begeben. Nach den üblichen, ziemlich umfangreichen Borbereitungen bestieg er zusammen mit dem Hauptmann Röhm den um 21.20 Uhr vom Münchener Hauptbahnhof ab= fahrenden D- 3ug und zog sich alsbald in den Schlafwagen zurück, nachdem er den Auftrag ge= geben hatte, ihn kurz vor Berlin zu wecken.

Am Mittwoch, um 5.22 Uhr morgens, erreichte der Zug fahrplanmäßig Jena . Alles lag im Schlafwagen in tiefstem Schlummer, als sich plöglich im Gang polternde Schritte und eine rauhe Männerstimme vernehmen ließen. Eine Faust donnerte an die Tür des Abteils, in dem der Führer der Ruhe pflag.

Hitler erschien nach spannungsvollen Sekunden halbangezogen im Türrahmen( Hitler , wie ihn teiner tennt!)

und erkannte in dem rauhen Störenfried teinen anderen als den Reichstagspräsidenten

Göring

-

In fliegender Haft jezte der Reichstagspräsident dem Führer der erleichtert aufatmete, da er einen Eisenbahnunfall vermutet hatte ander daß er nicht weiter nach Berlin fahren und nicht mit Schleicher verhandeln dürfe,

ausein

Hitler , wie ihn keiner kennt

sondern mit ihm nach Weimar fahren müsse, wo auch Goebbels sie erwarte.

Der Führer, froh, daß es nichts Schlimmers war, beendete schleunigst seine Toilette, und

der gänzlich verdugte Hauptmann Röhm,

der eben noch in den angenehmsten Träumen ge­legen hatte, folgte seinem Beispiel. Mit einigen Minuten Verspätung verließ der D- Zug Jena und fuhr ohne Hitler und Röhm nach Berlin weiter. Auf dem Anhalter Bahnhof hatten sich zum Empfang des Oberojafs Straßer und Frid eingefunden. Sie waren munter und guter Dinge. Waren sie es doch, die die Verhandlungen geführt hatten und denen es gelungen war, unter Ueber­windung beträchtlicher Widerstände den Führer nach Berlin zu lotsen Hatten sie ihn erst da und ließ dann Herr von Schleicher den ganzen Zauber seiner Persönlichkeit wirken( es ist doch schön, wenn ein General mit einem Gefreiten so menschlich. redet!), dann kam die Sache schon auf den richtigen Weg.

Wer beschreibt das Erstaunen der beiden deutschen Männer, als ein Fahrgast nach dem andern den Jug verließ und kein Führer,

tein Röhm zu sehen war!

Unrat witternd, eilten sie nach dem Hotel, das Telephon spielte nach allen Windrichtungen, und schließlich erfuhren sie, daß Göring in Jena zu nachtschlafender Zeit den Führer überfallen und nach Weimar verschleppt hatte, um ihn dort

Schleicher statt Papen ?

Verhandlungen mit dem Zentrum

Reichswehrminiffer Schleicher hat gestern dem Reichspräsidenten einen Zwischenbericht erstattet. Schleicher steht jetzt wieder im Vordergrund als Kanzlerkandidat. Er führt seine Besprechungen

weiter.

*

Es haben sehr eingehende Besprechungen zwischen Schleicher und den Zentrumsführern stattgefunden. Gestern führte Schleicher eine halb­stündige Besprechung mit Bertretern der christ­lichen Gewerkschaften.

Ferner haben starte Einwirkungen des Zen­trums auf die Nationalsozialisten Frid und Straßer stattgefunden, um sie für den von Schleicher gewünschten Waffenstillstand zu ge­winnen. Das soll gelungen sein und beide follen versprochen haben, daß sie im Sinne dieser Idee auf Hitler einwirken würden. Die ihnen gebotene Gegengabe ist Preußen, wo National­fozialisten und Zentrum bereits eifrig über die Person des neuen neuen Ministerpräsi­denten und die Zusammensetzung der neuen Regierung verhandeln.

Jedenfalls

Dieser Tage hat der Zentrumsführer kaas Herrn Schleicher empfohlen, seine Bemühungen bis zum 6. Dezember auszudehnen und sich durch nichts beirren zu lassen. rechnet man in unterrichteten Kreisen damit, daß, wenn der Handel mit den Nazis erst wieder be­ginnt, mehrere Tage darüber vergehen werden.

