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Morgen- Ausgabe

Nr. 595 A292 49. Jahrg.

Rebaftion unb Berlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3

Serniprecher, 7 Amt Dönhoff 292 bis 297 Telegrammabteffe: Sozialbemokrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

SONNTAG

18. Dezember 1932

Jn Groß Berlin 15 Pf. Auswärts....... 20 f. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise flehe am Schluß des redaktionellen Teils

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Kabinett Paul Boncour

Keine Beteiligung der französischen Sozialisten, aber sympathische Unterstützung

Eigener Bericht des Vorroärts"

Paris , 17. Dez.( Eigenbericht).

Die fozialistische kammerfraktion lehnte am Sonnabend das Angebot Paul Boncours, in eine von ihm zu bildende Re­gierung einzutreten, a b.

Um Vormittag setzte Paul Boncour vor dem Borstand der sozialistischen kammer­frattion fein Programm auseinander. Er er­flärte sich im Grunde mit dem von dem fozia­liftischen Parteifongreß Anfang Juli aufgestellten Programm, das Herriot abgelehnt hatte, einverstanden, machte aber in verschiedenen Punkten erhebliche Einschränkungen.

So lehnte er z. B. die sofortige, massive Herabsehung der Rüffungen ab, bevor nicht eine organische Reform des französischen Heeres durchgeführt und eine internatio­nale Berständigung über die Abrüstung erzielt sei. Auch das Berbot des Waffenhandels und die Einführung der 40- Stunden- Woche mache er von einer internationalen Rege­lung abhängig.

Die Verstaatlichung der Versicherungsgesell­schaften und der französischen Eisenbahnen er­tlärte er für den Augenblid als un durchführbar, da sie zu große Geldmittel erfordern würden. Nur die kontrolle der Banken und den Berzicht auf die in dem

Budgetentwurf der Regierung Herriot vorgesehene Herabsehung der Beamtengehälter wollte er sofort zugestehen.

Die sozialistische Kammerfraktion hielt das Pro­gramm für ungenügend und beschloß nach lebhafter Debatte eine Delegation zu Bon­cour zu entfenden, die ihn ersuchen sollte, sein Programm in verschiedenen Punkten zu präzi­fieren.

Paul Boncour erklärte der Abordnung, die aus Léon Blum , Renaudel, Bincent Auriol und Lebas bestand, er sei nicht in der Lage, nähere Erklärungen abzugeben, da er jeine volle Handlungsfreiheit behalten wolle. Angesichts dieser ablehnenden Haltung fam die sozialistische Kammerfraktion zu dem Beschluß, ihren Eintritt in ein Kabinett Paul Boncour ab­zulehnen.

Sie fügt diesem Beschluß jedoch hinzu, daß fie der Bildung eines bürgerlichen Linksfabinetts unter der Führung Paul Boncours sym­pathisch gegenüberstehe.

Da zu gleicher Zeit die radikale Fraktion und die Fraktion der Radikalen Linfen zusammen­getreten waren und Entschließungen gefaßt hatten, die Paul Boncour aufforderten, auch ohne die Beteiligung der Sozialisten ein Linkskabinett zu bilden, beschloß der Kriegsminister, seine Be­

mühungen fortzusetzen. Er begab sich zum Prä­fidenten der Republik und teilte ihm mit,

daß er die ihm übertragene Mission end­gültig annehme.

Paul Boncour wird nun versuchen, eine Regie rung zustande zu bringen, die der gestürzten ä h n- I ich ist, aber in ihrer Finanz politik den Thesen der Sozialisten entgegenkommt, um sich deren Unterstützung zu sichern. Eine Beteiligung Her riots an dieser Regierung fommt wegen seiner Haltung in der Schuldenfrage nicht in Betracht. Paul Boncour wird in bezug auf die Schulden­frage der Entschließung der Kammer beitreten, was ihm um so leichter fällt, als er in den Kabi­nettssitzungen der Regierung Herriot zusammen mit Daladier und De Monzie den Standpunkt Herriots nicht vollkommen gebilligt hatte.

Da Paul Boncour am Sonnabendabend nur die traditionellen Besuche bei Senats- und Kammerpräsidenten sowie dem früheren Kammer­präsidenten machen will und dann nur noch einige private Besprechungen haben wird, dürfte die Bildung des Kabinetts erst im Laufe des Sonntags erfolgen.

Neue Bahnkatastrophe in der Schweiz

Drei Tote, zwanzig Verletzte- Eilzug auf Lokomotive aufgefahren

Zürich, 17. Dezember. Unmittelbar nach dem Luzerner Eisen­bahnunglück hat sich am Sonnabendabend schon wieder ein schwerer Unglücksfall auf den schweizerischen Bundesbahnen ereignet.

