Abend- Ausgabe
Nr. 590 B 287 49. Jahrg.
Rebattton unb Berlag, Berlin SW 68, Lindenstr. 3
Ferniprecher 7 Amt Dönhoff 292 bis 297
Telegrammabreffe: Sozialbemotrat Berlin
Vorwärts
BERLINER
E
VOLKSBLATT
DONNERSTAG
15. Dezember 1932
Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts...... 10 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe Morgenausgabe
Amnestie!
Reichsrat, denk an Weihnacht!
Die Arbeit der Sozialdemokratie hat den Erfolg gehabt, daß vom Reichstag am 9. Dezember mit 3 weidrittelmehrheit eine Amnestie für die politischen Gefangenen beschloffen wurde. Es gilt jetzt, diese Amnestie so rasch wie möglich, und zwar noch vor Weihnachten durchzuführen.
Der bayerische Ministerrat hat zwar gestern beschlossen, im Reichsrat Einfpruch gegen das Amnestie gesetz zu erheben. Die Reichsratsausschüsse haben gestern beraten. ohre freilich ein anderes Ergebnis zu erzielen, als sich auf den nächsten Dienstag zu pertagen. Das Amnestiegesetz fann also heute in der Bollfizung des Reichsrates noch nicht verabschiedet werden.
Gewiß ist der Reichsrat kein unüberspringbares Hindernis. Sollte er, was bei der bejahenden Haltung des Preußenkabinetts Braun und zahlreicher Länderregierungen nicht anzunehmen ist, tatsächlich zu einer Nichtverabschiedung des Amnestiegesetzes fommen, so bedürfte es nur eines neuen, sehr rasch erfolgenden Zusammentritts des Reichstages, um mit der vorhandenen Zweidrittelmehrheit den Einspruch des Reichsrates unwirksam zu machen.
Notwendig ist aber, daß die Amnestie sehr rasch durchgeführt wird. Bei polizeilichen Bernehmungen, bei richterlichen Voruntersuchungen, bei Berhandlungen, in denen es um Tod und Leben, um höchste Zuchthausstrafen oder Freiheit ging. ist in den legten Monaten unter dem Druck der Antiterrorverordnung sehr oft zu schnell und ohne die Wahrung unentbehrlichster Rechtsficherheiten Anflage erhoben und verurteilt worden. Gerade deshalb darf die Am= nestie nicht auf die lange Banf geschoben werden. Sie darf nicht Opfer partitularistischer Sonderwünsche und einer langsam arbeitenden Bürokratie werden. Eine Amnestie, die verschleppt wird, hört auf, eine Amnestie zu sein.
Wir
Gewiß ist eine Amnestie immer, zuerst und besonders bei der Sondergerichtsjustiz. die wir in den letzten Monaten schaudernd erlebten, eine Angelegenheit der Menschlichkeit. Wir wollen, um nur wenige Fälle zu nennen, daß die Mutter und Ehefrau Strud, die vom Berliner Sonder gericht wegen eines nicht einmal schlüssig bemiesenen Steinwurfes am 1. Dezember zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, zu Weihnachten ihrer Fa milie wiedergegeben wird. wollen, daß die Arbeiter Bratengeier und Zander, Lösche und Weidemüller, Groener und Hoffmann, die um eines Steinwurfes willen im Zuchthaus sizen, zu Weih= nachten frei werden. Wir wollen, daß die Genossen Rothe und Teichmann, die auf Grund einer durch die Notverordnung beschränkten Beweisaufnahme zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, zu Weihnachtenfrei werden. Wir wollen, daß die Arbeiter Schmidtke und Berger, Büschel und Kopper zu Weihnachten erfahren, daß die über sie verhängte Strafe von zehn Jahren Zuchthaus (!) wenigstens umgewandelt und ermäßigt ist. Wir wollen vor allen Dingen auch. daß die Verurteilten von Ohlau zu Weih nachten ihre Freiheit wiedererlangen. Wir wissen, daß die Nachricht von der an genommenen Amnestie das Tagesgespräch in den Zuchthäusern und Gefängnissen, der ständige Gedanke aller politischen Gefangenen ist. Wir wissen weiter, daß Tausende von Müttern und Ehefrauen, Vätern und Kindern auf die Freilassung ihrer Angehörigen zu Weihnachten warten.
Darüber hinaus aber ist die rasche Durchführung der Amnestie eine Forderung, die größte psychologisch politische Bedeutung hat. Die Amnestie ist von uns gefordert und gefördert worden, um eine Beruhigung zu schaffen, die es vor allem auch der Arbeiterschaft möglich macht, wieder mit verstärkter Kraft sich ihren wahren Aufgaben hinzugeben.
=
Läftige Bittsteller abgewiesen!