Die Pläne des Zentrums

Das Berliner Zentrumsorgan, die Ger= mania", äußert sich in ihrer Donnerstag- Aus­gabe zu dem Stand der Verhandlungen um die Reubildung der Regierung wie folgt: Nach den teilweise aufregenden Borgängen her beiden letzten Tage scheint fast eine gewisse Beruhigung eingetreten zu sein. Sie kommt

-

Die Rolle der Nazis

vor allem in der Tatsache zum Ausdruck, daß für den Fall eines negativen Ausganges der erwarteten Aussprache zwischen Schleicher und Hitler mit der Rückkehr des Systems Papen nicht mehr in dem Maße ge= rechnet wird, wie es noch am Dienstag in meiten Kreisen der Fall war. Die ungewöhnliche heftige Reaktion, die die vorgestern erfolgte jenjationelle Ankündigung eines Kampffabinetts Papen " in der ganzen Oeffentlichkeit ausgelöst

gemeinsam mit Goebbels in entgegen gesezter Richtung, also gegen Schleicher , zu bearbeiten. Wutentbrannt warfen fich Straßer und Frick, in ein Auto und rasten im Hundertkilometertempo nach Weimar

Dort hat dann jene nationalsozialistische Führer­fonferenz stattgefunden, über deren Verlauf und Ergebnis das tiefste parteiamtliche Geheimnis ge breitet wird. Dort saßen sie mittwegs zwischen Berlin und München , zwischen Demagogie und Zwang zur Verantwortung, und kämpften darum, von wem ,, der Führer" geführt und wohin er geführt werden solle.

Dreierlei geht aus dieser wahren Geschichte her­vor: Erstens vervollständigt sie das Bild der Zielsicherheit, mit der die nationale Rechte ihre innere Krise und mit ihr die deutsche Regie: rungskrise liquidiert. Zweitens zeigt sie, wie zu treffend die von Frid, Goebbels , Göring . Röhm und Straßer gemeinsam abgegebene Erklärung ist, daß sie in uner­

schütterlicher Gefolgschaftstreue zum Führer" einig zusammenstehen. Drittens wird jetzt wohl nie­mand mehr daran zweifeln, daß es nur einen Mann gibt, der Deutschland retten fann, Adolf Hitler , den Mann der flaren Entschlußkraft, mie er sich in jener historischen Schlafwagenszene ge­zeigt hat.

Alle seine Anhanger merden ihm begeistert zu­rufen:

Du brauchst darüber dich nicht zu erbosen, Du bleibst der Führer"- auch in Unter­hosen!

hatte, hat den maßgebenden Kreisen offenbar die Unmöglichkeit und außerordentliche Gefährlichkeit eines solch aufreizenden Experiments nachdrücklich vor Augen geführt. So konnte man am Mitt­woch ziemlich allgemein der Auffassung begegnent, daß, wenn auch nicht in je bem Falle mit einem Kabinett Schletcher zu rechnen sei, zwischen dieser Lösung und einer Rückkehr des früheren Zu­standes noch andere personelle Möglichkeiten gegeben seien, auf die wohl zurückgegriffen werden würde. Es ist ja auch tatsächlich nicht gut einzusehen, warum es, falls eine kurzfristige

Bon Laffalle bis Hitler

Von Wilhelm Dittmann

,, Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."

Marg in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte".

Als Ferdinand Lassalle vor 70 Jahren die sozialdemokratische Bewegung ins Leben rief, konnte er sich rühmen, daß er bewaffnet sei mit der ganzen Bildung seines Jahr­hunderts. Heinrich Heine hatte ihn bezeich­net als einen Mann mit den glänzendsten Geistesgaben. Wissenschaftler und Revolutio­när zugleich, warf er die Fackel der Auf­klärung in die Massen, organisierte er ihre selbständige politische Bewegung. Sein ,, All­ gemeiner Deutscher Arbeiterverein " war auf seine persönliche Diktatur als Präsident des Vereins zugeschnitten. Er wollte ,, den Willen der Massen als Hammer in seiner Hand" im politischen Kampf autoritär benutzen können. Lassalles Agitationsreisen im Rheinland ge= stalteten sich zu wahren Triumphzügen, und er selber schrieb an die Gräfin Hazfeld, so etwa müsse es hergegangen sein bei der Stif­tung neuer Religionen.

Heute haben wir ähnliches erlebt mit Hitlers Versammlungstouren und der von ihm ins Leben gerufenen nationalsozialisti­schen Bewegung. Aber nur in den äußeren Erscheinungen ist diese Aehnlichkeit vorhan­den. Gegenüber der genialen Persönlichkeit Lassalles erscheint Hitler als armseliger Epigone ,, mit der Halbbildung eines Bar­biers" wie Lassalle sarkastisch von seinem wirtschaftlichen Antipoden Schulze- Delitzsch fagte.