Kurz vor 18 Uhr fuhr dicht beim Bahnhof Oerlikon, etwa fünf Kilo. meter von Zürich entfernt, ein Eilzug auf eine Lokomotive in voller Fahrt auf, die anscheinend auf dem Gleis ver­gessen worden war.

Bei dem Zusammenstoß löste sich die elektrische Zuglokomotive von dem hinter­her fahrenden Packwagen los, verkeilte sich in die Dampflokomotive und sauste mit ihr zum Bahnhof Oerlikon hinein. Der Packwagen des Zuges und der nachfolgende III. Klasse Personen. wagen wurden dann in einander ver­schachtelt. Der Personenwagen hob den Packwagen in die Höhe, so daß dieser teilweise auf den Personenwagen fiel.

Durch den Stoß und die schwere 3er­trümmerung des Wagens wurden einige Fahrgäste getötet, eine Anzahl weiterer man spricht von 7 oder 8 schwer verlegt.

Ein weiterer Fahrgast kam dadurch ums Leben, daß etwa 10 Minuten später ein Rangierzug auf einem Neben­gleis dem quer über dem Gleis stehenden Personenwagen zu nahe tam. Der Heizer der Rangierlokomotive wurde durch glühende Kohlen, die aus der Feuerung auf ihn fielen, so schwer ver brannt, daß er später starb.

Das Eisenbahnunglüd von Derlikon wird auf den dichten Nebel zurückgeführt, der am Sonnabendabend bis auf 2 Meter jede Sicht un­möglich machte. Hierdurch kam es auch, daß der Sofalzug von Zürich die auf dem Gleis stehende

von Weihnachtseinkäufen in der Stadt auf das Land zurückfuhren.

Rangierlokomotive nicht bemerkte. Warum Fahrgäste auf, welche von den Geschäften und diese allerdings auf dem Gleis zurüdgelassen worden war, ist all­gemein ein Rätsel. Das Stationsamt Derlikon kann hierüber keine flare Auskunft geben.

Durch den Anprall riß sich einmal die elektrische Maschine des Lokalzuges los und sauste mit der Rangierlokomotive davon, zum anderen wurden außer dem nachfolgenden Padwagen auch noch zwei Personenwagen ganz inein­andergerammt, so daß sie weit über die Schienen hinausragten. Beide wiesen zahlreiche

Nach Mitteilung der Bundesbahnen wurden drei Personen getötet und zwar ein Mann vom Zugpersonal( der Heizer der Rangier lokomotive) und zwei Privatpersonen aus Zürich. Berlegt wurden etwa 15 bis 20 Per sonen, davon etwa die Hälfte schwer. Sie stammen alle aus der Umgebung von Zürich. Ausländer befinden sich nicht dabei. Sämtliche Verlegten wurden nach dem Spital in Zürich übergeführt.

Prügelei in Hitler- Versammlung

Hitler erklärt, er habe Gregor Straßer bestraft

Eigener Bericht des Vorwärts"

Halle, 17. Dezember. Hitler weilte am Sonnabend in Halle, um den Oppositionsbrand zu löschen und neue Treuschwüre einzusammeln. Alle Amtswalter", die sonst Funktionäre genannt werden, des Gaues waren versammelt. Gregor

Straßer galt bisher als ,, beurlaubt". In Halle jagte der Oberofaf, Gregor Straßer sei bestraft worden. Im ersten Konflikt mit den Brüdern Straßer habe er große Milde walten lassen, obwohl durch das Verhalten Otto Straßers die Parteiorganisation großen Schaden erlitten hätte. Um so härter müsse jezt gestraft werden. Nursein Wille gelte in der Partei!

Als sich Hitler dann von jedem Amtswalter ewigen Gehorsam in die Hand schwören ließ, prügelten fich oppofitionelle SA .- und SS. Leute mit Hitler Treuen. Die Opposition hatte sich gewaltsam Eintritt in den Saal verschafft.

Das ist neu, daß sich in einer Versammlung mit Hitler die nationalsozialistischen Funktionäre unter­einander prügeln! Es läßt erkennen, wie tief­gehend die Gegensäge in der NSDAP. sind. Noch interessanter ist, daß Hitler jetzt die Version verbreitet, daß er Gregor Straßer bestraft" habe. Gregor Straßer hat ihm seine Parteiämter vor die Füße geworfen und hat ihm bittere Wahr­heiten gesagt. Hitler hat sich bemüht, ihn zu halten; denn er hatte Furcht vor ihm! Daß er jegt in offenkundiger Berdrehung der Tatsachen von einer Bestrafung" Straßers redet, fügt

seinem Charakterbild einen neuen Strich bei. Der Mann, der von sich sagt, die Partei bin ich". fann es nicht vertragen, daß ein anderer ihm seinen Willen entgegengesezt und ihn verlassen hat. Verletzte Eitelkeit hat eine Geschichtslüge geboren. Hitler redet jezt von den Brüdern Straßer. Das zeigt, wie schwer ihn die Ver­öffentlichungen Otto Straßers über das Mame­lucentum in der NSDAP. getroffen haben!