Der Vorsitzende der deutsch nationalen Landtagsfraktion, Abg. Dr. von Winterfeld, hat heute dem Landtagspräsidenten Kerrl, der mit den Deutschnationalen über ihre Beteiligung an der Regierungsbildung im Auftrage Adolf Hitlers verhandelt hatte, folgende Mitteilung zugehen lassen:
,, Die deutschnationale preußische Landtagsfraktion ist aus grundsäglichen Erwägungen zu einer Beteiligung an der vorgeschlagenen Regierung in Preußen zur Zeit nicht bereit. Die Frage der Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Zentrum, mit dem Verhandlungen unfererseits nicht stattgefunden haben, braucht hier nicht erörtert zu werden. Denn die Ablehnung der Regierungsbeteiligung muß schon deshalb erfolgen, weil wegen der grundsäglichen Oppositionsstellung der NSDAP.(??) gegen das Reichskabinett nicht die Gewähr dafür gegeben ist, daß mit Bildung der geplanten preußischen Regierung fein neuer Gegensatz zwischen Reich und Preußen und fein neues verhängnisvolles Begenein= ander der Reichsregierung und der preußischen Regierung wieder in Erscheinung treten würde."
*
Der Aeltestenrat des Preußischen Landtogs beschloß, von der vorgesehenen großen Kulturdebatte, die in vier Abschnitten be handelt werden sollte, die beiden Abschnitte Schulangelegenheiten und Kirche abzusehen. so daß nur der Allgemeine Abschnitt und der Abschnitt Theater und Rundfunk angelegenheiten jegt vom Landtag erledigt werden sollen. Das Landtagsplenum will diese Arbeiten vielleicht noch heute sonst am Freitag zum Abschluß bringen und sich dann voraussichtlich bis zum 17. Januar vertagen.
Präsident und Pg.
Edelinge vom Hakenkreuz Eigener Bericht des Vorwärts" Braunschweig , 15. Dezember. Wegen einer Provokation des Naziabgeordneten Schneider mußte die heutige Landtagsfizung unterbrochen werden. Schneider hatte die Dreistigkeit, dem sozialdemokratischen Abgeordneten Wo l- ter, der einen Antrag auf Winterhilfe begründete, einen scheinheiligen Lumpen" zu nennen. Die sozialdemokratischen Abgeordneten
verlangten in großer Erregung die Entfer nung des Schimpfboldes. Als sich der Nazipräsident dagegen sträubte, wurde ihm von der Tribüne zugerufen, daß er ein parteilicher Präsident wäre. Es entstand ein großer Lärm, der schließlich zur Unterbrechung der Sigung führte.
Noch einer!
Röslin, 15. Dezember.
Vor der Großen Straftammer als Berufungsinstanz wurde gegen den nationalsozia= listischen Kreisleiter Binder verhandelt, der am 14. Oktober den Chefredakteur Marmede in der Redaktion der deutsch nationalen ,, Kösliner Zeitung" mißhandelt hatte. Binder ist da mals im Schnellverfahren wegen Körperverletzung und Vergehens gegen die Terrornotverordnung vom 14. Juli 1932 zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Die Berufungsinstanz verwarf die Berufung des Angeklagten und erhöhte die Strafe auf drei Monate Gefängnis, da die Tat mit besonderer Roheit ausge führt worden sei. Während der Verhandlung fam
Vorstufen...
zum Bürgerblock
90 Jahre Zuchthaus!
Strafanträge im Felseneckprozeß
Staatsanwaltschaftsrat Stenig stellte heute im Felsenedprozeß die Strafanträge gegen die 25 Angeklagten. Er beantragte die Freisprechung des Nationalsozialisten Dorst und der kommunisten Grah und Düring. Gegen die übrigen fünf nationalsozialistischen Angeflagten wurden Strafanträge wegen Raushandels in Tateinheit mit versuchtem Totschlag an dem Arbeiter klemte gestellt, und zwar gegen die Angeklagten Knuth, Grosset je zwei Jahre sechs Monate Zuchthaus und drei Jahre Ehrverlust, gegen Schwarz und Strauch je zwei Jahre drei Monate Zuchthaus und drei Jahre Ehrverlust und gegen Villwod zwei Jahre Zuchthaus.