Die Entstehungsursachen der sozialdemo= kratischen und der nationalsozialistischen Be­wegung find dagegen im Grunde die gleichen. Vor 70 Jahren und heute die Auflösung der fleinbürgerlichen Welt und die wirtschaftliche Entwurzelung großer handwerklicher und fleinbürgerlicher Schichten in Stadt und Land durch den Kapitalismus. Vor 70 Jahren war es der junge, zukunftsgläubige Kapitalismus der freien Konkurrenz, heute ist es der über­

Berständigung nicht gelingt, mit unbedingtem jättigte, auswegloje Kapitalismus der Kar­Mutwillen zu einem Kampf fommen muß, dessen verheerende Folgen niemand zu übersehen und schließlich auch niemand zu meistern vermag."

Macdonald- Herriot nach Genf

Schwenkung Amerikas in der Abrüstungsfrage

London , 30. November. Macdonald und Sir John Simon werden morgen um 2 Uhr nachmittags na ch Genf abreisen.

in

Die britische Note über die Kriegsschulden wird wahrscheinlich morgen vormittag Washington überreicht werden.

Paris , 30. November. Ministerpräsident Herriot erklärte am Mitt­woch abend französischen Pressevertretern, daß er endgültig am Freitag nach Genf abreifen werde.

Kriegsminister Paul- Boncour wird bereits morgen, Donnerstag abend, nach Genf abfahren.

*

Danach dürfte Herr von Neurath ebenfalls alsbald Berlin verlassen, da es sich um die grund­säglich vereinbarte Fünfländerkonferenz über die deutsche Gleichberechtigungsforderung handelt.

Im übrigen scheint neuerdings eine Schmentung in der Haltung der Bereinigten Staaten in der

Abrüstungsfrage bevorzustehen, wie aus nach­stehender Meldung hervorgeht:

Washington , 30. November Zu dem amerikanischen Wunsch, das bisher auf der Abrüstungskonferenz Erreichte ver­tragsmäßig festzulegen, erfährt man in hiesigen unterrichteten Kreisen, daß diese amerika­ nische Stellungnahme auf den Entschluß hindeute, feine weiteren Anstrengungen in ber Abrüstungsfrage zu machen, sobald die Rück­tehr Deutschlands nach Genf und eine Einigung zwischen Frankreich und Italien erzielt worden sei. Die hiesige Entscheidung wurde durch die gegen­märtig wenig freundliche Ein stellung Frankreichs beeinflußt, das wegen des mangelnden amerikanischen Entgegen fommens in der Schuldenfrage offenbar Amerikas Standpunkt zum Mandschurei - Problem und in der Abrüstung nicht mehr zu unterstützen ge­neigt ist unter diesen Umständen beschloß Hoover, die bisherigen Genfer Bemühungen Amerikas ab­zuschließen und alle meiteren Schritte seinem Nach folger Roosevelt für die Zeit nach dem 4. März zu überlaffen...

telle und Monopole.

Damals fanden die energischsten Elemente des vom Kapitalismus niederkonkurrierten Handwerks und der bäuerlichen Bevölkerung noch in der Auswanderung einen Aus­weg aus ihrer Misere. Sie fuhren in Scharen übers große Wasser nach Amerika und wurden dort Wegbereiter für den Aufstieg der Union . Die bei uns im Lande blieben, fanden als Lohnarbeiter in den wie Pilze aus dem Boden schießenden kapitalistischen Großbetrieben und den zahlreichen Eisen­bahnbauten jener Zeit Arbeit und Brot. Diese sich gegen den Verlust ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit und das Hinabsinken in die Lohnarbeit aufbäumenden proletarisierten Schichten bildeten neben den aus dem Zwang der Zünfte fich loslösenden Handwerks gesellen vor allem die Anhängerschaft Lassalles. Die meisten sozialdemokratischen Führer der ersten Jahrzehnte der Sozialdemokratie Handwerker: Bebel Drechsler, York Tischler, Fritsche Zigarrenmacher, Auer Sattler, usw.

waren

Auch die führenden Männer der zweiten sozialdemokratischen Generation entstammen meist noch den Handwerksberufen. Ganz all­gemein gesprochen, haben unsere heutigen Lohnarbeiter in ihrer übergroßen Mehrheit Handwerker und Bauern zu Vätern oder Großvätern, fließt in ihren Adern Hand­merfer- und Bauernblut.

Zu Laffalles Zeiten war der deutsche Kapi­