Baul Boncour

Laufbahn eines Wandlungsreichen

Als etwa vor Jahresfrist der Trennungs­strich zwischen Paul Boncour und der französischen Sozialistischen Partei offiziell gezogen wurde, ging ein Aufatmen durch die Reihen der gesamten sozialistischen Inter­nationale. Denn seine formelle Zugehörig­feit zur Partei und damit zur Internationale war mit der Zeit für die Sozialdemokraten aller Länder eine gar zu peinliche Be­Stellungnahme zu den militärpolitischen Ia stung geworden. Seine eigenartige Problemen, seine gar nicht internationa­listische Betrachtungsweise der großen außen­politischen Fragen hatten schließlich auch diejenigen französischen Genossen, die ihn lange wegen seines unzweifelhaften Talentes gern in ihren Reihen behalten hätten, davon überzeugt, daß eine reinliche Scheidung doch im allgemeinen Interesse liege. Er hatte durch seine wiederholten politischen Seiten­sprünge den Gegnern der Züricher Inter­nationale immer wieder Angriffsflächen ge­boten, die besonders in Deutschland die Nationalisten und Kommunisten demagogisch ausnuzten, um den deutschen wie den franzö fifchen Sozialismus zu diskreditieren. Und doch mußten gerade diejenigen, die ihn näher fannten, bei aller Genugtung über die voli­30gene Trennung leise hinzufügen: Schade um ihn! Nicht nur wegen der unleugbaren Dienste, die er als Parlamentarier wie als Rechtsanwalt der französischen Arbeiter­bewegung auf vielen Gebieten geleistet hatte, sondern auch wegen seiner Ueberzeugungs­treue.

Es ist nämlich im allgemeinen nicht be­fannt, daß Paul Boncour bereits eine Boli­tifer von Ansehen und Einfluß war, lange bevor er zur Sozialistischen Partei gefom­men war. Als linksbürgerlicher Abgeord­neter war er mehrere Jahre vor dem Krieg bereits Arbeitsminister gewesen. Er fam zur Partei erst während des Krieges, unter dem Eindruck des Entsezens, das ihn als Offizier während der Massenschlächterei vor Verdun gepackt hatte. Damals, im Jahre 1917, stieß er sogar gleich zum linken, pazi­fistischen und kriegsgegnerischen Flügel. Für jeine weitere Laufbahn war der Beitritt zur Partei nur ein Hindernis und er war sich dessen bewußt, denn die Abneigung gegen die Beteiligung an Regierungen ist bei den meisten französischen Genossen eine alte Ueberlieferung, die zwar erschüttert, aber noch nicht überwunden ist.

In den Jahren nach dem Kriege hat er nun mit dem rechten Flügel daran gear­beitet, diese Auffassung zu bekämpfen: Seine und seiner Freunde Bemühun­gen blieben jedoch vergebens: die ,, Koali­tionspolitiker" in der Partei machten zwar von Jahr zu Jahr erhebliche Fortschritte, sie erlangten sogar die Mehrheit in der Fraktion, aber nicht in der Partei.

Sicher hat diese Enttäuschung dazu bei­getragen, die Kluft zwischen ihm und der Partei zu erweitern. In den lezten Jahren seiner Zugehörigkeit schien er manchmal so­gar den Konflikt zu suchen, jedenfalls tat er nichts mehr, um die Gegensäße zu über­brücken. Seine engeren Freunde, wie Renau­del, Grumbach und andere, die gern, teils im Interesse ihrer Richtung, teils auch im Inter­esse der Gesamtpartei diese einflußreiche und talentvolle Persönlichkeit behalten hätten, mußten schließlich ihre Bemühungen auf­geben. Als alte, zuverlässige, eingefleischte Parteimitglieder fühlten sie selbst, daß ihm die Parteitradition fehle, die allein eine dauerhafte Sicherung vor Disziplinbrüchen geboten hätte. Dazu kam noch seine eigene

Auffassung des deutsch- französischen

Problems, die vor allem auf einer offen­fundigen Unkenntnis des deutschen Boltes sowie auf seiner vorwiegend militä­risch- strategischen Betrachtungsweise beruht. So nahm die Partei etwa vor Jahresfrist Renntnis von dem Schritt, durch den er sich außerhalb ihrer Reihen gestellt hatte, als er nämlich eine Senatskandidatur entgegen einem örtlichen Parteibeschluß angenommen hatte. Genosse Paul Faure, der General­fefretär der Partei, teilte ihm offiziell mit,