Gegen die kommunistischen Angeklagten wurden folgende Strafen beantragt: Wegen Raufhandels in Tateinheit mit vollendetem und versuchtem Totschlag und wegen Waffenbefizes gegen Andree acht Jahre einen Monat Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust, gegen Nees und Fischer je acht Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust, wegen Raufhandels in Tateinheit mit Totschlag gegen Schön sechs Jahre sechs Monate Zuchthaus, fünf Jahre Ehrverluft, gegen Adert sechs Jahre
Sh
fechs Monate Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust, gegen Hirsch, Becker, Hohmann, Kaiser, Klepka und Wenzel je sechs Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust, gegen Gazky fünf Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust. Wegen Raufhandels in Tateinheit mit gefährlicher Körperverlegung wurden gegen Genz, Hosmann und Steinhoff je zwei Jahre Gefängnis, gegen den Jugendlichen Grolbert ein Jahr sechs Monate Gefängnis und gegen Adam wegen Schußwaffenvergehens ein Jahr Gefängnis beantragt. Insjesamt beantragte der Staatsanwalt also ungeähr 100 Jahre Freiheitsstrafe, näm ich etwa 90 Jahre Zuchthaus und 10 Jahre Gefängnis. Außerdem wurden Haftbefehle gegen mehrere auf freiem Fuß befindliche Angeklagte beantragt.
Die Verfündung der Strafanträge rief bei den Angeklagten große Erregung hervor. Sowohl die Kommunisten als auch die Nationalsozialisten protestierten gegen die hohen Strafen, die be antragt worden waren. Einer von den Kom. munisten rief zu Dr Stenig hinüber:„ Die Strafen fönnen Sie selbst absizen."
es zu mehrfachen Zusammenstößen zwischen dem Angeklagten, dessen Verteidigung und dem Vorsitzenden, der schließlich etwa 50 Nationalsozialisten aus dem Gerichtssaal entfernte.
Hitlers Kommissare
Er spielt Papen in seiner Organisation Hitler, der vor der Nazireichstagsfraktion er klärt hat: die Partei bin ich!, hat nunmehr organisatorische Verfügungen erlassen, die seine Führerstellung verstärken sollen. In den Gauen der NSDAP. werden Kommissare eingesetzt, die nur auf Anordnung und im Auftrage Hitlers handeln dürfen. Damit soll die absolute Befehlsgemalt Hitlers über die Bezirksorganisationen der NSDAP. sichergestellt werden.
Bisher gab es Gauleiter und Landesinspekteure in der NSDAP, jetzt heißt es kommissar". Hitler hat gedacht: was Papen fann, fann ich schon lange! Wenn Papen Kommissare in Preußen eingesetzt hat, warum soll ich nicht Kommissare in meinen Gauen einsetzen? Also verfügte er: die Gaue erhalten Kommissare.
Der Möchtegern- Diftator spielt Diktatur in seiner eigenen Partei, weil er feine Chancen hat, jemals Diftatur im deutschen Volke zu spielen!
,, Georgine"-Koch
Krach im Stadtparlament
Königsberg, 15. Dezember. In der Stadtverordnetenversammlung tam es am Mittwochabend zu ungeheuren, bisher nicht gekannten Lärmszenen, die schließlich zum Auffliegen der Sigung führten. Den Anlaß dazu gab der oft preußische Naziführer und Reichstage at geordnete Koch. Als er nach mehrmonatiger Abwesenheit wieder zur Sigung der Stadtverordneten erschien, wurde er von den Kommunisten, die in ihm den intellektuellen Urheber für die Mordtaten und Verbrechen des 1. August und der folgenden Tage sehen, mit lauten Rufen begrüßt. Als Koch dann versuchte das Wort zu ergreifen, wurde er niedergebrüllt. Rufe:„ Solange dieser Kerl im Hause ist, wird nie mehr Ruhe sein"," Verbrecher",„ Mörder" usw., ertönten immer wieder. Es war Koch unmöglich, zu Wort zu kommen. Nach mehrmaliger Unterbrechung mußte die Sigung geschlossen werden.
Reichstagsabgeordneter Genosse Wilhelm Dittmann hat an die in Berlin erscheinende ,, Dammert- Korrespondenz"( Deutscher PresseVerlag Dr. Rudolf Dammert) folgenden Brief geschrieben, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt:
In einer Serie ,, 10 X happy end, Frauenunter schicksale dieser Zeit", bringen Sie ,, VIII Analphabetin und Reichstagsabgeordnete" ein geradezu ungeheuerliches Pamphlet über die verstorbene Reichstagsabgeordnefe Luise Zieß, das von böswilligen und reaktionären Beschimpfungen und Verunglimpfungen geradezu strogt. Die einfachsten biographischen Angaben, angefangen von threm Mädchennamen, der Körner und nicht Ziez lautete, sind schon falsch. Was über ihre politische Tätigkeit gejagt wird, ist übelste reaktionäre Ver leumdung. Sie soll geheime revolutionäre Aufträge" übernommen, Unruhe und Meuterei in der Marine angezettelt", das gemeine Ver= brechen des Ho.hverrats begangen" haben. Jedes Wort eine gemeine Lüge. Es wird das Märchen erzählt, daß sie bei..Eingeweihten" ,, bie Sturmglode Spartatus" genannt worden sei, während fie nie Spartafiftin war. Mit Hilfe eines